Bereits am frühen Morgen weckte sie das Familienoberhaupt und deutete gebieterisch auf den grünen Streifen am blauen Horizont: „Das wird heute unser Ausflugsziel sein!“ Eine Insel in dieser weiten See. Er hatte das Schlauchboot aufgeblasen, unterdessen sie hastig einen Muckefuck hinuntergeschluckt hatten. Dann hatten sie gemeinsam das Gefährt an den Strand geschleift und ins Wasser bugsiert.
Der heftig flatternde Wimpel mit der Aufschrift „Kaufhauselite" war ihnen Richtungsgeber.
Am Himmel wurde das Blau plötzlich grau. Der Himmel war völlig bewölkt, Dicke Wolken waren jedoch nicht zu sehen. In der Luft lag der Geschmack von Feuchtigkeit, aber die roch nur, wer mit der Natur vertraut war.
Doch das Boot schwankte gewaltig in den Wellen, die ans Land brachen. Der Vater beschwichtigte: Laut Bedienungsanleitung müsse es Wellen bis zu einem Meter hoch trotzen.
Es hatte jedoch niemand bislang gezweifelt.
Nunmehr aber maulte die Tochter: „Aber ich weiß nicht!" Sie starrte mit gerunzelter Stirn auf das Gummiboot. Es beunruhigte sie noch mehr als sie ohnehin schon war. Zudem fehlte das Ersatzruder, das noch im Kofferraum des Familienvans lag. Ohne es wäre es zu gefährlich, loszufahren.
Wer sollte es holen?
„Brauchen wir unbedingt ein Ersatzruder?“ Das war ihr im Grunde egal.
„Was glaubst Du? Wenn eines der Ruder bricht und wir befinden uns mitten auf dem See? - Und es kommt Sturm auf! Sollen wir dann vielleicht mit den Händen rudern?“, sagte er mit rauer Stimme.
Widerwillig gehorchte sie.
Sie hatte es geholt. Die Mutter hatte noch etwas gemurmelt, dass sie dem Schlauchboot auch nicht traue. Was sie aber noch mehr beunruhigte war das Wetter: „Schau dir mal die Wolken dort an!“.
„Ach was!“, hatte der Vater barsch erwidert.
„Schiff Ahoj!“
Und so schaukelten sie nun zu dritt unruhig in dem kleinen Gummiboot verloren auf fast offener See.
Das Wetter war stürmischer geworden, trotz angestrengten Ruderns kamen sie kaum vom Fleck. In der Ferne winkten die Palmen, aber die Insel wollte doch nicht näher kommen. Sie war einfach viel zu weit entfernt, als sie gedacht hatten.
Sie hielten inne. Sie waren ungefähr in der Mitte des Sees. Zurück oder vorwärts, was war unter diesen Umständen das Vernünftigste? Der Wind schien sich zu einem kleinen Sturm zu entwickeln.
„Habe ich es nicht gesagt!“, maulte die Mutter wieder.
Der Vater ruderte zurück: „Woher solll ich das wissen? Bin ich etwa vom Fach? Seemann, oder was?“
Aber ein Zurück gab es nicht für ihn. „Los, los! Weiter!“
Am meisten waren Kind und Mutter außer Atem. Der Familienvater musste nur lenken.
In der Nacht hatte sie wachgelegen und die Viertelstunden-Schläge der nahen, kleinen Kapelle gezählt. „Viertel vor eins!“ Und fast hätte sie den Ein-Uhr-Glockenschlag verdöst. Langsam, Zahn für Zahn öffnete sie hellwach vor Aufregung den Reißverschluss ihres Schlafsacks. Die Eltern durften keinesfalls aufwachen. Sie hörte ihren gleichmäßigen Atem. Leise kroch sie heraus, lief befreit zum Zelt des Freundes.
„Guten Abend!“, sagte sie. Sie kicherten darüber. Immerhin war es mitten in der Nacht. Dann gingen sie händchenhaltend zum Strand.
Plötzlich graue Wolken am Himmel.
„Verdammt, es wird doch kein Unwetter aufziehen?“, schrie das Familienoberhaupt. Auf der Insel bogen sich schon die Palmen und Segelboote fuhren schnell dort vorbei. „Hilfe!“ Hatten sie richtig gehört? „Danger!“, rief jemand aus der Ferne. Plötzlich erhob sich ein Stimmengewirr wie ein Sturm. „Los, los!“, brüllte der Vater ihnen allen zu, „wir müssen uns beeilen!“
Sie bewegten sich in eine Richtung, die die Tochter gerade nicht einschlagen wollte. Immer wieder blickte sie zu dem violetten Zelt hinter sich. Es hob sich durch seine Farbe von allen anderen ab. Dort wohnte er und seine Eltern. Dort wollte sie am Abend wieder sein. Von dort aus würde sie wieder mit ihm zum Strand schlendern.
Das Boot bekam eine Seitendrift. Die Tochter hielt nach jedem Ruderschlag kurz inne, - Blick zum Zelt - und ruderte dann wieder weiter. Die Mutter musste mit kräftigen Ruderschlägen gegensteuern. Ihr Plastikruder brach. Der Vater beschimpfte sie: „Du musst uns natürlich jedes Mal den Urlaub vermiesen!“
Die Tochter raunte leise: „Vielleicht ist es der letzte!“ Sie hörte auf zu rudern.
Morgen früh würde er zurückfahren. Heute Abend würde die letzte Gelegenheit sein, gemeinsam an den nächtlichen Strand zu gehen. Oh, wie sie die warmen Wellen liebte, wenn sie sich vor ihren Füßen brachen und über ihre Beine ergossen. Die Fuße wurden umspielt im feuchten Sand, die Zehen umschlossen, woran die Sandkörner kleben blieben.
Wie hypnotisiert starrte sie in die wogenden Wellen.
Er war der erste Junge, den sie mehr als mochte. Ein toller Typ. Nicht eitel, nicht eingebildet, kein Sprücheklopfer. Und sie mochte es sogar, wenn er sie berührte, seinen Arm um sie legte, seine Hände in ihre. Das nannte man doch Liebe, oder? Ja, nun konnte sie endlich lieben. Oh, das waren schöne Gefühle!
Der Vater schaukelte das ganze Boot, um seine Tochter aus dem Träumen zu reißen und schrie: „Elfriede, willst du, dass wir hier ersaufen?“
„Vielleicht!“, entgegnete sie ihm störrisch.
Das Ersatzruder war aus dem Seitenteil des Bootes gezogen und befestigt worden. Es konnte weitergehen.
Zärtlich hatte er den Arm um sie gelegt und sie hatte die Augen schließen müssen, um die Schauer zu ertragen, die ihr über den Rücken liefen. Nicht einmal das Rauschen der Wellen hatte diese Wahrnehmung verschluckt. Die See schien weit, weit weg zu sein.
Auch das Ersatzruder brach entzwei, Wasser strömte herein.
In der Ferne verschwand das Zelt des Freundes im Wasser.
Das Schlauchboot - Eine Coming-of-Age Kurznovel/ab 16 aufwärts
Wer ist online?
Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 7 Gäste