„VIETNAMESEN LASSEN SICH SEHR GUT IN DIE GESELLSCHAFT INTEGRIEREN“ - ZEITUNGSÜBERSCHRIFT AUS DER ZÜRICHER NEUEN NACHRICHTEN
Sie träumte etwas, wachte auf, träumte wieder, wachte wieder auf, fiel erneut in den Schlaf und wälzte sich hin und her.
Warum schläft sie nur so unruhig?
Nächtigte sie in einem fremden Bett, dann trat die Ruhe einer Nacht nicht ein. Dabei kannte sie als Buddhistin so etwas kaum: Nervosität: Wo immer sie sich befand, gelang es ihr, sich willentlich in einen Zustand der Indolenz und äußeren Gleichgültigkeit (Starre) zu versetzen.
Alle Fenster des Schlafzimmers waren mit Vorhängen versehen, die flachen Schrägfenster mit blauen Tüchern bespannt, so dass eine abgedunkelte Atmosphäre entstand, die eine gewisse Intimität und Zurückgezogenheit zuließ. Es war tagsüber hier nie hell, richtig hell und licht. Der Stoff war in den Spalt zwischen Rahmen und Glas geklemmt. Man konnte das Fenster nicht öffnen, ohne dass die Tücher sich lösten und herunterfielen und dann Umstände machten.
Dieser Raum war immer düster.
„Ich bin versichert“, sagt sie, meint damit, sie habe Sicherheit, die darin besteht, ihr Mann würde dafür gerade stehen, wenn sie arbeitslos werden würde, dass sie nicht hungern würde. Arbeitslos sein, bedeutet für sie zu hungern. Hunger war die größte Katastrophe, gleich dem Sterben. Das Schlimmste für sie, die aus einem Entwicklungsland kommt. Alles andere spielt keine große Rolle. Deswegen trennt sie sich nicht von ihrem Mann, egal was kommen mag und will.
Okay, aber jetzt, sonntags nachmittags, traut sie sich nicht mehr auf die Straße.
„Nicht wegen der Deutschen. Wegen der Vietnamesen.“ Ihren Landsleuten. „Ich würde mich schämen.“ Wenn die sie sähen, nicht mit ihrem Mann, sondern mit ihrem Freund, das wäre das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte.
„Du schämst Dich, wenn Du mit mir unterwegs bist?“ „Ja!“ „Sie wissen doch nicht, dass ich nicht Dein Mann bin.“ „Nein, hier in dieser Stadt nicht, aber sie würden mich fragen. Und dann? Dann würde ich die Wahrheit sagen.“ „Ja, Dein Lehrer, würdest du sagen!?“ „Ja. Dann wissen meine Leute Bescheid. Sie sind nicht dumm. Dann kennen sie die Wahrheit.“ „Ja.“
Sie konnte sich nicht erklären, dass sie sich nach acht Jahren Ehe, wovon vier Jahren gut waren, mit ihrem Mann entfremdet hatte. Was konnte sie dafür, dass er nur noch rauchte, trank und sich weigerte, sich zu waschen, so dass er anfing zu stinken.
Okay, sie weiß wie alles anfing, wo der Zeitpunkt ist, der Schritt, der Stolperschritt ihres Scheiterns.
Sie sei seine Frau, ja, so hat es angefangen, aber nicht seine Krankenschwester. Natürlich wusste sie, dass auch so eine Rolle zu einer funktionierenden Ehe gehörte.
Wie sehr sie es gewollt hätte, ihn zu waschen und zu pflegen, sie konnte es einfach nicht, es ging einfach nicht, sie schaffte es nicht. Sie hatte es versucht. Aber er hatte sich gewehrt wie ein Kind, möglicherweise war diese Widerspenstigkeit nur ein Spiel gewesen, scheinbar aufrecht durch das schmachvolle Tal der Hilflosigkeit zu schreiten. Sie hätte sich durchsetzen, durchgreifen müssen, aber...
Damit war ihre Ehe gescheitert, das Ende der Ehe erreicht, alles vorbei, nur die Fassade der Legalität war aufrechterhalten geblieben. Was sich dahinter abspielte, musste vor den anderen, die den gleichen Weg gingen, verborgen bleiben, verheimlicht werden. Andernfalls würde sie als Gescheiterte, Versagerin und Betrügerin dastehen!
Aber klar, einmal würde die Schande über sie kommen. Es würde publik werden.
Aber das war ihr lieber, als ein einsames Leben an der Seite ihres Gatten mit der immerfort schwärenden Wunde, nichts tun zu können an ihren Umständen und Schicksal.
Und so konnte sie zum Beispiel nicht abends, wenn die Sonne unterging, mit ihrem Freund gemeinsam über den Marktplatz schlendern. Solche romantische Ausflüge waren nicht möglich. Stattdessen kauerten sie hier in dieser düsteren, lichtarmen Wohnung ihrer übers Wochenende verreisten Tochter.
Schönes Leben in Sicherheit!
Aber es stimmte. Hungern würde sie niemals müssen. Nicht hungern zu müssen war all das wert, dieses Versteckspielen.
Und ihr beider Blick fiel durch den Spalt des Vorhangs auf die Pflastersteine, die nach Regen und Sonnenstrahlen jetzt rot, gelb und blau leuchteten. Es war beschämend zu sehen, wie auf diesen alten Straßen lustig und traurig, mürrisch und ungehalten meist in Familien Einheimische zum Wochenmarkt liefen und trotteten.
Sie starrten wieder auf die leeren Wände der Küche, die funktional mit Geschirrspüler, Waschmaschine und Dunsa<bzugshaube ausgestattet war. Fehlte hier nicht etwas? Farbe, Buntheit, Verspieltheit und Freude.
„Ich weiß, ich habe schon gesagt. Aber sie will an den Wänden keine Bilder.“
„Gefallen Ihr keine Farbe, keine Flächen, Figuren und...“
„Doch. Aber sie weiß nicht, wie lange sie hier wohnen wird. Nach der Ausbildung – was dann? Und sie ist eine Frau.“
Komisches Argument. Welche Frau kann nicht malen, streichen, tapezieren, wenn sie will? Zumal dieses Mädchen eine Ausbildung zur technischen Zeichnerin machte. Gehörte zum abstrakten Verständnis von Raum, Maßen und Winkeln nicht auch ein einigermaßen gutes Gefühl für die Realität, die es zu erproben gilt? Welcher Lehrer wäre für die Theorie besser als die Erfahrung?
„Und Freunde?“
„Sie hat keine.“
An der hohen Tür der Kühltruhe hingen Fotos eines jungen Mädchens, das lachend und blinzelnd in die Kamera blickte. Hinter ihr das Meer. Lässig lehnte sie sich ans Ufergeländer. Oder über ihr der hohe Turm einer mächtigen Kathedrale. Einmal saß sie in den Armen einer großen Frauenskulptur, die mit einer großen Schürze um den Hals und einem Füllhorn von Früchten in einem umgehängten Korb bewehrt war.
Der steinerne Koloss umarmte ihre Tochter, die Besitzerin und Bewohnerin dieser Wohnung.
Aber wer hatte all die Fotos gemacht, auf denen dieses lächelnde Wesen zu sehen war?
Neben dem Eisschrank auf dem Boden stand ein Stock, der mannshoch bis über das oberste Kühlfach reichte.
Sie stand vor verschiedenen Sehenswürdigkeiten, auf Brücken, die über Flüsse führten oder vor Bergen, hinter denen gerade die Sonne unterging und lächelte fröhlich und heiter.
Wie nett. Ein frohgemutes junges Mädchen im Urlaub.
Jetzt fiel sein Blick auf einen Bambusstecken neben dem Kühlschrank. Eine raffinierte Vorrichtung aus Leichtmetall erhob sich auf der Spitze. Wozu diente diese?
Allmählich ging ihm ein Licht auf. Und plötzlich verstand er die Bedeutung dieser Konstruktion aus Bambus und Metall: Man konnte eine Kamera, eine Web-Cam oder etwas Derartiges darauf schrauben und damit Fotos schießen.
Das war der Fotograph.
Die Fotos an der Kühlschranktür waren alle Selfies. Damit veränderte sich die Ausstrahlung der Bilder. War das wirklich so ein fröhliches Mädchen, froh, heiter und beschwingt?
Die Migrantin - Roman
Tschechien und die neue Ehe
Die Nutten standen in Reih und Glied und traten sich die Füße platt. Es war an einer abseitigen Straße, nicht an der großen Durchgangs- und Hauptstraße gen Osten, aber jeder wusste, wo es war und wurde dorthin verwiesen, wenn er nach irgendetwas fragte, selbst einer Bank oder einer Tankstelle. Man ging automatisch davon aus, dass ein Fremder sich nur deshalb hier an dieses Ende der Welt verirrt hatte, um die Prostituierten aufzusuchen. Hier, an diesem verruchten Ort, waren sich selbst Hausfrauen nicht zu schade, sich feilzubieten, während ihre Männer mit einem LKW irgendwo in Europa unterwegs waren. Wenn man von „Banka, Tankstelle“ sprach, erschien auf den Gesichtern der Einheimischen ein wissendes Lächeln, aha, wieder einer von denen, die von weit, weit her auf den schnellsten Weg zum Ziel hofften zu gelangen, nämlich zu einem der hundert Meter langen Stiche mit Laien-Prostituierten. So wurde dem dem Fremden, noch bevor er das Wort ausgesprochen hatte, der nächste Weg gezeigt. So mancher Touristen erlebte mitunter ein böses Erwachen, wenn er plötzlich vor den Hundert Meter auf dem Bürgersteig aufgereihten Schönheiten stieß anstatt vor einem nüchternen Gebäude, das zu zweckdienlichen Diensten errichtet worden war.
Aber die Frau, von der ich spreche, war nicht dort. Sie hätte keine Chance gehabt gegen die Einheimischen, die an der großen Durchgangs- und Hauptstraße gen Osten flanierten, promenierten und defilierten. Sie war als Verkäuferin nach Europa gekommen, von Vietnam aus und hatte zwei kleine Kinder bei der Familie zurückgelassen. Ihre Familie, ihr Clan, ihre Dynastie war stark, verlässlich und weit verzweigt, als höchstes Gut und Gebot, Abfangjäger, Trapez und doppelter Boden. Dieses starke Netzwerk, diese Seilschaft hatte es ihr ermöglicht, eine zweite Existenz aufzubauen. Gerade nachdem ihr ungeliebter Mann bei einem Mopedunfall ums Leben gekommen war: Es musste weitergehen, das Leben musste fortgesetzt werden, irgendwie so oder so, natürlich materiell gut, abgesichert, soweit es ging und möglich war. Zumal sie zwei Kinder hatte. Was sie hier trieb, war Handel, nicht mit ihrem Körper, sondern mit Waren aller Art.
Sie kam aus Nordvietnam nach Tschechien, kurz nach dem endgültigen Riss im Eisernen Vorhang, nach dem Fall der Mauer und Scheitern des zweiten Deutschlands, wo sich bereits einige ihrer Landsleute im Zuge der kommunistischen Internationalen Solidarität niedergelassen oder soll man sagen hängen geblieben waren. Mit Hilfe von Landsleuten der ehemaligen DDR hatte sie hier an der Grenze zu Tschechien Fuß fassen können, von wo aus sich florierende Handelsbuden und Textilverkaufsstände betreiben ließen, so schnell abgebaut wie aufgebaut. Grenzen waren schon immer florierende Handelsbastionen. Vor allem bei den großen Einfallstraßen, dieser hier von Westen nach Osten. Hier war es optimal, seine Waren feilzubieten.
Unterkunft brauchte man nicht, man schlief gleich in diesen Verschlägen, hinter dem Kleidertisch, zwischen den Pappkartons, in denen die gleichen Sachen ein- und ausgepackt worden waren.
Keiner von diesen ehemaligen Vietnamesen wollte zurück in seine ehemalige Heimat, einem Entwicklungsland. Vielmehr schaute man, von den neuen in die alten kapitalistischen Bundesländer Deutschlands zu gelangen, sich dort niederzulassen und eine neue Existenz aufzubauen. Mochte die alte Heimat noch so sehr prosperieren, trotzdem würde es Generationen dauern, bis Osten und Westen sich nivelliert, angeglichen und auf gleicher Stufe gestellt hatten.
Ein Unterschied zu West- und Deutschland bestand in Vietnam schon längst. Zwar waren Nord und Süd nach dem Abzug, der Vertreibung der Amerikaner von den Kommunisten überrannt, vereinnahmt und beherrscht worden, aber immerhin hatten sie sich vereint. Sie hatten nicht nur das getan, was Ost und West in Europa noch bevorstand, sie hatten den Sozialismus längst überwunden, überschritten und absorbiert. Trotz des „Sozialismus“ in Vietnam blühte die Einzelwirtschaft und wenn nicht so wie gewünscht, setzte man halt alle Hebel in Bewegung, um als Einzelhändler oder als in einer dieser Branche Beschäftigter sein Glück im entferntesten Winkel dieser Erde zu suchen und zu machen.
Familienunternehmen waren sowieso die erste Wahl schlechthin in diesem Kulturkreis.
Niemand, kein Staat, keine Gesellschaft sorgte sich letztlich um einen, außer der Familie, der Familienclan.
Mit vielen Gleichgesinnten, vor allem weiblichen, die anfangs zu sechst in einem Zimmer mit Stockbetten oder auf Matratzen hausten, die fast die ganze Fläche des kleinen Zimmers einnahmen und kaum Platz ließen für andere Dinge, einen kleinen Tisch und Stuhl, um mal dort einen Tee zu genieße, kam sie in dieses Grenzland zwischen früherer Ost- und Westzone, Tschechien, ein neuer Staat, wie der Name schon ausdrückte, aus Tschechoslowakei entstanden.
Tagsüber stand sie an windigen, breiten Straßen, die von Verkaufsbuden gesäumt waren, die billige Asia-Textilia-Produkte feilboten. Neugierige Blicke von reichen Westlern aus ihren beäugten sie, nicht wissend, ob deren Aufmerksamkeit den billigen Waren oder vermeintlich billigem Fleisch galt. Machte jemand anzügliche Bemerkungen, verwies sie diesen mit einem Fingerzeig nach hinter den Kleiderstangen und Ständen, wo die ehrbaren Hausfrauen ein bescheidenes Zubrot verdienen wollten, um ihre ärmlichen Verhältnisse aufzubessern.
Zur Zerstreuung gingen sie ab und zu, natürlich nur in Gruppen, abends in Bars, Casinos, um die Welt zu sehen. „Angel rir einen reichen Westler, lass dich heiraten und hol dir später deine beiden Töchter nach. Dort haben sie eine besser Zukunft. So hatte der geschmähte Vater gesprochen, mit dem sie sich nach dem Tod der Mutter überworfen hatte, weil er seine Geliebte zur Frau genommen hatte. Warum hatte er nur seine Geliebte heiraten müssen, dumm von ihm, jetzt war die ganze Familie, alle gegen ihn. Konnte man eine Geliebte nicht Geliebte sein lassen, musste man dieses Verhältnis absegnen und legitimieren? Diese Schwiegermutter bedeutete für alle leiblichen Kinder den Verlust des Erbes. Sie sprachen kein Wort mehr mit ihm.
*
Viele reiche Westler machten große Augen und hielten nach allen Regeln der weniger galanten als geschäftlichen Art Hof um die begehrten blanken, seiden-weißen Asiatinnen. Es erinnerte sie ein bisschen wie ein ausgehungerter Hund aus ihrer Heimat, der nach einem verlorenen Knochen hechelte vor Heißhunger.
Doch ihr sollte es nur recht sein.
In ihrem Fall sollte es einerseits eine geschäftliche Abmachung, andererseits eine romantische Verführung werden, zudem eine Reaktion auf Eifersucht, wenn man an diese leichten Mädchen aus Tschechien dachte, vor allem die mit ihrem dunklerem Teint. Obgleich die blank und samtweißen Asiatinnen eindeutig von den Weißen favorisiert wurden, wurden sie doch nicht so schnell in die Lage versetzt, sich diesem Umfeld anzupassen. Die weißen Männer unterließen offensichtlich nötige Hilfestellung zum Erlernen der Umgangssprache und ergötzten sich lieber an deren hilflosen Herumgestammle. Das R, das fehlte, das L, das dafür eingesetzt wurde – man kennt die Witze. Dadurch waren sie aber eklatant und unüberhörbar gegenüber ihrer Konkurrenz im Nachteil und Hintertreffen was einen größeren Druck beim Bewerbungszeremoniell hervorrief. Die Asiatinnen warfen sich regelrecht an die Freier.
Sex bedeutete ihr selbst nicht viel, ab und zu hatte sie mal eine vergnügliche Nacht mit gutem, reichlichem Essen und Sex gehabt, einmal eine sogar sehr aufregende Orgie, als sie sich mit ihrer Freundin von zwei besonders mit dicken glitzernden Rollex-Uhren protzenden Weißen hat abschleppen ließen und zu viert im Bett gelandet waren, bunt durcheinander, Menage à quatre... – man lebt nur einmal!
Aber noch war alles ein Spiel. Sie lachte viel mit ihren Landsleuten über die eine oder andre Art. wie sich die notgeilen Männer aus dem Westen um sie herumtänzelnden, abmühten und balzten.
Der eine überhäufte, überschüttete und bedachte sie mit besonderer Aufmerksamkeit, wo und wie es nur ging, mit liebevollen Botschaften, Zettelchen an der Rezeption, beim Barkeeper oder sogar auf dem Abtreter vor ihrer Tür. Hinzu kamen SMSs und langwährende Ansprach auf der Sprachbox ihres Mobilgerätes – es boten sich viel lustige Anlässe über diese besessene Art des Bemühens, Umgarnens, Umflitterns. Das verband, das machte einem zu einem Zugehörigen eines anderen Kulturkreises. Vielleicht sogar eines besseren?
Der eine bombardierte sie mit üppigen Geschenken. Wenn er sie ausführte, selbst wenn sie sich nur in einer Hotelbar verabredet hatten, ließ er es sich nicht nehmen, ihr eine kleine Aufmerksamkeit zu überreichen, einen Blumenstrauß, eine Tafel Schokolade, eine kleine Phantasiefigur auf einem Zahnstocher. Kavalier der alten Schule, musste die Dame niemals die Zeche bezahlen. Aber seine Anfragen verwandelten sich bald in Anträge, die sie schweigend zur Kenntnis nahm, insgeheim bedächtig abwog. Unmerklich wurde sie biegsamer und zugänglicher, erschien der Mann doch so aufrichtig und vielversprechend. Doch gerade deshalb ließ sie sich nicht so schnell über den Tisch ziehen, bei einem weniger ernsthaften Bewerber hätte sie bestimmt schon längst eine schnelle Nummer geschoben. So lange wie möglich ablehnen, auf die lange Bank schieben, abwarten, das erhöhte den Einsatz, die diese Geduld lohnte.
Nach und nach wurde er sogar romantisch, zu romantisch sogar. Saßen sie zusammen an der Theke, spielte er leidenschaftlich am Geldautomaten, was sie überhaupt nicht störte. Sie hatte Zeit, sich von Ruhe und Besinnlichkeit überwältigen zu lassen, wobei sie in die Szenerie um sie herum eintauchte, die sich wie ein Filmset mit verheißungsvollem Plot öffnete.
Unzählige Alkoholika in buntesten, eigentümlichsten Formen und Farben auf dem Regal vor der Spiegelwand aufgereiht, vielfach kopiert und sich ins Unendliche vervielfältigend. Davor das Treiben des Barkeepers mit dem blitzenden Chrom-Becher, dessen Anblick sie fesselte und versinken ließ: tiefschwarzer Anzug, weißes Hemd, dezente Fliege, lächelnde Ernsthaftigkeit - bis sie wieder von dem Funkeln und Glitzern des blitzenden Cocktail-Chrombechers gefangen wird und weg fliegt in eine glänzende Zukunft und eintritt in die große weite Welt, in der sie schon mit einem Bein steht. Oder nicht?
Aufwachen!
Vorsicht! Vorsicht! Vorsicht!
Die Zeit bis zum großen Moment, der heute sein würde, überbrückte sie mit einer asiatischen Freundin mit einem Gesprächsthema, das aus einer unerschöpflichen Quelle sprudelte: homosexuelle Männer und Paare. Einer von ihnen war der Barkeeper, der gerade ganz ungeniert einem Gast, vermutlich seinen Liebhaber, einen Begrüßungsschmatz auf die Lippen drückte. Die staunenden Beobachterinnen konnte ihr kichern nur mühsam unterdrücken und zurückhalten. Das war ohnehin das Lieblingsthema der Asiatinnen. Das Phänomen, Homosexualität, gar zwischen Frauen, war in ihrem Land undenkbar. Eine Familie, die so etwas duldete, war für immer mit einer unauslöschlicher Schande behaftet. Von daher kam so etwas in ihrem Herkunftsland praktisch nie vor. Aber im Westen umso mehr und das war ja auch der seltsame Westen. Da war alles möglich! Faszinierend und abstoßend zugleich. Aber je länger man hier lebte, desto mehr überwog zugegebenermaßen die Faszination.
„Da kommt ja dein Galan!“, sagt ihre Freundin und kichert hinter vorgehaltener Hand so laut, als müsste sie sich übergeben. „Aber er ist wirklich ein schickes Exemplar!“ Galant rutscht sie vom Barhocker und eilt davon, um die Arena für die nächste Runde freizugeben.
Wahrscheinlich würde dies heute die wichtigste sein. Sie riss sich zusammen, straffte den Rücken: Aufpassen, denn es ging um nichts Geringeres als ihre Zukunft, sich den Grundsätzen einer korrekten Gesprächshaltung unterwerfen, wie sie es gelernt hat und wie ihr Vater es ihr immer wieder eingebleut hatte: Überlege zweimal, bevor du antwortest und überlege ein drittes Mal, wie du deine Antwort allgemein und unverbindlich wie möglich halten kannst.
Wohlgefallen überkommt sie, je näher er kommt, ja, sie hat allen Grund, ihn liebevoll zu taxieren, wie eine Mutter ihr Kind mustert, das liegt an ihrer Erziehung, Mensch, wie lange ist es her, dass sie ihre Kinder so musterte? Als sie ihnen das Anziehen beibrachte, sie vierundzwanzig Stunden am Tag beaufsichtigen und kontrollieren musste. Obwohl es nur ein paar Jahre her sind, fühlt es sich wie ein Jahrzehnt an.
Anzug, Hose, Bügelfalte – oho, er bügelt sogar sehr Hosen sehr sorgfältig - und erst seine braunen, spitz zulaufenden Halbschuhe, die glänzten wie Sonnenstrahlen auf dem Meer. In seiner Anzugtasche steckte, wie die Krone eines Königs, ein buntes Tuch aus Papier oder Stoff. Wie Stilvoll!
Oft half es, bevor man antwortete und Zeit gewinnen wollte, die Worte des anderen mit anderen Worten zu wiederholen, der dann meistens bestätigte, was er gesagt hatte und noch einmal zum Nachdenken über sein Gesagtes angeregt wird. Oft auch noch etwas zu ergänzen und anzufügen. Wie Tao Te King sagte: „Viele Worte, manch Verlust. Am besten, man behält sie in der Brust!“
Dann der Duft!
Man riecht zwar das beizende Rasierwasser, aber das Parfüm ist betörend, ein dezenter Duft, vielleicht benutzt er auch ein Creme. Andererseits, selbst wenn er noch so intensiv nach Rasierwasser gerochen hätte, hätte es sie nicht gestört, sie liebt starke Gerüche.
Er ist sich etwas wert, das sieht man, obwohl er ein bisschen nach Bier riecht, aber das gehört wohl dazu. Er setzt sich zu ihr auf den Barhocker, ohne vorher nicht formal-höflich „Guten Abend“ gesagt zu haben. Obwohl sie schon zigmal miteinander geplaudert haben, wahr er immer noch eine gewisse Distanz, ist nicht plump vertraulich. Ihr scheint überhaupt, dass sie es ist, die letztlich die markanten Schritte zu mehr Vertraulichkeit macht, sie gibtg den Takt ihrer Beziehung vor, er wirkt geradezu schüchtern und zurückhaltend.
So setzt er sich auf den Barhocker neben ihr, ein Bein über das andere geschlagen, ihr zugewandt, ganz charmante Aufmerksamkeit. Diese Haltung muss unbequem sein, wie bei Frauen, die auf Pferden reiten, die setzen sich auch so hin, aber er bleibt den ganzen Abend so sitzen. Hat er allerdings zu viel intus, dann wechselt er in eine bequemere Haltung, nämlich Beine auf das Geländer der Theke am Boden und oft schwer betrunken die Oberarme auf die Bar gelegt. Aber das ist nur zu vorgerückter Stunde der Fall, vorher ist er stets respektvoll und doch locker.
Ein interessanter Typ von Mann!.
Am besten gefällt ihr, dass er den Eindruck macht, alle Hände voll zu tun zu haben. Er müsse plötzlich ein Geschäftsgespräch am Telefon führen, dringend etwas in sein Notizblock vermerken. Imposant (dabei steckt er in geschäftlichen Kalamitäten: sein Geschäftspartner will abspringen). Während er in gebeugter Haltung auf den Knien schreibt, stellt sie mit Genugtuung fest, dass selbst neben der Korrektheit seines Anzuges, des Hemdes, der Hose, der Schuhe, auch die Kleinigkeiten stimmten: der Kraken ist nicht verrutscht, steht immer da, wo er stehen soll: Über dem dünnen Pullover neben dem Hals, und ohne Krawatte oder Fliege, hat sie ihn noch nie gesehen. Für sie sind das Symbole und Ausdruck für einen Kaufmann der alten Schule. Er versteht auch hin und wieder ein paar englische Brocken ins Gespräch zu werfen, (in Wahrheit hasst er die Engländer) nicht oft, dann hätte es protzig und angeberisch geklungen. Wahrscheinlich tat er auch dies nur, weil er wusste, sie verstand leider überhaupt kein Englisch. Aber heraushören tat sie es schon.
Er gibt vor, viele Freunde in der Tschechei zu haben (die Bedeutung dieses Ausdrucks ist ihr nicht geläufig, aber in ihrem Umfeld gängig), hat für jeden ein paar nette Worte übrig, erweckt den Eindruck, viele Bekannte zu haben, behandelt auch einige Leute als solche, indem er sie (plump) vertraulich anspricht und ihnen auf die Schulter klopft. Es wirkt aber trotzdem noch zurückhaltend. Ach dummerweise versteht sie noch zu wenig von dieser Sprache, Deutsch. Will sie aber ihr Deutsch verbessern, hilft er ihr nicht. Er lacht nur und meint. „Schatzi, so wie Du sprichst, passt das schon!“ und lacht noch mehr. Eigenartig, aber das „Das-passt-schon“ versteht sie mittlerweile. Damit gibt sie sich zufrieden.
Später findet sie heraus, dass er Englisch nicht mag und auch sonst nur wenig Kontakt zu anderen Mensch pflegt. Er hat eigentlich nur Kontakt zu Leuten, mit denen er Geschäfte macht, das sind auch seine Bekannten und Freunde. Ausländer, in diesem Fall Tschechen sind ihm suspekt. Ausländer mag er überhaupt nicht, die sollen bleiben, wo sie herkommen, jedenfalls nicht nach Deutschland kommen, es sei denn, sie sind familiär hier gebunden, sprich, mit Deutschen verheiratet. Selbst da macht er Ausnahmen, findet, es solle nicht sein, dass ein Dunkelhäutiger deutsches Blut „beeinflusst“. Sie sollten nicht geheiratet werden.
„Aber das ist zum Glück bei dir nicht der Fall!“, sagt er und lacht.
Sie denkt über seine Worte nach, fragt ihn noch einmal, er brabbelt etwas, dass denen später doch leid tun würde, dunkelhäutig zu sein, denn sie hatten unter den Vorurteilen der Engstirnigen und „der Mehrheit“ zu leiden. „Schade um sie!“
Sie wiegt den Kopf wie ein Vogel, der einen von links und rechts und oben und unten betrachtet und sagt sich: klingt eigentlich vernünftig. Schließlich kennt sie Kindern und weiß, wie brutal, gemein und sadistisch sie sein können. Kinder kennen kein Pardon.
„Die müssen die Suppe auslöffeln!“, sagt er und hebt sein Pilsglas, um ein Bierchen zu zischen. Aber ganz. Er kann erstaunlich viel trinken. Er stellt es ab, seufzt und atmet aus, als hätte ein Verdurstender gerade nach 60 Tagen wieder Kontakt mit Flüssigkeit gehabt,, sagt sie, auch wenn sie ihn manchmal ermahnt, weil sie den Eindruck hat, er habe schon zu viel hinter die Binde gekippt. „Eins geht immer noch!“ , und lacht dazu. Sie denkt. „Männer!“
„Aber was ist mit mir?“, sagt sie. „Wie mit Dir?“
„Wenn wir heiraten!?“
„Na, wir wollen doch keine Kinder!“, er hat sein Pilsglas schon an die Lippen gesetzt, wartet noch, was sie sagt, bevor er trinkt. Nach ihrer Antwort kann er zufrieden loslegen.
„Ja!“, sagt sie. „Weißt du, wenn sehr viel Licht ist, wie im Sommer, dann werde ich ganz schnell dunkel!“
Plötzlich sieht er sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Sie war käseweiß und kreidebleich, nicht wahr, doch eine Asiatin!
„Aber im Winter bin ich wie jetzt. Weiß!“
„Genau!“, prostet er ihr wieder zu. „Auf die weiße Hautfarbe!“
Sie entgegnet noch, sie würde ganz schnell eine etwas dunklere Haarfarbe im Sommer, bekommen bei starker Sonneneinstrahlung halt, wurde aber genauso schnell wieder käseweiß im Herbst, sowie die Einstrahlung nachließ.
Dazu sagt er jetzt nichts mehr.
„Na wenn schon!“, denkt er. Wo er wohnte, war es meist dunkel, neblig und düster. Da war es kein Problem, dass man ihn mit einer Negerin als Lebensgefährtin schief anschaute, denn sonst – Pfüdie Gott!
Er nahm noch einen großen Schluck.
Sie macht ihn auf einen interessanten Aspekt ihrer Augen aufmerksam.
Ihre Augen seien sehr dunkelbraun mit einem Schuss Gelb. Aber eher sehr, sehr dunkles Gelb.
Er kommt näher, grinst breit. „Ja, und um die Iris, die so dunkel ist wie das Schwarze Meer, ist ein noch dunklerer Ring. Du bist wie ein kleiner Äffchen aus dem Urwald!“ Er lacht schallend und schlägt sich auf die Knie.
Sie lacht auch, sie findet das Wort „Affe“ auch sehr lustig. Sie klatscht fröhlich in die Hände.
Sie ist sozusagen ein anderer Mensch, sie verkörpert eine besondere Gattung, vielleicht ist sie ein ganz besonderer Mensch, sie die Vietnamesin, Vertreterin der asiatischen Rasse.
Sie findet das sehr amüsant, sagt er. Sie fasst das als Kompliment auf, lächelt, freut sich und legt ihre Hand auf seine Knie. (Vielleicht hätte man es auch anders interpretieren können, weniger schmeichelhaft, fast rassistisch?)
Plötzlich ändert sich die Szene.
Dunkel-geschminkte, schwarze Augen blitzten, kurze asymetrisch geschnittene Kurzhaarschnitte glänzten vor Gel. Der Busen-Ausschnitt stand großzügig offen. Die klebrig geschminkten Lippen, geradeheraus, schamlos-direkt wirkten aufreizend, anmachend, erschütternd, notgeil bis ins letzte Knochenmark. Die Typen aus dem Westen. Diese scharlachroten Münder, inmitten dieser stets zu einem verzerrten, lüsternen Grinsen geöffneten Gesichter, diese fuchtelnden, mit Gold- und Silberreifen behängten, knochigen Arme und Hände, die in den Hotelzimmern mit Zeichen und Gesten, Massage und dergleichen anboten, machten sie nervös.
Steckte Eifersucht dahinter? Vor sich selbst sagte sie sich, sie kenne keine.
Jedenfalls begann sich ihr Blick von ihm zu ändern.
Dieses großzügige Trinkgelder, wo er doch ständig unter Geldmangel leidet, wie er oft klagte, würden ihn ruinieren – er erschien ihr wie ein kleines Kind , dem man sein Spielzeug wegnehmen musste. Und diese Weiber nutzen das schamlos aus, er spendiert ihnen, wann immer er sie sieht, einen Drink.
„Oh, Albert! Süßer!“ Sie kann es nicht mehr hören, sie hasst diese Zigeunerinnen. Oft muss sie ihn in die Rippen stoßen, damit er merkt, was er wieder falsch macht. Kurz, mehr als Verantwortung beginnt sie für ihn zu empfinden, die Erzieherin in ihr erwacht und sie macht ihm Vorschriften, Vorschläge, wie er besser mit seinem Geld haushalten kann, formuliert Einschränkungen, die sich gewaschen haben.
Er lächelt darüber, als sei er besonders amüsiert.
Er fühlt sich ernst genommen, in Besitz genommen, endlich die ersehnte Wende in seinem leeren Leben, wieder in festen Händen zu sein – na also, es kann losgehen!
Sie fühlte sich beim ersten Betreten seiner Wohnung sehr befremdet, als sie ins Schlafzimmer kam. Er drehte ein paar Lampen lächelnd auf, die mit einem billigen roten Schirm bespannt waren. Es wirkte wie bei diesen berüchtigten leichten Mädchen. Dazu dann die völlig geschmacklosen japanischen Wandschirm, die sein Bett umstellten und dann dazu das mit chinesischen Schriftzeichen bedruckter Bettbezug - völlig geschmacklos!
Er bemerkte, dass sie erstaunt schaute und ihr Gesicht verzog.
„Ich dachte, Du magst so etwas. Deswegen habe ich es gekauft.“
„Ja, schon!“
Das Licht war in rotes Schummerlicht getaucht wie im Puff, in einigen Ecken blinkten rote kleine Lichter, die auf einer Girlande aufgereiht waren, das sich durchs ganze Zimmer zog. Sie registrierte zwar freudig seine Mühen, die er sich gemacht hatte. Dass das Zimmer immer derart geschmückt sein würde, davon ging sie nicht aus. Dass sich vieles ändern musste, wenn sie hier einzog, wusste sie genau.
Er beobachtete sie wie von einem anderen Planeten: diese kleine, mausgraue Gestalt.
Ob das gut gehen würde?
Aber die Frau, von der ich spreche, war nicht dort. Sie hätte keine Chance gehabt gegen die Einheimischen, die an der großen Durchgangs- und Hauptstraße gen Osten flanierten, promenierten und defilierten. Sie war als Verkäuferin nach Europa gekommen, von Vietnam aus und hatte zwei kleine Kinder bei der Familie zurückgelassen. Ihre Familie, ihr Clan, ihre Dynastie war stark, verlässlich und weit verzweigt, als höchstes Gut und Gebot, Abfangjäger, Trapez und doppelter Boden. Dieses starke Netzwerk, diese Seilschaft hatte es ihr ermöglicht, eine zweite Existenz aufzubauen. Gerade nachdem ihr ungeliebter Mann bei einem Mopedunfall ums Leben gekommen war: Es musste weitergehen, das Leben musste fortgesetzt werden, irgendwie so oder so, natürlich materiell gut, abgesichert, soweit es ging und möglich war. Zumal sie zwei Kinder hatte. Was sie hier trieb, war Handel, nicht mit ihrem Körper, sondern mit Waren aller Art.
Sie kam aus Nordvietnam nach Tschechien, kurz nach dem endgültigen Riss im Eisernen Vorhang, nach dem Fall der Mauer und Scheitern des zweiten Deutschlands, wo sich bereits einige ihrer Landsleute im Zuge der kommunistischen Internationalen Solidarität niedergelassen oder soll man sagen hängen geblieben waren. Mit Hilfe von Landsleuten der ehemaligen DDR hatte sie hier an der Grenze zu Tschechien Fuß fassen können, von wo aus sich florierende Handelsbuden und Textilverkaufsstände betreiben ließen, so schnell abgebaut wie aufgebaut. Grenzen waren schon immer florierende Handelsbastionen. Vor allem bei den großen Einfallstraßen, dieser hier von Westen nach Osten. Hier war es optimal, seine Waren feilzubieten.
Unterkunft brauchte man nicht, man schlief gleich in diesen Verschlägen, hinter dem Kleidertisch, zwischen den Pappkartons, in denen die gleichen Sachen ein- und ausgepackt worden waren.
Keiner von diesen ehemaligen Vietnamesen wollte zurück in seine ehemalige Heimat, einem Entwicklungsland. Vielmehr schaute man, von den neuen in die alten kapitalistischen Bundesländer Deutschlands zu gelangen, sich dort niederzulassen und eine neue Existenz aufzubauen. Mochte die alte Heimat noch so sehr prosperieren, trotzdem würde es Generationen dauern, bis Osten und Westen sich nivelliert, angeglichen und auf gleicher Stufe gestellt hatten.
Ein Unterschied zu West- und Deutschland bestand in Vietnam schon längst. Zwar waren Nord und Süd nach dem Abzug, der Vertreibung der Amerikaner von den Kommunisten überrannt, vereinnahmt und beherrscht worden, aber immerhin hatten sie sich vereint. Sie hatten nicht nur das getan, was Ost und West in Europa noch bevorstand, sie hatten den Sozialismus längst überwunden, überschritten und absorbiert. Trotz des „Sozialismus“ in Vietnam blühte die Einzelwirtschaft und wenn nicht so wie gewünscht, setzte man halt alle Hebel in Bewegung, um als Einzelhändler oder als in einer dieser Branche Beschäftigter sein Glück im entferntesten Winkel dieser Erde zu suchen und zu machen.
Familienunternehmen waren sowieso die erste Wahl schlechthin in diesem Kulturkreis.
Niemand, kein Staat, keine Gesellschaft sorgte sich letztlich um einen, außer der Familie, der Familienclan.
Mit vielen Gleichgesinnten, vor allem weiblichen, die anfangs zu sechst in einem Zimmer mit Stockbetten oder auf Matratzen hausten, die fast die ganze Fläche des kleinen Zimmers einnahmen und kaum Platz ließen für andere Dinge, einen kleinen Tisch und Stuhl, um mal dort einen Tee zu genieße, kam sie in dieses Grenzland zwischen früherer Ost- und Westzone, Tschechien, ein neuer Staat, wie der Name schon ausdrückte, aus Tschechoslowakei entstanden.
Tagsüber stand sie an windigen, breiten Straßen, die von Verkaufsbuden gesäumt waren, die billige Asia-Textilia-Produkte feilboten. Neugierige Blicke von reichen Westlern aus ihren beäugten sie, nicht wissend, ob deren Aufmerksamkeit den billigen Waren oder vermeintlich billigem Fleisch galt. Machte jemand anzügliche Bemerkungen, verwies sie diesen mit einem Fingerzeig nach hinter den Kleiderstangen und Ständen, wo die ehrbaren Hausfrauen ein bescheidenes Zubrot verdienen wollten, um ihre ärmlichen Verhältnisse aufzubessern.
Zur Zerstreuung gingen sie ab und zu, natürlich nur in Gruppen, abends in Bars, Casinos, um die Welt zu sehen. „Angel rir einen reichen Westler, lass dich heiraten und hol dir später deine beiden Töchter nach. Dort haben sie eine besser Zukunft. So hatte der geschmähte Vater gesprochen, mit dem sie sich nach dem Tod der Mutter überworfen hatte, weil er seine Geliebte zur Frau genommen hatte. Warum hatte er nur seine Geliebte heiraten müssen, dumm von ihm, jetzt war die ganze Familie, alle gegen ihn. Konnte man eine Geliebte nicht Geliebte sein lassen, musste man dieses Verhältnis absegnen und legitimieren? Diese Schwiegermutter bedeutete für alle leiblichen Kinder den Verlust des Erbes. Sie sprachen kein Wort mehr mit ihm.
*
Viele reiche Westler machten große Augen und hielten nach allen Regeln der weniger galanten als geschäftlichen Art Hof um die begehrten blanken, seiden-weißen Asiatinnen. Es erinnerte sie ein bisschen wie ein ausgehungerter Hund aus ihrer Heimat, der nach einem verlorenen Knochen hechelte vor Heißhunger.
Doch ihr sollte es nur recht sein.
In ihrem Fall sollte es einerseits eine geschäftliche Abmachung, andererseits eine romantische Verführung werden, zudem eine Reaktion auf Eifersucht, wenn man an diese leichten Mädchen aus Tschechien dachte, vor allem die mit ihrem dunklerem Teint. Obgleich die blank und samtweißen Asiatinnen eindeutig von den Weißen favorisiert wurden, wurden sie doch nicht so schnell in die Lage versetzt, sich diesem Umfeld anzupassen. Die weißen Männer unterließen offensichtlich nötige Hilfestellung zum Erlernen der Umgangssprache und ergötzten sich lieber an deren hilflosen Herumgestammle. Das R, das fehlte, das L, das dafür eingesetzt wurde – man kennt die Witze. Dadurch waren sie aber eklatant und unüberhörbar gegenüber ihrer Konkurrenz im Nachteil und Hintertreffen was einen größeren Druck beim Bewerbungszeremoniell hervorrief. Die Asiatinnen warfen sich regelrecht an die Freier.
Sex bedeutete ihr selbst nicht viel, ab und zu hatte sie mal eine vergnügliche Nacht mit gutem, reichlichem Essen und Sex gehabt, einmal eine sogar sehr aufregende Orgie, als sie sich mit ihrer Freundin von zwei besonders mit dicken glitzernden Rollex-Uhren protzenden Weißen hat abschleppen ließen und zu viert im Bett gelandet waren, bunt durcheinander, Menage à quatre... – man lebt nur einmal!
Aber noch war alles ein Spiel. Sie lachte viel mit ihren Landsleuten über die eine oder andre Art. wie sich die notgeilen Männer aus dem Westen um sie herumtänzelnden, abmühten und balzten.
Der eine überhäufte, überschüttete und bedachte sie mit besonderer Aufmerksamkeit, wo und wie es nur ging, mit liebevollen Botschaften, Zettelchen an der Rezeption, beim Barkeeper oder sogar auf dem Abtreter vor ihrer Tür. Hinzu kamen SMSs und langwährende Ansprach auf der Sprachbox ihres Mobilgerätes – es boten sich viel lustige Anlässe über diese besessene Art des Bemühens, Umgarnens, Umflitterns. Das verband, das machte einem zu einem Zugehörigen eines anderen Kulturkreises. Vielleicht sogar eines besseren?
Der eine bombardierte sie mit üppigen Geschenken. Wenn er sie ausführte, selbst wenn sie sich nur in einer Hotelbar verabredet hatten, ließ er es sich nicht nehmen, ihr eine kleine Aufmerksamkeit zu überreichen, einen Blumenstrauß, eine Tafel Schokolade, eine kleine Phantasiefigur auf einem Zahnstocher. Kavalier der alten Schule, musste die Dame niemals die Zeche bezahlen. Aber seine Anfragen verwandelten sich bald in Anträge, die sie schweigend zur Kenntnis nahm, insgeheim bedächtig abwog. Unmerklich wurde sie biegsamer und zugänglicher, erschien der Mann doch so aufrichtig und vielversprechend. Doch gerade deshalb ließ sie sich nicht so schnell über den Tisch ziehen, bei einem weniger ernsthaften Bewerber hätte sie bestimmt schon längst eine schnelle Nummer geschoben. So lange wie möglich ablehnen, auf die lange Bank schieben, abwarten, das erhöhte den Einsatz, die diese Geduld lohnte.
Nach und nach wurde er sogar romantisch, zu romantisch sogar. Saßen sie zusammen an der Theke, spielte er leidenschaftlich am Geldautomaten, was sie überhaupt nicht störte. Sie hatte Zeit, sich von Ruhe und Besinnlichkeit überwältigen zu lassen, wobei sie in die Szenerie um sie herum eintauchte, die sich wie ein Filmset mit verheißungsvollem Plot öffnete.
Unzählige Alkoholika in buntesten, eigentümlichsten Formen und Farben auf dem Regal vor der Spiegelwand aufgereiht, vielfach kopiert und sich ins Unendliche vervielfältigend. Davor das Treiben des Barkeepers mit dem blitzenden Chrom-Becher, dessen Anblick sie fesselte und versinken ließ: tiefschwarzer Anzug, weißes Hemd, dezente Fliege, lächelnde Ernsthaftigkeit - bis sie wieder von dem Funkeln und Glitzern des blitzenden Cocktail-Chrombechers gefangen wird und weg fliegt in eine glänzende Zukunft und eintritt in die große weite Welt, in der sie schon mit einem Bein steht. Oder nicht?
Aufwachen!
Vorsicht! Vorsicht! Vorsicht!
Die Zeit bis zum großen Moment, der heute sein würde, überbrückte sie mit einer asiatischen Freundin mit einem Gesprächsthema, das aus einer unerschöpflichen Quelle sprudelte: homosexuelle Männer und Paare. Einer von ihnen war der Barkeeper, der gerade ganz ungeniert einem Gast, vermutlich seinen Liebhaber, einen Begrüßungsschmatz auf die Lippen drückte. Die staunenden Beobachterinnen konnte ihr kichern nur mühsam unterdrücken und zurückhalten. Das war ohnehin das Lieblingsthema der Asiatinnen. Das Phänomen, Homosexualität, gar zwischen Frauen, war in ihrem Land undenkbar. Eine Familie, die so etwas duldete, war für immer mit einer unauslöschlicher Schande behaftet. Von daher kam so etwas in ihrem Herkunftsland praktisch nie vor. Aber im Westen umso mehr und das war ja auch der seltsame Westen. Da war alles möglich! Faszinierend und abstoßend zugleich. Aber je länger man hier lebte, desto mehr überwog zugegebenermaßen die Faszination.
„Da kommt ja dein Galan!“, sagt ihre Freundin und kichert hinter vorgehaltener Hand so laut, als müsste sie sich übergeben. „Aber er ist wirklich ein schickes Exemplar!“ Galant rutscht sie vom Barhocker und eilt davon, um die Arena für die nächste Runde freizugeben.
Wahrscheinlich würde dies heute die wichtigste sein. Sie riss sich zusammen, straffte den Rücken: Aufpassen, denn es ging um nichts Geringeres als ihre Zukunft, sich den Grundsätzen einer korrekten Gesprächshaltung unterwerfen, wie sie es gelernt hat und wie ihr Vater es ihr immer wieder eingebleut hatte: Überlege zweimal, bevor du antwortest und überlege ein drittes Mal, wie du deine Antwort allgemein und unverbindlich wie möglich halten kannst.
Wohlgefallen überkommt sie, je näher er kommt, ja, sie hat allen Grund, ihn liebevoll zu taxieren, wie eine Mutter ihr Kind mustert, das liegt an ihrer Erziehung, Mensch, wie lange ist es her, dass sie ihre Kinder so musterte? Als sie ihnen das Anziehen beibrachte, sie vierundzwanzig Stunden am Tag beaufsichtigen und kontrollieren musste. Obwohl es nur ein paar Jahre her sind, fühlt es sich wie ein Jahrzehnt an.
Anzug, Hose, Bügelfalte – oho, er bügelt sogar sehr Hosen sehr sorgfältig - und erst seine braunen, spitz zulaufenden Halbschuhe, die glänzten wie Sonnenstrahlen auf dem Meer. In seiner Anzugtasche steckte, wie die Krone eines Königs, ein buntes Tuch aus Papier oder Stoff. Wie Stilvoll!
Oft half es, bevor man antwortete und Zeit gewinnen wollte, die Worte des anderen mit anderen Worten zu wiederholen, der dann meistens bestätigte, was er gesagt hatte und noch einmal zum Nachdenken über sein Gesagtes angeregt wird. Oft auch noch etwas zu ergänzen und anzufügen. Wie Tao Te King sagte: „Viele Worte, manch Verlust. Am besten, man behält sie in der Brust!“
Dann der Duft!
Man riecht zwar das beizende Rasierwasser, aber das Parfüm ist betörend, ein dezenter Duft, vielleicht benutzt er auch ein Creme. Andererseits, selbst wenn er noch so intensiv nach Rasierwasser gerochen hätte, hätte es sie nicht gestört, sie liebt starke Gerüche.
Er ist sich etwas wert, das sieht man, obwohl er ein bisschen nach Bier riecht, aber das gehört wohl dazu. Er setzt sich zu ihr auf den Barhocker, ohne vorher nicht formal-höflich „Guten Abend“ gesagt zu haben. Obwohl sie schon zigmal miteinander geplaudert haben, wahr er immer noch eine gewisse Distanz, ist nicht plump vertraulich. Ihr scheint überhaupt, dass sie es ist, die letztlich die markanten Schritte zu mehr Vertraulichkeit macht, sie gibtg den Takt ihrer Beziehung vor, er wirkt geradezu schüchtern und zurückhaltend.
So setzt er sich auf den Barhocker neben ihr, ein Bein über das andere geschlagen, ihr zugewandt, ganz charmante Aufmerksamkeit. Diese Haltung muss unbequem sein, wie bei Frauen, die auf Pferden reiten, die setzen sich auch so hin, aber er bleibt den ganzen Abend so sitzen. Hat er allerdings zu viel intus, dann wechselt er in eine bequemere Haltung, nämlich Beine auf das Geländer der Theke am Boden und oft schwer betrunken die Oberarme auf die Bar gelegt. Aber das ist nur zu vorgerückter Stunde der Fall, vorher ist er stets respektvoll und doch locker.
Ein interessanter Typ von Mann!.
Am besten gefällt ihr, dass er den Eindruck macht, alle Hände voll zu tun zu haben. Er müsse plötzlich ein Geschäftsgespräch am Telefon führen, dringend etwas in sein Notizblock vermerken. Imposant (dabei steckt er in geschäftlichen Kalamitäten: sein Geschäftspartner will abspringen). Während er in gebeugter Haltung auf den Knien schreibt, stellt sie mit Genugtuung fest, dass selbst neben der Korrektheit seines Anzuges, des Hemdes, der Hose, der Schuhe, auch die Kleinigkeiten stimmten: der Kraken ist nicht verrutscht, steht immer da, wo er stehen soll: Über dem dünnen Pullover neben dem Hals, und ohne Krawatte oder Fliege, hat sie ihn noch nie gesehen. Für sie sind das Symbole und Ausdruck für einen Kaufmann der alten Schule. Er versteht auch hin und wieder ein paar englische Brocken ins Gespräch zu werfen, (in Wahrheit hasst er die Engländer) nicht oft, dann hätte es protzig und angeberisch geklungen. Wahrscheinlich tat er auch dies nur, weil er wusste, sie verstand leider überhaupt kein Englisch. Aber heraushören tat sie es schon.
Er gibt vor, viele Freunde in der Tschechei zu haben (die Bedeutung dieses Ausdrucks ist ihr nicht geläufig, aber in ihrem Umfeld gängig), hat für jeden ein paar nette Worte übrig, erweckt den Eindruck, viele Bekannte zu haben, behandelt auch einige Leute als solche, indem er sie (plump) vertraulich anspricht und ihnen auf die Schulter klopft. Es wirkt aber trotzdem noch zurückhaltend. Ach dummerweise versteht sie noch zu wenig von dieser Sprache, Deutsch. Will sie aber ihr Deutsch verbessern, hilft er ihr nicht. Er lacht nur und meint. „Schatzi, so wie Du sprichst, passt das schon!“ und lacht noch mehr. Eigenartig, aber das „Das-passt-schon“ versteht sie mittlerweile. Damit gibt sie sich zufrieden.
Später findet sie heraus, dass er Englisch nicht mag und auch sonst nur wenig Kontakt zu anderen Mensch pflegt. Er hat eigentlich nur Kontakt zu Leuten, mit denen er Geschäfte macht, das sind auch seine Bekannten und Freunde. Ausländer, in diesem Fall Tschechen sind ihm suspekt. Ausländer mag er überhaupt nicht, die sollen bleiben, wo sie herkommen, jedenfalls nicht nach Deutschland kommen, es sei denn, sie sind familiär hier gebunden, sprich, mit Deutschen verheiratet. Selbst da macht er Ausnahmen, findet, es solle nicht sein, dass ein Dunkelhäutiger deutsches Blut „beeinflusst“. Sie sollten nicht geheiratet werden.
„Aber das ist zum Glück bei dir nicht der Fall!“, sagt er und lacht.
Sie denkt über seine Worte nach, fragt ihn noch einmal, er brabbelt etwas, dass denen später doch leid tun würde, dunkelhäutig zu sein, denn sie hatten unter den Vorurteilen der Engstirnigen und „der Mehrheit“ zu leiden. „Schade um sie!“
Sie wiegt den Kopf wie ein Vogel, der einen von links und rechts und oben und unten betrachtet und sagt sich: klingt eigentlich vernünftig. Schließlich kennt sie Kindern und weiß, wie brutal, gemein und sadistisch sie sein können. Kinder kennen kein Pardon.
„Die müssen die Suppe auslöffeln!“, sagt er und hebt sein Pilsglas, um ein Bierchen zu zischen. Aber ganz. Er kann erstaunlich viel trinken. Er stellt es ab, seufzt und atmet aus, als hätte ein Verdurstender gerade nach 60 Tagen wieder Kontakt mit Flüssigkeit gehabt,, sagt sie, auch wenn sie ihn manchmal ermahnt, weil sie den Eindruck hat, er habe schon zu viel hinter die Binde gekippt. „Eins geht immer noch!“ , und lacht dazu. Sie denkt. „Männer!“
„Aber was ist mit mir?“, sagt sie. „Wie mit Dir?“
„Wenn wir heiraten!?“
„Na, wir wollen doch keine Kinder!“, er hat sein Pilsglas schon an die Lippen gesetzt, wartet noch, was sie sagt, bevor er trinkt. Nach ihrer Antwort kann er zufrieden loslegen.
„Ja!“, sagt sie. „Weißt du, wenn sehr viel Licht ist, wie im Sommer, dann werde ich ganz schnell dunkel!“
Plötzlich sieht er sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Sie war käseweiß und kreidebleich, nicht wahr, doch eine Asiatin!
„Aber im Winter bin ich wie jetzt. Weiß!“
„Genau!“, prostet er ihr wieder zu. „Auf die weiße Hautfarbe!“
Sie entgegnet noch, sie würde ganz schnell eine etwas dunklere Haarfarbe im Sommer, bekommen bei starker Sonneneinstrahlung halt, wurde aber genauso schnell wieder käseweiß im Herbst, sowie die Einstrahlung nachließ.
Dazu sagt er jetzt nichts mehr.
„Na wenn schon!“, denkt er. Wo er wohnte, war es meist dunkel, neblig und düster. Da war es kein Problem, dass man ihn mit einer Negerin als Lebensgefährtin schief anschaute, denn sonst – Pfüdie Gott!
Er nahm noch einen großen Schluck.
Sie macht ihn auf einen interessanten Aspekt ihrer Augen aufmerksam.
Ihre Augen seien sehr dunkelbraun mit einem Schuss Gelb. Aber eher sehr, sehr dunkles Gelb.
Er kommt näher, grinst breit. „Ja, und um die Iris, die so dunkel ist wie das Schwarze Meer, ist ein noch dunklerer Ring. Du bist wie ein kleiner Äffchen aus dem Urwald!“ Er lacht schallend und schlägt sich auf die Knie.
Sie lacht auch, sie findet das Wort „Affe“ auch sehr lustig. Sie klatscht fröhlich in die Hände.
Sie ist sozusagen ein anderer Mensch, sie verkörpert eine besondere Gattung, vielleicht ist sie ein ganz besonderer Mensch, sie die Vietnamesin, Vertreterin der asiatischen Rasse.
Sie findet das sehr amüsant, sagt er. Sie fasst das als Kompliment auf, lächelt, freut sich und legt ihre Hand auf seine Knie. (Vielleicht hätte man es auch anders interpretieren können, weniger schmeichelhaft, fast rassistisch?)
Plötzlich ändert sich die Szene.
Dunkel-geschminkte, schwarze Augen blitzten, kurze asymetrisch geschnittene Kurzhaarschnitte glänzten vor Gel. Der Busen-Ausschnitt stand großzügig offen. Die klebrig geschminkten Lippen, geradeheraus, schamlos-direkt wirkten aufreizend, anmachend, erschütternd, notgeil bis ins letzte Knochenmark. Die Typen aus dem Westen. Diese scharlachroten Münder, inmitten dieser stets zu einem verzerrten, lüsternen Grinsen geöffneten Gesichter, diese fuchtelnden, mit Gold- und Silberreifen behängten, knochigen Arme und Hände, die in den Hotelzimmern mit Zeichen und Gesten, Massage und dergleichen anboten, machten sie nervös.
Steckte Eifersucht dahinter? Vor sich selbst sagte sie sich, sie kenne keine.
Jedenfalls begann sich ihr Blick von ihm zu ändern.
Dieses großzügige Trinkgelder, wo er doch ständig unter Geldmangel leidet, wie er oft klagte, würden ihn ruinieren – er erschien ihr wie ein kleines Kind , dem man sein Spielzeug wegnehmen musste. Und diese Weiber nutzen das schamlos aus, er spendiert ihnen, wann immer er sie sieht, einen Drink.
„Oh, Albert! Süßer!“ Sie kann es nicht mehr hören, sie hasst diese Zigeunerinnen. Oft muss sie ihn in die Rippen stoßen, damit er merkt, was er wieder falsch macht. Kurz, mehr als Verantwortung beginnt sie für ihn zu empfinden, die Erzieherin in ihr erwacht und sie macht ihm Vorschriften, Vorschläge, wie er besser mit seinem Geld haushalten kann, formuliert Einschränkungen, die sich gewaschen haben.
Er lächelt darüber, als sei er besonders amüsiert.
Er fühlt sich ernst genommen, in Besitz genommen, endlich die ersehnte Wende in seinem leeren Leben, wieder in festen Händen zu sein – na also, es kann losgehen!
Sie fühlte sich beim ersten Betreten seiner Wohnung sehr befremdet, als sie ins Schlafzimmer kam. Er drehte ein paar Lampen lächelnd auf, die mit einem billigen roten Schirm bespannt waren. Es wirkte wie bei diesen berüchtigten leichten Mädchen. Dazu dann die völlig geschmacklosen japanischen Wandschirm, die sein Bett umstellten und dann dazu das mit chinesischen Schriftzeichen bedruckter Bettbezug - völlig geschmacklos!
Er bemerkte, dass sie erstaunt schaute und ihr Gesicht verzog.
„Ich dachte, Du magst so etwas. Deswegen habe ich es gekauft.“
„Ja, schon!“
Das Licht war in rotes Schummerlicht getaucht wie im Puff, in einigen Ecken blinkten rote kleine Lichter, die auf einer Girlande aufgereiht waren, das sich durchs ganze Zimmer zog. Sie registrierte zwar freudig seine Mühen, die er sich gemacht hatte. Dass das Zimmer immer derart geschmückt sein würde, davon ging sie nicht aus. Dass sich vieles ändern musste, wenn sie hier einzog, wusste sie genau.
Er beobachtete sie wie von einem anderen Planeten: diese kleine, mausgraue Gestalt.
Ob das gut gehen würde?
Die Macht der Familie
Er suchte eine Frau, weil seine Ehefrau bereits verstorben war.
Auch sie hatte keinen Ehehälfte mehr. Er war vor einigen Jahren mit dem Moped in Vietnam tödlich verunglückt. Deswegen sei sie ins Ausland gegangen. Sie könne sich vorstellen, wieder zu heiraten. Sehr gut sogar, dann könnte sie ihre beiden Kinder aus Vietnam nach Europa holen.
Sie wollten heiraten. Welche Hindernisse gab es?
Am besten im europäischen Ausland, in Deutschland war das schwierig. Den „Bund der Ehe schließen wir in Holland“ wie er es lächelnd und fröhlich verkündet und das Schönste sei, dass sie ihren Namen behalten könne. Die Prozedur sei dort am einfachsten, der finanzielle Aufwand am geringsten.
Worauf ließ sie sich ein?
War er seriös? Ein Heiratsschwindler? Wie war sein finanzieller Hintergrund?
Er sei Geschäftsführer und Miteigentümer einer Firma, die Teile für Schmuckwaren in tschechische Haushalte lieferte, wo sie von den arbeitsbegierigen Hausfrauen und Müttern zu Schmuckwaren für Weihnachts-, Oster- und sonstigen Feiertagen gefertigt wurden. Ornamente, Kugeln, Sterne wurde auf Girlanden gesetzt. Figuren wie Christkind, Engeln, Putten, Osterhasen und so weiter wurden zusammengefügt. Das Geschäft lief gut, war unschlagbar, da die Besitzer in der Nähe der böhmischen Grenze wohnten und lebten, so dass sie kurze Wege Lieferwege hatten. Er verdiene mit diesen fleißigen Bienen sehr, sehr gut, um es gelinde auszudrücken.
Das schilderte er es. Es schien alles zu stimmen.
Sein Charakter?
Er hatte zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Nur die Tochter hatte noch Verbindung zu ihm, was eben, wie sie sich sagen ließ, sehr deutsch sei, normal in westlichen Familien heutzutage, der familiäre Kontakt wurde auf kleinster Flamme gehalten. Dann hatte er ein Haus gemietet, sehr geräumig, mit Garten, das er allein bewohnte. Sie konnte dort einziehen, es war sogar Platz für zwei weitere Personen, wenn sie ihre beiden Kinder nachholen wollte. Die eine war 16, die andere 18 Jahre alt. Ein Nachzug – kein Problem! Im Gegenteil, er liebte Kinder, vor allem Jugendliche. Rechtlich stand dem nichts im Wege, denn sie wären verheiratet. Damit waren sie auch seine legitimen Kinder.
Woher er das wusste?
Er hatte einen Freund, der sich genau in dieser Lage befand. Efür die Familienzusammenführung gab es keinerlei nennenswerten Hürden.
Allerdings würde sie, seine Ehefrau, die er in Holland geehelicht hatte, nur eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhalten und keinen deutschen Pass.
Das galt es zu bedenken! Das sagte er. Das war ein Zeichen von Aufrichtigkeit. Er versprach ihr nicht den Himmel auf Erden.
Sei’s drum, sie liebte ihre Heimat über alles. In Vietnam würde ihre Herkunftsfamilie noch leben, wenn sie über hundert Jahre alt wäre. Sie konnte jederzeit dorthin zurückkehren. Die vietnamesische Staatsbürgerschaft behielt sie ohnehin.
Auch wenn ihr Vater seit dem Tod der Mutter Schwierigkeiten machte. Er spielte ernsthaft mit dem Gedanken, die Beziehung zu seiner Freundin zu legalisieren und seine Geliebte in den Stand der Ehe zu erheben. Das müsse unbedingt verhindert werden. Aber Geschwister und sie würden das schon hinkriegen.
Natürlich, es handelte sich nicht gerade um große Liebe zu diesem Deutschen. Aber von Liebe hatte sie sowieso keine Ahnung. Nie erfahren. Sie war scjpm mit ihrem Mann verschachert worden. Das gehörte zur Kultur. Liebe war ein Fremdwort aus dem Westen.
Die Familie, in die sie hineingeboren wurde, war eine Schicksalsgemeinschaft, unhinterfragbar und unkündbar. Ohne Familie konnte man in der vietnamesischen Gesellschaft nicht überleben, man ging ein wie eine Primel ohne Dünger und Feuchtigkeit.
So war es auch mit der Gründung ihrer eigenen Familie. Es war ein Zwangsakt gewesen, von ihrer Familie dazu veranlasst worden, einen nahezu Fremden, einen aus einem anderen Dorf, zu ehelichen. Sie hatte ihn kaum gekannt, ihren vietnamesischen Mann. Eine gute Partie, sicher. Aber von Zärtlichkeit und Liebe keine Spur. Er zwang sie zum Geschlechtsverkehr ohne Verhütung. Ein, zwei Kinder, dennoch keine Kondome. Sie vereinbarten stets, er solle aufpassen, konnte sich aber nicht beherrschen und zusammenreißen. So wurde sie drei Mal schwanger, jedes Mal musste sie abtreiben. Eins davon war ein Sohn. Er und ihre Familie wollten es so. Eines Tages verunglückte er mit dem Moped tödlich auf dem täglichen Arbeitsweg. Ein Leben ohne Mann, ist kein Leben für eine relativ junge Frau in Vietnam. So suchte sie ihr Glück im Westen.
Aber wieder heiraten, ja oder nein?
Die Ehe mit einem Deutschen genoss einen sehr guten Ruf. Im asiatischen Raum galten die Deutschen als besonders fleißig, zuverlässig und waren wegen anderer hoch angesehener Eigenschaften wertgeschätzt.
Und ihre eigene Familie? Mutter, Schwester, Bruder – sie würde sie weniger sehen.
Bevor sie heiratete fuhr sie aber zu ihnen.
Und heute traf sie sich auf einem Familienfest.
Sie alle würden sich anstrengen müssen, alle, ohne Ausnahmen würden mithelfen müssen, damit das Familientreffen ein Erfolg würde.
Es wehte bereits jetzt ein starker Nordostwind, der das kalte kontinentale Klimas Nordvietnams ankündigte, den Herbst.
Wegen der unvorhergesehenen Windböen war es schwierig, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Der Weg vom neuen zum alten Haus über den Steg war mehr als ein Balanceakt. Aber er musste vollzogen werden. Familientreffen wurden stets im alten Haus abgehalten.
Dazu musste allerdings wertvolles und wie es sich gehörte, wertvolleres Geschirr aus dem Lager ins alte Hause befördert werden, eine Herausforderung angesichts des Wetters heute. Aber keine erhob dagegen Einspruch, zu unumstößlich war der Ort der richtige. Ein Familientreffen wurde dort abgehalten, wo die Familie größtenteils aufgewachsen war. Wo die Ahnen lebten. Wo vor allem die verstorbene Mutter regiert hatte. Unter dem Zeichen der Mutter stand heute die Zusammenkunft.
Huch, war das gefährlich vom leicht schwankenden Steg in den stark strömende Flüsschen hinabzuschauen!
Zum Glück ging alles gut! Ein gutes Omen. Das Familienfest stand unter guten Vorzeichen.
Doch bevor man zusammensitzen konnte, brach schon ein Streit aus, eine heftige Auseinandersetzung, der sich im Hin und Her abspielte. Wer sich da aus der Fassung bringen ließ, lief Gefahr, abzustürzen. Die Worte, die hier fielen, waren schon tausendmal gesagt und genauso oft erwidert worden.
„Musst Du diesen Menschen heiraten?“
„Muss ich!“
„Aber bislang ging es auch!“
„Wenn zwei Personen zusammen leben, gehört es dazu, dass sie dies nach außen hin absegnen, sonst ist es unmoralisch. Dies wird nun einmal mittels Ehe zelebriert.“ Der Vater war ganz schön schnoddrig und behandelte sie wie ein kleines Kind. Das war sie aber längst nicht mehr, das musste er doch mittlerweile gemerkt haben.
„Auch ich musste meine Beziehung nach außen hin zelebrieren! Obwohl ich den Mann nicht kannte. Ich wurde nicht mal gefragt, ob er mir gefällt.“ Worte wie schaler Tee, tausend Mal aufgetischt. Es war ein sattsam bekannter Vorwurf, der darauf abzielte, dass sie von ihrem Vater gezwungen worden war, einen Mann zu ehelichen und nach außen hin zu demonstrieren, wir gehören zusammen. Dabei hatte sie ihn nicht die Spur leiden können..
Der Vater beendete die Diskussion im Basta-Ton: „Mag sein. Aber diese Frau wird meine Frau und alle sollen es wissen.“
„Bist Du nicht schon zu alt dazu?“„Und was Mutter dazu sagen würde?“ Die anderen Geschwister mischten sich jetzt ein.
Das letzte Argument verfing in dieser nüchternen Familienwelt überhaupt nicht und das erste kontert er im noch entschiedenerem Ton: „Sie wird meine Frau, damit Schluss. Und wie sich für eine Ehe gehört, werden wir uns ein Nest, ein Haus bauen! Darin werden wir wie Mann und Frau leben!“
„Aber du hast doch schon drei Häuser gebaut!?“
„Habe ich!“
„Und jetzt noch ein viertes!“
„Daran kannst du sehen, dass ich noch lange nicht alt bin!“
Das saß. Sie schwieg. Natürlich waren alle Geschwister gegen diese Ehe. Eine Eingeheiratete würde einen Anspruch auf Besitz haben, der von ihrem Anteil abgezogen würde. Ihr Erbe würde geschmälert. Auch im Namen der Mutter, die viel geschuftet hatte, war das ein Affront. Die Mutter hatte bestimmt nicht für die Konkubine oder eine vermeintliche Nachfolgerin gebuckelt - allein deshalb fühlten sie sich im Recht, gegen den Eindringling Front zu machen.
Aber der Vater blieb hart.
Heute war der Gedenktat ihrer Mutter, wenngleich willkürlich festgelegt, weil die Europäerin zufällig wieder zu Gast in ihrem Haus war. Die Erinnerung an die Mutter schürte natürlich das Feuer. Es gab nur eine Mutter. Und die Frau des Vaters war doch die Mutter. Das verwirrte zudem auch.
Aber allen war klar, dass es heute noch um ein Problem ging. Und dieses verdrängte das vorhergehende – zum Glück für diese Familie, könnte man sagen. Aber nicht für ein Mitglied davon.
Sie hatten eine taube Schwester. Diese war ungewollt schwanger geworden. Sie wollte das Kind nicht. Ihr Argument: Das Kind würde wohl aggressiv werden und sich von der Mutter, die sie nicht hören konnte, entfremden. Aber so einfach war das nicht. Darüber musste der Familienrat entscheiden. Die Betroffene selbst hatte quasi nur eine Stimme.
Auch ein vielsagendes Moment, dass diese Problematik am Jahrestag der verstorbenen Mutter behandelt wurde. Man hatte sich nicht im neuen, großen Haus versammelt, sondern in der kleinen, älteren Hütte, die man liebevoll als ein Symbol und bestauntes Relikt vergangener und andauernder Familiengeschichte betrachtete und keine Mühen und Mittel scheute, dieses nachzubessern und aufrecht zu erhalten.
Dort zu tagen, war schon etwas Besonderes. Es zog durch die Ritzen und Ecken des lehm- und tonverkleisterten Gebildes. Manch einer vertrug den Luftzug nicht und schüttelte sich vor Schaudern.
Das Thema allein hätte diese körperliche Reaktion des Schauderns hervorrufen müssen. Nicht jedoch bei diesen Familienmitgliedern. Für diese handelte es sich hier um ein ganz normales Familienproblem, das es gemeinsam zu lösen galt. Mehr nicht.
Zunächst ließ sich jeder einzelne nieder. Jeder achtete darauf, dass die Reihenfolge eingehalten wurde. Diese spiegelte die Wertigkeit der jeweiligen Personen innerhalb der Gemeinschaft wider. Zuerst der Vater, dann seine bald Angetraute, impertinent, der Bruder, zwei weitere Schwestern, die gehörlose Schwester, dann sie, die Europäerin und zuletzt der Haushund, der sich auf den Schoß seiner geliebten Stummen kuschelte. Er verstand sie sehr gut, sie verstand ihn sehr gut, ohne Worte und gemeinsame Sprache.
Heute gab es einen besonderen Reis: braunen, von den hohen Bergen, welcher nur dort in diesen windigen, rauen Höhen wachsen konnte. Eine Delikatesse. Er war sehr anbauintensiv, dementsprechend teuer. Man packte mit diesem Reis einen Fladen, mit dem man gebratenes Gehacktes umwickelte – köstlich.
Zunächst aß man stumm, als befände man sich in der Stille vor dem Sturm. Nur ahnte diejenige, die dieser am meisten zusetzen würde, nichts davon. Arglos genoss sie die schmackhafte Köstlichkeit.
Die Europäerin, wie sie mittlerweile schon scherzhaft bezeichnet wurde, hatte noch für sich überlegt: „Ich werde keine Kinder mehr haben, mit dem Deutschen nicht, unwahrscheinlich, dass der seine Meinung ändern würde, war ja schon komplett, bedient und vollständig, zumal aus dem Alter heraus, selbst Nachzügler zu wünschen.“ Schade, weil sie sich gerne einen Sohn gewünscht hätte, und es tat ihr bei ihren Abtreibungen besonders um einen männlichen Fötus leid, den sie dabei verloren hatte.
Die stumme Schwester wusste gar nicht, wie ihr geschah und fühlte sich nahezu übertölpelt, als plötzlich die Sprache auf ihre Umstände kam– hätte sie Zeit zum Nachdenken gehabt, hätte sie sich bestimmt gefragt: war man einzig hier zusammengekommen war, um über ihr Schicksal zu entscheiden? Ihr Hund, der an ihrer Seite geschmiegt war und ansonsten, sofern er nicht nach Happen seinen Schnauzen hob, hob jetzt auch auf einmal den Kopf.
Als einziges Instrument, um sich verständlich zu machen, bedeutete die Taubstumme mit Fingern erregt, sie möchte partout kein Kind haben, wozu sie sich jedes Mal, wie auch alle anderen Redner, mit ihrem Oberkörper etwas nach vorne aufrichtete, um, nach Gesagtem, zurückzuweichen in die bequeme Ausgangsstellung des Normalsitzes. Schwierig zu erklären, was sie ausdrücken wollte, so dass sie umständlich deutlich machen musste, dass sie kaum mit dem Nachkömmling reden konnte, Folge waren Missverständnisse und Enttäuschung bei diesem –grotesk sichtbar, dass sie diese Umstand einer Mutter-Kind-Beziehung ihren Familienmitgliedern hier selbst kaum verständlich machen konnte. Tatsächlich verstanden auch die wenigsten, was sie sagen wollte.
„Aber ihr könnt Euch doch mit Zeichen verständigen!“, sagte eine Schwester, eine Aussage, über die man hätte lange nachdenken müssen, ob diese Verständigungsform funktionieren würde. Keiner kannte nur eine einzige Handsprache, um dies beurteilen zu können. So entstand erst einmal Gemurmele, die die Ratlosigkeit ausdrückte.
Die Stumme sah ihr Kind, wenn es etwas falsch gemacht hatte oder die Fragen auftauchten, durfte dies das Kind oder nicht, dass die Erwachsenen sich vor Entscheidungen drückten, einfach um besser dazustehen und sie zu ihrer Mutter schickten, deren sie zunächst einmal per Gebärdensprache klar machen sollte, um was es sich drehte. Sollte dies gelingen, dann müsste die Mutter oft genug ihr Nein verkünden, was das Kind sich schließlich gegen sie und damit verbunden die Finger-, Gesichts- und Muskelbewegungen einer Gebärdensprache verleiden würde. sie würde diese letztlich dann hassen und damit auch die Mutter, die ewige Verbieterin, Kontrolleurin und Nein-Sagerin.
Das wollte Taube auf keinen Fall: wieder erregte sie sich ungebührlich mit ihrer Mitteln, was, die es nicht verstanden, sich gerne übersetzen ließen, um so tun zu können, als würde sie die erregte Stimmung, die Wut und Abwehr der behinderten, bemitleidenswerten Schwester nicht verstehen. Sie gewannen zumindest Zeit zu antworten und zu reagieren.
Eine verstand die andren aber um so mehr und um so früher, diejenige, die deren Gedanken nahezu von den Lippen ablesen konnte: gefrorenes Lächeln, gekräuseltes Lächeln, angedeutetes Lächeln, zittriges Flattern der Lippen, Zähne verbissen auf Lippen, einen Schneidezahn sichtbar beißend auf Lippen. Jegliches Muskelzucken hatte seine eigene Bedeutung. Auch die Bewegungen der Augenbrauen, nur geringste Zuckungen, konnte sie deuten. Dies war oft Grund dafür, dass sie bereits antwortete, bevor die anderen etwas sagen konnten, weil sie diesen ja stets um einen Schritt vorauswar. Sie mussten die Stumme deswegen immer wieder bremsen. Am schnellsten reagierte sie natürlich, wenn es sie besonders traf, es extreme Gefühle aufrührte.
„Sie meint, das Kind würde sie nicht verstehen, das Kind würde sie an den Schultern rütteln und ankeifen, Mutter hörst Du mich nicht. Das Kind würde furchtbar aggressiv werden!“ Die Europäerin übersetzte es jetzt den anderen.
Die Stumme Schwestern nickte heftig dazu, dass sie sie richtig wiedergegeben hatte.
„Hm, wenn diese meine Schwester ein kleines Baby hätte, das wäre doch zu schön. Ich liebe diese kleinen, putzigen, molligen Wesen da, diese Kleinkinder. Hm. Und wenn ich zweimal im Jahr nach Vietnam zu Besuch käme, wäre es doch ein Schönes, wenn ich so ein kleines Ding in den Armen halten könnte.
Der anderen Reaktion: Kopfschütteln, verlegenes Achselzucken oder nervöses Greifen nach einem Happen, all das wusste sie zu deuten und wurde sich mit einem schnellen Überblick rasch im Klaren, dass sie chancenlos war und dass alle Versammelten gegen sie waren. Und andere Personen gab es nicht: keine Schlichterstelle, keinen externen Weisen wie Pastor, Politiker oder Älterer, denen man aufgrund ihrer Lebenserfahrung oder zurückhaltenden Art und nüchternen Vernunft vertrauen, die Entscheidungsmacht mit einräumen und befragen und um Antwort angehen konnte.
So war für sie bald klar, wie die Zeichen standen, verlor schnell die Contenance, versuchte mit immer heftigeren Gesten, ihren Standpunkt, ihren Willen und Wunsch kundzutun und verständlich zu machen.
Der Hund, obzwar er nicht den Kopf aufhob, noch nicht, wedelte aber ständig nervös mit dem Schwanz.
Sie merkte, sie stieß jetzt nur auf stumme, abweisende, fast eisige Gesichter. Panik übernahm ihr Gemüt und sie nahm als einzige Möglichkeit der Flucht, die ihr noch blieb und als letztes Argument, das mangelnde Geld heran. Das war aber eine Speerspitze, die jetzt gegen sie selbst gerichtet wurde.
„Du hast gar nicht das Geld, dass du eine Abtreibung vornehmen kannst. Und von uns bekommst Du es bestimmt nicht. Nicht für so etwas.“ Ihr konservativer Vater wieder, der so engstirnig war, dass er den familiären Schaden und die familiäre Schande nicht ertragen konnte, mit einer Konkubine zu leben und stattdessen sein Verhältnis mit dieser in den geheiligten und sanktionierten Rahmen einer ehelichen Gemeinschaft einzubetten hatte.
„Aber für die Erziehung des Kindes ist wohl Geld da?“ Natürlich war demnach für das eine genauso wenig da wie für das andere.
„Das würde sich schon ergeben, das Geld, in Laufe der Zeit!“
Da sprach die Logik des Fatalismus, lass mal geschehen, was geschehen soll, beizeiten würde man sich damit zurechtfinden können. Punktum.
Als sich die werdende, widerwillige Mutter mit dieser unüberwindlichen Mauer umgeben und eingegraben sah, brach sie in letzter Anwallung von Freiheit oder Verzweiflung in Panik aus, stürzte aus der alten Haupthütte ins Freie und rannte vor Ärger und Wut, soweit sie die Füße trugen.
Nur ein Hund, einer ihrer Lieblingstiere, folgte ihr, sprang sie immer wieder an, weil er die Hektik, Schnelligkeit und das Geradeaus wie ein besonderes Spiel auffasste. Sie achtete nicht auf ihn, jetzt nicht, wie sehr sie sonst wie kein anderer im Dorf aufmerksam war gegenüber besonders Hunden, die sie neben Hühnern, Ziegen, Schafen als besonders intelligente Tiere wahrnahm. So lief sie schnell voran, der Hund genauso schnell hinter.
Sie durchquerte in ihrer Aggressivität das frisch gesteckte Reisfeld, hätte sie doch auch durch das bereits einen Meter in Blust stehende Reisfeld laufen können, nein, die frischen, noch nicht einmal den Kopf aufgerichteten Reispflänzchen mussten ihrer Wut zum Opfer fallen. Der Hund, dem eingebleut worden war, nicht im Reisfeld herumzutollen, blieb zurück und bellte ihr warnend nach.
Apropos Opfer: wenn sie jetzt weiterlief, was sie ungebremst tat und durch diese Bambuspflanzen-Wäldchen rennen würde, lief sie womöglich geradewegs in den Rachen eines Tigers, die hier in den Weiten der hügeligen Landschaft und terrassenförmigen Reisfeldern herumstreiften. Aber sie lief weiter.
Stolperte plötzlich über irgendetwas und landete mit dem Kopf im sumpfig-wassrigem Untergrund, lag erschöpft da und weigerte sich aus Lebenshass sich überhaupt nur einen Joda und Millimeter zu bewegen. Ein ausgemachter Unsinn. Aber sie wollte einfach sterben, vielleicht gelang es ihr mit dieser Haltung und Einstellung?
Tausende von Insekten grabbelten, schwirrten, flitzen, fleuchten und rannen über, um und in sie hinein, dass es in Ohren, Nasen und jeder Körperöffnung kitzelte, juckte und brannte. Mochte dies schon unerträglich sein, so war es letztlich die Feuchtigkeit der Luft, besonders die über den nassen Reisfelder stehende Nebelwand, die sie als unerträglich, klebrig und zum Davonlaufen empfand und sie jetzt hieß, aufzustehen.
Als sie stand, schaute sie nach Osten: der Weg der Freiheit; dann Westen: der Weg zur Familie zurück. Westen, Osten, Westen...
Jetzt wurde ihr bewusst, dass sie noch einen weiteren Nachteil gegenüber einer Raubkatze hatte: sie hörte sie nicht. Sie konnte sie gar nicht hören. Sie war ja taub, um Gottes Willen! Nicht das Schnauben, nicht das Brüllen der Raubkatze würde sie vernehmen können, während er im Ansatz zum Hechtsprung auf sie zusausen würde. Vielleicht nur ein Ausschnitt, sein schwarz-gelbes geschecktes Fell, dann nur mehr einen Schlag, ein gewaltiges Gewicht, das sie zu Boden reißen würde, verbunden mit dem eintretenden furchtbaren Biss des Tieres, wenn sie Glück hatte an ihrer Kehle, dann reißen, zerren, krallen und damit elendigliches Verbluten, bis immer weniger von ihr übrig blieb.
Gäbe es doppelte Angst, dann hätte sie besten Grund dafür.
Welche Chance hatte die Stumme? Würde sie nein sagen, würde sie verstoßen werden. Na, gibt es in der westlichen Gesellschaft oft auch. Aber für sie gibt es hierzulande keine Auffangfamilien, keine wie immer, religiös, charitativ oder sonst wie beseelten Gemeinden und Gemeinschaften. Wer keine Familie hatte, war zum Alleinsein verurteilt und verdammt. Familien traten zusammen und gingen auseinander, ohne mit anderen Familien Kontakt zu haben. Jeder der menschlichen Parzellen lebte möglichst isoliert für sich und getrennt nebeneinander.
Mögen manche christliche Familien beispielsweise an Weihnachten einen Fremden einladen, einen Hilfsbedürftigen, einen Gestrandeten, einen Verwitweten oder Verwaisten und ihn vorübergehend verköstigen – so etwas gab nicht in einer buddhistischen Gesellschaft, jeder konnte nur sein Heil in sich selbst suchen und finden.
Was würde geschehen, wenn sie nach Osten lief: einsame Tage würden verbleiben....wer aus der Familie verstoßen wurde, sie freiwillig verließ oder diese ausstarb, hatte in der asiatischen Gesellschaft keine Ersatzfamilie zur Auswahl oder zur Rettung.
Davon abgesehen hätte sie zudem keine Möglichkeit, ihr Kind loszuwerden. Niemand würde ihren eine Münze geben, um dies zu ermöglichen. Also, auch das war kein Ausweg.
Langsam schritt sie wieder zurück, woher sie gekommen war, Richtung ihres kleinen Heimatdorfes.
Wenn sie ihr Baby austrug, wäre für das Kind so oder so gesorgt. Sie konnte arbeiten, was ihr wichtig war, weil sie es gerne tat. Den Tag über, die neue Oma, der Papa, wenn er Zeit fand und nicht zu sehr mit dem neuen Hausbau in Anspruch genommen wurde (denn natürlich wollte er für seine neue Ehe ein neues, eigenes Haus errichten), die andere Schwester, die auch ein kleineres Kind besaß, der verwitwete Onkel und die nahen Verwandten im Dorf würden dafür schon sorgen, dass das Kind über Tage oder bis sie von der Schule nach Hause kam, behütet, versorgt, bekümmert und ausreichend unter Aufsicht stehen würde.
Sie sah die Häuseransammlung von ferne hinter einer dünnen grauen Riesenwolke, eingelullt in den schnittigen, scharfen Abendregen, der wie eine Wand und nur an den Rändern durchsichtig war wegen der starken Lichteinstrahlung des Mondes.
Noch ein Moment. Wo war sie dabei? Es war nicht zu sagen.
Nun, sollte diese Familie ihr Kind haben, sie würde nur ein Achtel Verantwortung für das neue Familienmitglied tragen.
Diese Familie - aber besser als von einem Raubtier verschlungen zu werden oder in Einsamkeit in einer der großen Städte ein Leben vor sich hinzufristen, dass ohne Leben, Mitmenschen und Aufregungen, solche oder jene, sein würde.
Ja, die Familie!
Und dann ging sie darauf zu. Wurde Zeit, der Nordost-Wind war schon spürbar kälter geworden. Der Winter klopfte an die Tür.
Auch sie hatte keinen Ehehälfte mehr. Er war vor einigen Jahren mit dem Moped in Vietnam tödlich verunglückt. Deswegen sei sie ins Ausland gegangen. Sie könne sich vorstellen, wieder zu heiraten. Sehr gut sogar, dann könnte sie ihre beiden Kinder aus Vietnam nach Europa holen.
Sie wollten heiraten. Welche Hindernisse gab es?
Am besten im europäischen Ausland, in Deutschland war das schwierig. Den „Bund der Ehe schließen wir in Holland“ wie er es lächelnd und fröhlich verkündet und das Schönste sei, dass sie ihren Namen behalten könne. Die Prozedur sei dort am einfachsten, der finanzielle Aufwand am geringsten.
Worauf ließ sie sich ein?
War er seriös? Ein Heiratsschwindler? Wie war sein finanzieller Hintergrund?
Er sei Geschäftsführer und Miteigentümer einer Firma, die Teile für Schmuckwaren in tschechische Haushalte lieferte, wo sie von den arbeitsbegierigen Hausfrauen und Müttern zu Schmuckwaren für Weihnachts-, Oster- und sonstigen Feiertagen gefertigt wurden. Ornamente, Kugeln, Sterne wurde auf Girlanden gesetzt. Figuren wie Christkind, Engeln, Putten, Osterhasen und so weiter wurden zusammengefügt. Das Geschäft lief gut, war unschlagbar, da die Besitzer in der Nähe der böhmischen Grenze wohnten und lebten, so dass sie kurze Wege Lieferwege hatten. Er verdiene mit diesen fleißigen Bienen sehr, sehr gut, um es gelinde auszudrücken.
Das schilderte er es. Es schien alles zu stimmen.
Sein Charakter?
Er hatte zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Nur die Tochter hatte noch Verbindung zu ihm, was eben, wie sie sich sagen ließ, sehr deutsch sei, normal in westlichen Familien heutzutage, der familiäre Kontakt wurde auf kleinster Flamme gehalten. Dann hatte er ein Haus gemietet, sehr geräumig, mit Garten, das er allein bewohnte. Sie konnte dort einziehen, es war sogar Platz für zwei weitere Personen, wenn sie ihre beiden Kinder nachholen wollte. Die eine war 16, die andere 18 Jahre alt. Ein Nachzug – kein Problem! Im Gegenteil, er liebte Kinder, vor allem Jugendliche. Rechtlich stand dem nichts im Wege, denn sie wären verheiratet. Damit waren sie auch seine legitimen Kinder.
Woher er das wusste?
Er hatte einen Freund, der sich genau in dieser Lage befand. Efür die Familienzusammenführung gab es keinerlei nennenswerten Hürden.
Allerdings würde sie, seine Ehefrau, die er in Holland geehelicht hatte, nur eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhalten und keinen deutschen Pass.
Das galt es zu bedenken! Das sagte er. Das war ein Zeichen von Aufrichtigkeit. Er versprach ihr nicht den Himmel auf Erden.
Sei’s drum, sie liebte ihre Heimat über alles. In Vietnam würde ihre Herkunftsfamilie noch leben, wenn sie über hundert Jahre alt wäre. Sie konnte jederzeit dorthin zurückkehren. Die vietnamesische Staatsbürgerschaft behielt sie ohnehin.
Auch wenn ihr Vater seit dem Tod der Mutter Schwierigkeiten machte. Er spielte ernsthaft mit dem Gedanken, die Beziehung zu seiner Freundin zu legalisieren und seine Geliebte in den Stand der Ehe zu erheben. Das müsse unbedingt verhindert werden. Aber Geschwister und sie würden das schon hinkriegen.
Natürlich, es handelte sich nicht gerade um große Liebe zu diesem Deutschen. Aber von Liebe hatte sie sowieso keine Ahnung. Nie erfahren. Sie war scjpm mit ihrem Mann verschachert worden. Das gehörte zur Kultur. Liebe war ein Fremdwort aus dem Westen.
Die Familie, in die sie hineingeboren wurde, war eine Schicksalsgemeinschaft, unhinterfragbar und unkündbar. Ohne Familie konnte man in der vietnamesischen Gesellschaft nicht überleben, man ging ein wie eine Primel ohne Dünger und Feuchtigkeit.
So war es auch mit der Gründung ihrer eigenen Familie. Es war ein Zwangsakt gewesen, von ihrer Familie dazu veranlasst worden, einen nahezu Fremden, einen aus einem anderen Dorf, zu ehelichen. Sie hatte ihn kaum gekannt, ihren vietnamesischen Mann. Eine gute Partie, sicher. Aber von Zärtlichkeit und Liebe keine Spur. Er zwang sie zum Geschlechtsverkehr ohne Verhütung. Ein, zwei Kinder, dennoch keine Kondome. Sie vereinbarten stets, er solle aufpassen, konnte sich aber nicht beherrschen und zusammenreißen. So wurde sie drei Mal schwanger, jedes Mal musste sie abtreiben. Eins davon war ein Sohn. Er und ihre Familie wollten es so. Eines Tages verunglückte er mit dem Moped tödlich auf dem täglichen Arbeitsweg. Ein Leben ohne Mann, ist kein Leben für eine relativ junge Frau in Vietnam. So suchte sie ihr Glück im Westen.
Aber wieder heiraten, ja oder nein?
Die Ehe mit einem Deutschen genoss einen sehr guten Ruf. Im asiatischen Raum galten die Deutschen als besonders fleißig, zuverlässig und waren wegen anderer hoch angesehener Eigenschaften wertgeschätzt.
Und ihre eigene Familie? Mutter, Schwester, Bruder – sie würde sie weniger sehen.
Bevor sie heiratete fuhr sie aber zu ihnen.
Und heute traf sie sich auf einem Familienfest.
Sie alle würden sich anstrengen müssen, alle, ohne Ausnahmen würden mithelfen müssen, damit das Familientreffen ein Erfolg würde.
Es wehte bereits jetzt ein starker Nordostwind, der das kalte kontinentale Klimas Nordvietnams ankündigte, den Herbst.
Wegen der unvorhergesehenen Windböen war es schwierig, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Der Weg vom neuen zum alten Haus über den Steg war mehr als ein Balanceakt. Aber er musste vollzogen werden. Familientreffen wurden stets im alten Haus abgehalten.
Dazu musste allerdings wertvolles und wie es sich gehörte, wertvolleres Geschirr aus dem Lager ins alte Hause befördert werden, eine Herausforderung angesichts des Wetters heute. Aber keine erhob dagegen Einspruch, zu unumstößlich war der Ort der richtige. Ein Familientreffen wurde dort abgehalten, wo die Familie größtenteils aufgewachsen war. Wo die Ahnen lebten. Wo vor allem die verstorbene Mutter regiert hatte. Unter dem Zeichen der Mutter stand heute die Zusammenkunft.
Huch, war das gefährlich vom leicht schwankenden Steg in den stark strömende Flüsschen hinabzuschauen!
Zum Glück ging alles gut! Ein gutes Omen. Das Familienfest stand unter guten Vorzeichen.
Doch bevor man zusammensitzen konnte, brach schon ein Streit aus, eine heftige Auseinandersetzung, der sich im Hin und Her abspielte. Wer sich da aus der Fassung bringen ließ, lief Gefahr, abzustürzen. Die Worte, die hier fielen, waren schon tausendmal gesagt und genauso oft erwidert worden.
„Musst Du diesen Menschen heiraten?“
„Muss ich!“
„Aber bislang ging es auch!“
„Wenn zwei Personen zusammen leben, gehört es dazu, dass sie dies nach außen hin absegnen, sonst ist es unmoralisch. Dies wird nun einmal mittels Ehe zelebriert.“ Der Vater war ganz schön schnoddrig und behandelte sie wie ein kleines Kind. Das war sie aber längst nicht mehr, das musste er doch mittlerweile gemerkt haben.
„Auch ich musste meine Beziehung nach außen hin zelebrieren! Obwohl ich den Mann nicht kannte. Ich wurde nicht mal gefragt, ob er mir gefällt.“ Worte wie schaler Tee, tausend Mal aufgetischt. Es war ein sattsam bekannter Vorwurf, der darauf abzielte, dass sie von ihrem Vater gezwungen worden war, einen Mann zu ehelichen und nach außen hin zu demonstrieren, wir gehören zusammen. Dabei hatte sie ihn nicht die Spur leiden können..
Der Vater beendete die Diskussion im Basta-Ton: „Mag sein. Aber diese Frau wird meine Frau und alle sollen es wissen.“
„Bist Du nicht schon zu alt dazu?“„Und was Mutter dazu sagen würde?“ Die anderen Geschwister mischten sich jetzt ein.
Das letzte Argument verfing in dieser nüchternen Familienwelt überhaupt nicht und das erste kontert er im noch entschiedenerem Ton: „Sie wird meine Frau, damit Schluss. Und wie sich für eine Ehe gehört, werden wir uns ein Nest, ein Haus bauen! Darin werden wir wie Mann und Frau leben!“
„Aber du hast doch schon drei Häuser gebaut!?“
„Habe ich!“
„Und jetzt noch ein viertes!“
„Daran kannst du sehen, dass ich noch lange nicht alt bin!“
Das saß. Sie schwieg. Natürlich waren alle Geschwister gegen diese Ehe. Eine Eingeheiratete würde einen Anspruch auf Besitz haben, der von ihrem Anteil abgezogen würde. Ihr Erbe würde geschmälert. Auch im Namen der Mutter, die viel geschuftet hatte, war das ein Affront. Die Mutter hatte bestimmt nicht für die Konkubine oder eine vermeintliche Nachfolgerin gebuckelt - allein deshalb fühlten sie sich im Recht, gegen den Eindringling Front zu machen.
Aber der Vater blieb hart.
Heute war der Gedenktat ihrer Mutter, wenngleich willkürlich festgelegt, weil die Europäerin zufällig wieder zu Gast in ihrem Haus war. Die Erinnerung an die Mutter schürte natürlich das Feuer. Es gab nur eine Mutter. Und die Frau des Vaters war doch die Mutter. Das verwirrte zudem auch.
Aber allen war klar, dass es heute noch um ein Problem ging. Und dieses verdrängte das vorhergehende – zum Glück für diese Familie, könnte man sagen. Aber nicht für ein Mitglied davon.
Sie hatten eine taube Schwester. Diese war ungewollt schwanger geworden. Sie wollte das Kind nicht. Ihr Argument: Das Kind würde wohl aggressiv werden und sich von der Mutter, die sie nicht hören konnte, entfremden. Aber so einfach war das nicht. Darüber musste der Familienrat entscheiden. Die Betroffene selbst hatte quasi nur eine Stimme.
Auch ein vielsagendes Moment, dass diese Problematik am Jahrestag der verstorbenen Mutter behandelt wurde. Man hatte sich nicht im neuen, großen Haus versammelt, sondern in der kleinen, älteren Hütte, die man liebevoll als ein Symbol und bestauntes Relikt vergangener und andauernder Familiengeschichte betrachtete und keine Mühen und Mittel scheute, dieses nachzubessern und aufrecht zu erhalten.
Dort zu tagen, war schon etwas Besonderes. Es zog durch die Ritzen und Ecken des lehm- und tonverkleisterten Gebildes. Manch einer vertrug den Luftzug nicht und schüttelte sich vor Schaudern.
Das Thema allein hätte diese körperliche Reaktion des Schauderns hervorrufen müssen. Nicht jedoch bei diesen Familienmitgliedern. Für diese handelte es sich hier um ein ganz normales Familienproblem, das es gemeinsam zu lösen galt. Mehr nicht.
Zunächst ließ sich jeder einzelne nieder. Jeder achtete darauf, dass die Reihenfolge eingehalten wurde. Diese spiegelte die Wertigkeit der jeweiligen Personen innerhalb der Gemeinschaft wider. Zuerst der Vater, dann seine bald Angetraute, impertinent, der Bruder, zwei weitere Schwestern, die gehörlose Schwester, dann sie, die Europäerin und zuletzt der Haushund, der sich auf den Schoß seiner geliebten Stummen kuschelte. Er verstand sie sehr gut, sie verstand ihn sehr gut, ohne Worte und gemeinsame Sprache.
Heute gab es einen besonderen Reis: braunen, von den hohen Bergen, welcher nur dort in diesen windigen, rauen Höhen wachsen konnte. Eine Delikatesse. Er war sehr anbauintensiv, dementsprechend teuer. Man packte mit diesem Reis einen Fladen, mit dem man gebratenes Gehacktes umwickelte – köstlich.
Zunächst aß man stumm, als befände man sich in der Stille vor dem Sturm. Nur ahnte diejenige, die dieser am meisten zusetzen würde, nichts davon. Arglos genoss sie die schmackhafte Köstlichkeit.
Die Europäerin, wie sie mittlerweile schon scherzhaft bezeichnet wurde, hatte noch für sich überlegt: „Ich werde keine Kinder mehr haben, mit dem Deutschen nicht, unwahrscheinlich, dass der seine Meinung ändern würde, war ja schon komplett, bedient und vollständig, zumal aus dem Alter heraus, selbst Nachzügler zu wünschen.“ Schade, weil sie sich gerne einen Sohn gewünscht hätte, und es tat ihr bei ihren Abtreibungen besonders um einen männlichen Fötus leid, den sie dabei verloren hatte.
Die stumme Schwester wusste gar nicht, wie ihr geschah und fühlte sich nahezu übertölpelt, als plötzlich die Sprache auf ihre Umstände kam– hätte sie Zeit zum Nachdenken gehabt, hätte sie sich bestimmt gefragt: war man einzig hier zusammengekommen war, um über ihr Schicksal zu entscheiden? Ihr Hund, der an ihrer Seite geschmiegt war und ansonsten, sofern er nicht nach Happen seinen Schnauzen hob, hob jetzt auch auf einmal den Kopf.
Als einziges Instrument, um sich verständlich zu machen, bedeutete die Taubstumme mit Fingern erregt, sie möchte partout kein Kind haben, wozu sie sich jedes Mal, wie auch alle anderen Redner, mit ihrem Oberkörper etwas nach vorne aufrichtete, um, nach Gesagtem, zurückzuweichen in die bequeme Ausgangsstellung des Normalsitzes. Schwierig zu erklären, was sie ausdrücken wollte, so dass sie umständlich deutlich machen musste, dass sie kaum mit dem Nachkömmling reden konnte, Folge waren Missverständnisse und Enttäuschung bei diesem –grotesk sichtbar, dass sie diese Umstand einer Mutter-Kind-Beziehung ihren Familienmitgliedern hier selbst kaum verständlich machen konnte. Tatsächlich verstanden auch die wenigsten, was sie sagen wollte.
„Aber ihr könnt Euch doch mit Zeichen verständigen!“, sagte eine Schwester, eine Aussage, über die man hätte lange nachdenken müssen, ob diese Verständigungsform funktionieren würde. Keiner kannte nur eine einzige Handsprache, um dies beurteilen zu können. So entstand erst einmal Gemurmele, die die Ratlosigkeit ausdrückte.
Die Stumme sah ihr Kind, wenn es etwas falsch gemacht hatte oder die Fragen auftauchten, durfte dies das Kind oder nicht, dass die Erwachsenen sich vor Entscheidungen drückten, einfach um besser dazustehen und sie zu ihrer Mutter schickten, deren sie zunächst einmal per Gebärdensprache klar machen sollte, um was es sich drehte. Sollte dies gelingen, dann müsste die Mutter oft genug ihr Nein verkünden, was das Kind sich schließlich gegen sie und damit verbunden die Finger-, Gesichts- und Muskelbewegungen einer Gebärdensprache verleiden würde. sie würde diese letztlich dann hassen und damit auch die Mutter, die ewige Verbieterin, Kontrolleurin und Nein-Sagerin.
Das wollte Taube auf keinen Fall: wieder erregte sie sich ungebührlich mit ihrer Mitteln, was, die es nicht verstanden, sich gerne übersetzen ließen, um so tun zu können, als würde sie die erregte Stimmung, die Wut und Abwehr der behinderten, bemitleidenswerten Schwester nicht verstehen. Sie gewannen zumindest Zeit zu antworten und zu reagieren.
Eine verstand die andren aber um so mehr und um so früher, diejenige, die deren Gedanken nahezu von den Lippen ablesen konnte: gefrorenes Lächeln, gekräuseltes Lächeln, angedeutetes Lächeln, zittriges Flattern der Lippen, Zähne verbissen auf Lippen, einen Schneidezahn sichtbar beißend auf Lippen. Jegliches Muskelzucken hatte seine eigene Bedeutung. Auch die Bewegungen der Augenbrauen, nur geringste Zuckungen, konnte sie deuten. Dies war oft Grund dafür, dass sie bereits antwortete, bevor die anderen etwas sagen konnten, weil sie diesen ja stets um einen Schritt vorauswar. Sie mussten die Stumme deswegen immer wieder bremsen. Am schnellsten reagierte sie natürlich, wenn es sie besonders traf, es extreme Gefühle aufrührte.
„Sie meint, das Kind würde sie nicht verstehen, das Kind würde sie an den Schultern rütteln und ankeifen, Mutter hörst Du mich nicht. Das Kind würde furchtbar aggressiv werden!“ Die Europäerin übersetzte es jetzt den anderen.
Die Stumme Schwestern nickte heftig dazu, dass sie sie richtig wiedergegeben hatte.
„Hm, wenn diese meine Schwester ein kleines Baby hätte, das wäre doch zu schön. Ich liebe diese kleinen, putzigen, molligen Wesen da, diese Kleinkinder. Hm. Und wenn ich zweimal im Jahr nach Vietnam zu Besuch käme, wäre es doch ein Schönes, wenn ich so ein kleines Ding in den Armen halten könnte.
Der anderen Reaktion: Kopfschütteln, verlegenes Achselzucken oder nervöses Greifen nach einem Happen, all das wusste sie zu deuten und wurde sich mit einem schnellen Überblick rasch im Klaren, dass sie chancenlos war und dass alle Versammelten gegen sie waren. Und andere Personen gab es nicht: keine Schlichterstelle, keinen externen Weisen wie Pastor, Politiker oder Älterer, denen man aufgrund ihrer Lebenserfahrung oder zurückhaltenden Art und nüchternen Vernunft vertrauen, die Entscheidungsmacht mit einräumen und befragen und um Antwort angehen konnte.
So war für sie bald klar, wie die Zeichen standen, verlor schnell die Contenance, versuchte mit immer heftigeren Gesten, ihren Standpunkt, ihren Willen und Wunsch kundzutun und verständlich zu machen.
Der Hund, obzwar er nicht den Kopf aufhob, noch nicht, wedelte aber ständig nervös mit dem Schwanz.
Sie merkte, sie stieß jetzt nur auf stumme, abweisende, fast eisige Gesichter. Panik übernahm ihr Gemüt und sie nahm als einzige Möglichkeit der Flucht, die ihr noch blieb und als letztes Argument, das mangelnde Geld heran. Das war aber eine Speerspitze, die jetzt gegen sie selbst gerichtet wurde.
„Du hast gar nicht das Geld, dass du eine Abtreibung vornehmen kannst. Und von uns bekommst Du es bestimmt nicht. Nicht für so etwas.“ Ihr konservativer Vater wieder, der so engstirnig war, dass er den familiären Schaden und die familiäre Schande nicht ertragen konnte, mit einer Konkubine zu leben und stattdessen sein Verhältnis mit dieser in den geheiligten und sanktionierten Rahmen einer ehelichen Gemeinschaft einzubetten hatte.
„Aber für die Erziehung des Kindes ist wohl Geld da?“ Natürlich war demnach für das eine genauso wenig da wie für das andere.
„Das würde sich schon ergeben, das Geld, in Laufe der Zeit!“
Da sprach die Logik des Fatalismus, lass mal geschehen, was geschehen soll, beizeiten würde man sich damit zurechtfinden können. Punktum.
Als sich die werdende, widerwillige Mutter mit dieser unüberwindlichen Mauer umgeben und eingegraben sah, brach sie in letzter Anwallung von Freiheit oder Verzweiflung in Panik aus, stürzte aus der alten Haupthütte ins Freie und rannte vor Ärger und Wut, soweit sie die Füße trugen.
Nur ein Hund, einer ihrer Lieblingstiere, folgte ihr, sprang sie immer wieder an, weil er die Hektik, Schnelligkeit und das Geradeaus wie ein besonderes Spiel auffasste. Sie achtete nicht auf ihn, jetzt nicht, wie sehr sie sonst wie kein anderer im Dorf aufmerksam war gegenüber besonders Hunden, die sie neben Hühnern, Ziegen, Schafen als besonders intelligente Tiere wahrnahm. So lief sie schnell voran, der Hund genauso schnell hinter.
Sie durchquerte in ihrer Aggressivität das frisch gesteckte Reisfeld, hätte sie doch auch durch das bereits einen Meter in Blust stehende Reisfeld laufen können, nein, die frischen, noch nicht einmal den Kopf aufgerichteten Reispflänzchen mussten ihrer Wut zum Opfer fallen. Der Hund, dem eingebleut worden war, nicht im Reisfeld herumzutollen, blieb zurück und bellte ihr warnend nach.
Apropos Opfer: wenn sie jetzt weiterlief, was sie ungebremst tat und durch diese Bambuspflanzen-Wäldchen rennen würde, lief sie womöglich geradewegs in den Rachen eines Tigers, die hier in den Weiten der hügeligen Landschaft und terrassenförmigen Reisfeldern herumstreiften. Aber sie lief weiter.
Stolperte plötzlich über irgendetwas und landete mit dem Kopf im sumpfig-wassrigem Untergrund, lag erschöpft da und weigerte sich aus Lebenshass sich überhaupt nur einen Joda und Millimeter zu bewegen. Ein ausgemachter Unsinn. Aber sie wollte einfach sterben, vielleicht gelang es ihr mit dieser Haltung und Einstellung?
Tausende von Insekten grabbelten, schwirrten, flitzen, fleuchten und rannen über, um und in sie hinein, dass es in Ohren, Nasen und jeder Körperöffnung kitzelte, juckte und brannte. Mochte dies schon unerträglich sein, so war es letztlich die Feuchtigkeit der Luft, besonders die über den nassen Reisfelder stehende Nebelwand, die sie als unerträglich, klebrig und zum Davonlaufen empfand und sie jetzt hieß, aufzustehen.
Als sie stand, schaute sie nach Osten: der Weg der Freiheit; dann Westen: der Weg zur Familie zurück. Westen, Osten, Westen...
Jetzt wurde ihr bewusst, dass sie noch einen weiteren Nachteil gegenüber einer Raubkatze hatte: sie hörte sie nicht. Sie konnte sie gar nicht hören. Sie war ja taub, um Gottes Willen! Nicht das Schnauben, nicht das Brüllen der Raubkatze würde sie vernehmen können, während er im Ansatz zum Hechtsprung auf sie zusausen würde. Vielleicht nur ein Ausschnitt, sein schwarz-gelbes geschecktes Fell, dann nur mehr einen Schlag, ein gewaltiges Gewicht, das sie zu Boden reißen würde, verbunden mit dem eintretenden furchtbaren Biss des Tieres, wenn sie Glück hatte an ihrer Kehle, dann reißen, zerren, krallen und damit elendigliches Verbluten, bis immer weniger von ihr übrig blieb.
Gäbe es doppelte Angst, dann hätte sie besten Grund dafür.
Welche Chance hatte die Stumme? Würde sie nein sagen, würde sie verstoßen werden. Na, gibt es in der westlichen Gesellschaft oft auch. Aber für sie gibt es hierzulande keine Auffangfamilien, keine wie immer, religiös, charitativ oder sonst wie beseelten Gemeinden und Gemeinschaften. Wer keine Familie hatte, war zum Alleinsein verurteilt und verdammt. Familien traten zusammen und gingen auseinander, ohne mit anderen Familien Kontakt zu haben. Jeder der menschlichen Parzellen lebte möglichst isoliert für sich und getrennt nebeneinander.
Mögen manche christliche Familien beispielsweise an Weihnachten einen Fremden einladen, einen Hilfsbedürftigen, einen Gestrandeten, einen Verwitweten oder Verwaisten und ihn vorübergehend verköstigen – so etwas gab nicht in einer buddhistischen Gesellschaft, jeder konnte nur sein Heil in sich selbst suchen und finden.
Was würde geschehen, wenn sie nach Osten lief: einsame Tage würden verbleiben....wer aus der Familie verstoßen wurde, sie freiwillig verließ oder diese ausstarb, hatte in der asiatischen Gesellschaft keine Ersatzfamilie zur Auswahl oder zur Rettung.
Davon abgesehen hätte sie zudem keine Möglichkeit, ihr Kind loszuwerden. Niemand würde ihren eine Münze geben, um dies zu ermöglichen. Also, auch das war kein Ausweg.
Langsam schritt sie wieder zurück, woher sie gekommen war, Richtung ihres kleinen Heimatdorfes.
Wenn sie ihr Baby austrug, wäre für das Kind so oder so gesorgt. Sie konnte arbeiten, was ihr wichtig war, weil sie es gerne tat. Den Tag über, die neue Oma, der Papa, wenn er Zeit fand und nicht zu sehr mit dem neuen Hausbau in Anspruch genommen wurde (denn natürlich wollte er für seine neue Ehe ein neues, eigenes Haus errichten), die andere Schwester, die auch ein kleineres Kind besaß, der verwitwete Onkel und die nahen Verwandten im Dorf würden dafür schon sorgen, dass das Kind über Tage oder bis sie von der Schule nach Hause kam, behütet, versorgt, bekümmert und ausreichend unter Aufsicht stehen würde.
Sie sah die Häuseransammlung von ferne hinter einer dünnen grauen Riesenwolke, eingelullt in den schnittigen, scharfen Abendregen, der wie eine Wand und nur an den Rändern durchsichtig war wegen der starken Lichteinstrahlung des Mondes.
Noch ein Moment. Wo war sie dabei? Es war nicht zu sagen.
Nun, sollte diese Familie ihr Kind haben, sie würde nur ein Achtel Verantwortung für das neue Familienmitglied tragen.
Diese Familie - aber besser als von einem Raubtier verschlungen zu werden oder in Einsamkeit in einer der großen Städte ein Leben vor sich hinzufristen, dass ohne Leben, Mitmenschen und Aufregungen, solche oder jene, sein würde.
Ja, die Familie!
Und dann ging sie darauf zu. Wurde Zeit, der Nordost-Wind war schon spürbar kälter geworden. Der Winter klopfte an die Tür.
Migrantin IV
„Na Schatzi, du siehst so müde aus. bist’de nicht zur Ruhe gekommen heute nacht?“
Lachen.
„Aber sie hat doch einen 20 Jahre älteren Ehemann. Der lässt sie schon schlafen. Der kann so eine junge Frau schon längst nicht mehr befriedigen!“
Die beiden Männer biegen sich vor Lachen.
Nächsten Tag, morgens.
„Na, du siehst so unzufrieden aus. Komm, wir gehen mal in der Pause ein kurzes Weilchen in die Ecke dort hinterm Kartonberg, um ficki ficki zu machen. Das muntert dich auf und bringt dich wieder auf Trab.“
Gelächter.
„Komm, ich lade Dich Kaffee ein?“
„Warum?“
Der andere fällt ihm ins Wort.
„Weil du dann wieder fit bist, glaub mir. Wir können auch, wenn du jetzt nicht in Stimmung bist, nach der Arbeit mal einen Trinken gehen. Die Stadt ist langweilig und klein, aber ich führe dich in ein schnuckeliges, kleines Lokal, Pub. Ich kenne da eins in einer kleinen Nebenstraße. Gut versteckt. Da siehst uns keiner! Du weißt schon warum!“
Prustendes Kichern.
„Aha! Warum sollte ich?“
„Du so schöne, junge Frau, brauchst a bissla Abwechslung.“
„Genau, du ruinierst Dir nur Deine Gesundheit. Du musst in die frische Luft. Da ist ein Spaziergang genau das richtige. Und abends, nach der Arbeit sowieso! Da muss man mal unter lustige Leute und sonst wohin, wo einem keiner kennt. Nicht?!“
„Ich denke nach!“
„Mach das, Schatzi!“
Unterdrücktes Kichern.
Sicherlich, sie war nicht „froh“ in ihrem Leben, aber zu einer Hure wollte sie sich auch nicht degradieren und herabwürdigen lassen, sie war schließlich eine verheiratete, stolze Frau. Nein, mit jungen, fremden Männer vergnügen, kam nicht in die Tüte! Auch wenn so ziemlich jede Arbeiterin sich dem hingab, zumindest redeten sie gerne als ob, kam es bei ihr nicht in Frage!
Aber was sollte sie sonst tun? Irgendetwas brauchte sie, war sie doch wirklich stets sehr müde, verschlafen und konnte kaum noch aus ihren Augen lugen. Sie schlief in der Nacht oder am Tag, je nach Schicht, nach Wechselschichten, die sich kunterbunt abwechselten ohne Systematik, Ordnung und Struktur über die Monate hin gesehen. Sie wachte etliche Male auf, trank etwas, legte sich wieder hin, wachte wieder auf. So etwas war ihr nie passiert. Nicht in Vietnam.
Sie war Putzfrau, Gärtner, gute Nachbarin, hatte öfter die alten, armen, dahinsiechenden Frauen in dem Heim vor Ort mit bunten Plastiksträußen erfreut und nunmehr war ihre eine neue Aufgabe zugefallen, jeden Sonntag Vormittag, die Bierkästen, bereits am Samstag beim Discounter eingekauft, im Kofferraum und Hintersitz sich stapelnd, zum Freiwilligen Feuerwerk-Haus mitsamt dem Spender hin und ihn am Sonntag Abend herzufahren, nachdem sich die alten und jungen Herren zum Besäufnis versammelten und wieder nach Hause verstreut hatten – er war der letzte, der abschloss - angetrunken, vollgepumpt mit odligem Bier, ein Dunst, der nach Kuhweide und Ochsenstall roch, um sich verströmend, mit ihrem Auto, da ihm wegen Alkohol am Steuer sein Führerschein entzogen worden war.
Aber seitdem sie die Funktion der Altenpflegerin an ihm - andere Aufgaben kein Problem - nicht erfüllte und konnte, begann er, zusehends nervöser werdend, auf sie herumzuhacken, wobei er bei den kleinsten Widrigkeiten wie eine Rakete in die Luft ging. Besoffen fuchtelte er ihr bedrohlich und gefährlich mit den Händen zwischen dem Lenkrad herum, weil er befürchtete, sie kriegte hier nicht die Kurve oder scherte dort nicht schnell genug ein, um einen Blechschaden zu vermeiden, was aber ging es ihm an, wenn es nicht sein eigenes Auto war? Strikte Gütertrennung war angesagt zwischen ihnen, so dass sie ihr Auto durch ihr sauerverdientes Geld selbst erworben hatte und seines gab er nicht aus den Händen, schon gleich gar nicht seinem Frauchen da, die nervös im Fahrersitz herumnestelte und das Lenkrad völlig unkoordiniert hin- und herbewegte, dass man sich die schlimmsten Unfälle vorstellen musste. Er schrie wie am Spieß, sie zitterte wie Espenlaub – die beste Voraussetzung für einen Zusammenstoß, einen Aufprall, ein Schleudern, ein Schlenkern, ein Abkommen-von-der-Fahrbahn – ihr liefen die Schweißperlen die Stirn herab, ihm entwichen die beizenden Alkholausdünstungen – die beste chemische Explosivmischung! Sonntags mit Bier in höchsten Dosen abgefüllt und sein offenes scharf-riechendes Bein, das nicht zuwachsen und verheilen wollte, vor allem mit dieser seiner körperlichen Hygienenachlässlichkeit des Sich-Zu-Wenig-Waschens und Kleiderwechselns, war der Gipfel der Abneigung erreicht!
Und wupps fuhr sie schon zu weit rechts ran, Zweige und Äste schürften den Kotflügel entlang auf und diesen ab – aber, obwohl nicht seine Karosserie, ging er wie dieses lustige Zigaretten-Männchen aus der Werbung aus den sechziger, siebziger Jahren gleich in die Luft und an die Decke.
Wegen des betrunkenen Zustandes und ihrem Recht auf Autobesitz - sowieso konnte es nicht anders sein, sie musste fahren! Zudem war er nachgerade von Polizisten umringt. Das freiwillige Feuerwehrhäuschen war der Treffpunkt von merkwürdigerweise vielen Polizisten, abgesehen von den jungen Spunden und sonstigem Dorfvolk.
Dort hatte er sich auch durch die freiwillige ehrenamtliche Tätigkeit ein Loch in das Bein beim Anlegen einer Leiter geholt, woheraus er wie aus einer Sickergrube stank, selbst ihre vietnamesischen Kinder mit Nasenrümpfen, Widerwillen und vorgehaltener Hand reagierten darauf angewidert und angeekelt. Im Grunde hatten diese vor ihm ja Respekt, er ließ sich nicht lumpen, war der beste denkbare Schwiegervater und stopfte die gierigen Mäuler dieser Gören und erfüllte ihre gierigen, unbefriedigenden, maßlosen Wünsche.
Kinder halt. Ein Fass ohne Boden, wie er immer lachend sagte und woran sie ersehen konnte, wie sehr er sie liebte und mochte. Aber sie, sie nun einmal nicht so sehr ihn, dass sie ihn waschen, kämmen, umsorgen und pflegen hätte können, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre als Ehefrau gegenüber ihrem pflegebedürftigen alten Ehemann.
Das konnte sie nicht.
In seinem Schlafzimmer prangte der Schimmelpilz Zentimeter dick an den Wänden, der Verputz, heruntergefallen, staute sich in den Ecken am Boden, Wanzen flogen im Zimmer herum, Spinnen krabbelten am Boden entlang, Silberlinge und Assel krochen in die Ritzen hinein und heraus, nur nicht, dass sich auch Mäuse hier eingenisteten hätten, aber sein Sohn, der Eigentümer, rührte nicht den kleinsten Finger. Ihr waren hier sowieso die Hände gebunden, konnte nichts ausrichten mangels Know-How. Sie hatte nunmehr Arbeit, war erschöpft, hatte wenig Zeit – von daher keine Kraft, Zeit und Energie. Das musste er selbst regeln, aber saß nur vor der Glotze mit einem Krug Bier, einer Stange Zigaretten und einer Tüte Salz- und Pfeffer/Paprika/Curry-Kartoffel-Chips und wettete auf die unsinnigsten Dinge, Geschehnisse und Ereignisse, holte sich aber aus der Glotze auch Anregungen für Präsente von den unsäglichen endlosen Geschenk-Werbe-Sendungen, die ihren Kindern zu Gute kamen. Deswegen hatte er kein Geld, verlangte sowieso von ihr, sie solle sich selber um ihr Einkommen kümmern, in seiner Geldbörse war ständig Ebbe.
Da sie nichts von ihm bekam außer Vorwürfe, Gleichgültigkeit und eine hochgereckte Nase, musste sie in etwas flüchten, was ihr Spaß machte.
Auf dem Balkon einer Freundin stand ein Bauer mit einem Vogel darinnen. Der Wind wehte von der nahen Mittelgebirgskette bis hierher stark an diesem Abend, die Federn des bunten Vogels sträubten sich deshalb, er plusterte sich auf, so dass diese noch weiter ausstanden und begann mit seinem Schnabel an dem Federbett seines Hinterteils herumzupicken.
„Ist das nicht süß?“, sagte ihre Freundin, auch Vietnamesin.
„Oja! Oja! Oja!“ Sie war ganz entzückt. Die Freundin, deren deutscher Mann bald starb, erinnerte sich an diese Entzückung ihrer Landsmännin und da sie wieder in ihre Heimat zurückzuziehen beabsichtigte - was wollte sie hier in diesem Land ohne einem originären Landsmann? – schenkte sie ihr den Vogel.
Die Beschenkte fand an ihm derartig großen Gefallen, dass sie sich einen zweiten zulegte. Leider war es statt einem ordentlichem Pärchen ein gleichgeschlechtliches - das ging nicht, aber das zweite Männchen, wie das bei den aktuellen Geschäftsgebaren üblich war, ließ sich nicht zurückgeben und wurde auch nicht zurückgenommen– das lohnte nicht für das Geschäft, Tierliebe hin oder her. Würde sie den Zweiten frei lassen, ginge der sub- und tropische Kanarienvogel an den harschen kontinentalen Klimaverhältnissen hierzulande elendiglich und jämmerlich zu Grunde - also verschenken. Nur an wem? Dem gierigen Geschäftsmann gönnte sie den Vogel nicht, er würde ihn nur wieder verkaufen. Im näherer Verwand-, Bekannt- und Freundschaftskreis existierte kein Abnehmer. Was tun?
Inzwischen löste sich das Problem von selbst, denn ein Männchen hatte dem anderen die Augen ausgepickt. Man musste das Leben, wie sagen die hierzulande immer, im besten Licht betrachten, positiv sehen und denken. Also war jetzt der Weg frei für ein schmuckes Weibchen. Sie surfte, suchte danach, so violett-blaue gefielen ihr besonders, aber leider deckte sich die virtuelle Welt nicht mit der realen. So suchte sie weiter, bei Vogelzüchtern, bei Vogelzucht-Veranstaltungen, Ausstellungen, sie war ganz vernarrt in exotische Vögel. Sie hörte sich so gerne deren Pipmatz-Gesang, für andere Pipmatz-Geschrei an, nahm sie auf Handy auf, spielte es überall, selbst in ihrer Arbeit jedem, der mit ihr ein Wort wechselte, ab. Es machte sie diese ihre Vögel etwas froh, lenkte sie ab von der Langeweile und Enge des fränkischen Dorflebens, der ländlichen Provinz, sicherlich hätte sie sich über ein Buch beugen können, endlich einmal ihre Deutschkenntnisse versuchen zu verbessern, aber ohne Lehrer, allein vor einem toten Buch - das war zu langweilig. Abwechslung verschafften ihr einzig noch die Kinder, gewiss auch anstrengend, aber letztlich das einzige, was in ihrem Leb en sie gut gemacht hatte, Kinder zu gebären und auf die Welt zu bringen, das, was ihr so sehr Freude bereitete, gleichviel wie Mühe, aber wofür lebte man schließlich, sie wie die Mehrheit der Menschen: für die Nachkommenschaft, sprich Familie. Übrigens die Vögel machten das auch. Sie legten bunte, kleine Eicherchen, die sie bald ausbrüten würden. Welch eine Freude, wenn es bald soweit sein würde, dass sie Kinderchen, Nachwusch, kleine gerade erste geborene Lebewesen bekommen würde, helfen füttern, ernähren und pflegen und ihr eigen nennen dürfte. Fast wie wenn sie wieder eine Familie hätte.
Und sie freute sich schon auf den nächsten Vogel, die nächsten Käfige hatte sie sich schon besorgt und diesesmal würde es kein Kanarienvogel, sondern ein Wellensittich sein, der diese Vogelbauer bewohnte, aber keine Angst, sagte sie zu ihrem Mann, der, wenn er einmal in ihren Wohnbereich eindrang, vor dem Gekreisch noch verrückter wurde als er ohnehin schon war, Papageien mochte sie nicht, waren ihr zu groß und korpulent, aber gerade diese kleinen, bunten, quirligen Pipmatze hatten ihren weiblichen Mutterinstinkt geweckt.
Lachen.
„Aber sie hat doch einen 20 Jahre älteren Ehemann. Der lässt sie schon schlafen. Der kann so eine junge Frau schon längst nicht mehr befriedigen!“
Die beiden Männer biegen sich vor Lachen.
Nächsten Tag, morgens.
„Na, du siehst so unzufrieden aus. Komm, wir gehen mal in der Pause ein kurzes Weilchen in die Ecke dort hinterm Kartonberg, um ficki ficki zu machen. Das muntert dich auf und bringt dich wieder auf Trab.“
Gelächter.
„Komm, ich lade Dich Kaffee ein?“
„Warum?“
Der andere fällt ihm ins Wort.
„Weil du dann wieder fit bist, glaub mir. Wir können auch, wenn du jetzt nicht in Stimmung bist, nach der Arbeit mal einen Trinken gehen. Die Stadt ist langweilig und klein, aber ich führe dich in ein schnuckeliges, kleines Lokal, Pub. Ich kenne da eins in einer kleinen Nebenstraße. Gut versteckt. Da siehst uns keiner! Du weißt schon warum!“
Prustendes Kichern.
„Aha! Warum sollte ich?“
„Du so schöne, junge Frau, brauchst a bissla Abwechslung.“
„Genau, du ruinierst Dir nur Deine Gesundheit. Du musst in die frische Luft. Da ist ein Spaziergang genau das richtige. Und abends, nach der Arbeit sowieso! Da muss man mal unter lustige Leute und sonst wohin, wo einem keiner kennt. Nicht?!“
„Ich denke nach!“
„Mach das, Schatzi!“
Unterdrücktes Kichern.
Sicherlich, sie war nicht „froh“ in ihrem Leben, aber zu einer Hure wollte sie sich auch nicht degradieren und herabwürdigen lassen, sie war schließlich eine verheiratete, stolze Frau. Nein, mit jungen, fremden Männer vergnügen, kam nicht in die Tüte! Auch wenn so ziemlich jede Arbeiterin sich dem hingab, zumindest redeten sie gerne als ob, kam es bei ihr nicht in Frage!
Aber was sollte sie sonst tun? Irgendetwas brauchte sie, war sie doch wirklich stets sehr müde, verschlafen und konnte kaum noch aus ihren Augen lugen. Sie schlief in der Nacht oder am Tag, je nach Schicht, nach Wechselschichten, die sich kunterbunt abwechselten ohne Systematik, Ordnung und Struktur über die Monate hin gesehen. Sie wachte etliche Male auf, trank etwas, legte sich wieder hin, wachte wieder auf. So etwas war ihr nie passiert. Nicht in Vietnam.
Sie war Putzfrau, Gärtner, gute Nachbarin, hatte öfter die alten, armen, dahinsiechenden Frauen in dem Heim vor Ort mit bunten Plastiksträußen erfreut und nunmehr war ihre eine neue Aufgabe zugefallen, jeden Sonntag Vormittag, die Bierkästen, bereits am Samstag beim Discounter eingekauft, im Kofferraum und Hintersitz sich stapelnd, zum Freiwilligen Feuerwerk-Haus mitsamt dem Spender hin und ihn am Sonntag Abend herzufahren, nachdem sich die alten und jungen Herren zum Besäufnis versammelten und wieder nach Hause verstreut hatten – er war der letzte, der abschloss - angetrunken, vollgepumpt mit odligem Bier, ein Dunst, der nach Kuhweide und Ochsenstall roch, um sich verströmend, mit ihrem Auto, da ihm wegen Alkohol am Steuer sein Führerschein entzogen worden war.
Aber seitdem sie die Funktion der Altenpflegerin an ihm - andere Aufgaben kein Problem - nicht erfüllte und konnte, begann er, zusehends nervöser werdend, auf sie herumzuhacken, wobei er bei den kleinsten Widrigkeiten wie eine Rakete in die Luft ging. Besoffen fuchtelte er ihr bedrohlich und gefährlich mit den Händen zwischen dem Lenkrad herum, weil er befürchtete, sie kriegte hier nicht die Kurve oder scherte dort nicht schnell genug ein, um einen Blechschaden zu vermeiden, was aber ging es ihm an, wenn es nicht sein eigenes Auto war? Strikte Gütertrennung war angesagt zwischen ihnen, so dass sie ihr Auto durch ihr sauerverdientes Geld selbst erworben hatte und seines gab er nicht aus den Händen, schon gleich gar nicht seinem Frauchen da, die nervös im Fahrersitz herumnestelte und das Lenkrad völlig unkoordiniert hin- und herbewegte, dass man sich die schlimmsten Unfälle vorstellen musste. Er schrie wie am Spieß, sie zitterte wie Espenlaub – die beste Voraussetzung für einen Zusammenstoß, einen Aufprall, ein Schleudern, ein Schlenkern, ein Abkommen-von-der-Fahrbahn – ihr liefen die Schweißperlen die Stirn herab, ihm entwichen die beizenden Alkholausdünstungen – die beste chemische Explosivmischung! Sonntags mit Bier in höchsten Dosen abgefüllt und sein offenes scharf-riechendes Bein, das nicht zuwachsen und verheilen wollte, vor allem mit dieser seiner körperlichen Hygienenachlässlichkeit des Sich-Zu-Wenig-Waschens und Kleiderwechselns, war der Gipfel der Abneigung erreicht!
Und wupps fuhr sie schon zu weit rechts ran, Zweige und Äste schürften den Kotflügel entlang auf und diesen ab – aber, obwohl nicht seine Karosserie, ging er wie dieses lustige Zigaretten-Männchen aus der Werbung aus den sechziger, siebziger Jahren gleich in die Luft und an die Decke.
Wegen des betrunkenen Zustandes und ihrem Recht auf Autobesitz - sowieso konnte es nicht anders sein, sie musste fahren! Zudem war er nachgerade von Polizisten umringt. Das freiwillige Feuerwehrhäuschen war der Treffpunkt von merkwürdigerweise vielen Polizisten, abgesehen von den jungen Spunden und sonstigem Dorfvolk.
Dort hatte er sich auch durch die freiwillige ehrenamtliche Tätigkeit ein Loch in das Bein beim Anlegen einer Leiter geholt, woheraus er wie aus einer Sickergrube stank, selbst ihre vietnamesischen Kinder mit Nasenrümpfen, Widerwillen und vorgehaltener Hand reagierten darauf angewidert und angeekelt. Im Grunde hatten diese vor ihm ja Respekt, er ließ sich nicht lumpen, war der beste denkbare Schwiegervater und stopfte die gierigen Mäuler dieser Gören und erfüllte ihre gierigen, unbefriedigenden, maßlosen Wünsche.
Kinder halt. Ein Fass ohne Boden, wie er immer lachend sagte und woran sie ersehen konnte, wie sehr er sie liebte und mochte. Aber sie, sie nun einmal nicht so sehr ihn, dass sie ihn waschen, kämmen, umsorgen und pflegen hätte können, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre als Ehefrau gegenüber ihrem pflegebedürftigen alten Ehemann.
Das konnte sie nicht.
In seinem Schlafzimmer prangte der Schimmelpilz Zentimeter dick an den Wänden, der Verputz, heruntergefallen, staute sich in den Ecken am Boden, Wanzen flogen im Zimmer herum, Spinnen krabbelten am Boden entlang, Silberlinge und Assel krochen in die Ritzen hinein und heraus, nur nicht, dass sich auch Mäuse hier eingenisteten hätten, aber sein Sohn, der Eigentümer, rührte nicht den kleinsten Finger. Ihr waren hier sowieso die Hände gebunden, konnte nichts ausrichten mangels Know-How. Sie hatte nunmehr Arbeit, war erschöpft, hatte wenig Zeit – von daher keine Kraft, Zeit und Energie. Das musste er selbst regeln, aber saß nur vor der Glotze mit einem Krug Bier, einer Stange Zigaretten und einer Tüte Salz- und Pfeffer/Paprika/Curry-Kartoffel-Chips und wettete auf die unsinnigsten Dinge, Geschehnisse und Ereignisse, holte sich aber aus der Glotze auch Anregungen für Präsente von den unsäglichen endlosen Geschenk-Werbe-Sendungen, die ihren Kindern zu Gute kamen. Deswegen hatte er kein Geld, verlangte sowieso von ihr, sie solle sich selber um ihr Einkommen kümmern, in seiner Geldbörse war ständig Ebbe.
Da sie nichts von ihm bekam außer Vorwürfe, Gleichgültigkeit und eine hochgereckte Nase, musste sie in etwas flüchten, was ihr Spaß machte.
Auf dem Balkon einer Freundin stand ein Bauer mit einem Vogel darinnen. Der Wind wehte von der nahen Mittelgebirgskette bis hierher stark an diesem Abend, die Federn des bunten Vogels sträubten sich deshalb, er plusterte sich auf, so dass diese noch weiter ausstanden und begann mit seinem Schnabel an dem Federbett seines Hinterteils herumzupicken.
„Ist das nicht süß?“, sagte ihre Freundin, auch Vietnamesin.
„Oja! Oja! Oja!“ Sie war ganz entzückt. Die Freundin, deren deutscher Mann bald starb, erinnerte sich an diese Entzückung ihrer Landsmännin und da sie wieder in ihre Heimat zurückzuziehen beabsichtigte - was wollte sie hier in diesem Land ohne einem originären Landsmann? – schenkte sie ihr den Vogel.
Die Beschenkte fand an ihm derartig großen Gefallen, dass sie sich einen zweiten zulegte. Leider war es statt einem ordentlichem Pärchen ein gleichgeschlechtliches - das ging nicht, aber das zweite Männchen, wie das bei den aktuellen Geschäftsgebaren üblich war, ließ sich nicht zurückgeben und wurde auch nicht zurückgenommen– das lohnte nicht für das Geschäft, Tierliebe hin oder her. Würde sie den Zweiten frei lassen, ginge der sub- und tropische Kanarienvogel an den harschen kontinentalen Klimaverhältnissen hierzulande elendiglich und jämmerlich zu Grunde - also verschenken. Nur an wem? Dem gierigen Geschäftsmann gönnte sie den Vogel nicht, er würde ihn nur wieder verkaufen. Im näherer Verwand-, Bekannt- und Freundschaftskreis existierte kein Abnehmer. Was tun?
Inzwischen löste sich das Problem von selbst, denn ein Männchen hatte dem anderen die Augen ausgepickt. Man musste das Leben, wie sagen die hierzulande immer, im besten Licht betrachten, positiv sehen und denken. Also war jetzt der Weg frei für ein schmuckes Weibchen. Sie surfte, suchte danach, so violett-blaue gefielen ihr besonders, aber leider deckte sich die virtuelle Welt nicht mit der realen. So suchte sie weiter, bei Vogelzüchtern, bei Vogelzucht-Veranstaltungen, Ausstellungen, sie war ganz vernarrt in exotische Vögel. Sie hörte sich so gerne deren Pipmatz-Gesang, für andere Pipmatz-Geschrei an, nahm sie auf Handy auf, spielte es überall, selbst in ihrer Arbeit jedem, der mit ihr ein Wort wechselte, ab. Es machte sie diese ihre Vögel etwas froh, lenkte sie ab von der Langeweile und Enge des fränkischen Dorflebens, der ländlichen Provinz, sicherlich hätte sie sich über ein Buch beugen können, endlich einmal ihre Deutschkenntnisse versuchen zu verbessern, aber ohne Lehrer, allein vor einem toten Buch - das war zu langweilig. Abwechslung verschafften ihr einzig noch die Kinder, gewiss auch anstrengend, aber letztlich das einzige, was in ihrem Leb en sie gut gemacht hatte, Kinder zu gebären und auf die Welt zu bringen, das, was ihr so sehr Freude bereitete, gleichviel wie Mühe, aber wofür lebte man schließlich, sie wie die Mehrheit der Menschen: für die Nachkommenschaft, sprich Familie. Übrigens die Vögel machten das auch. Sie legten bunte, kleine Eicherchen, die sie bald ausbrüten würden. Welch eine Freude, wenn es bald soweit sein würde, dass sie Kinderchen, Nachwusch, kleine gerade erste geborene Lebewesen bekommen würde, helfen füttern, ernähren und pflegen und ihr eigen nennen dürfte. Fast wie wenn sie wieder eine Familie hätte.
Und sie freute sich schon auf den nächsten Vogel, die nächsten Käfige hatte sie sich schon besorgt und diesesmal würde es kein Kanarienvogel, sondern ein Wellensittich sein, der diese Vogelbauer bewohnte, aber keine Angst, sagte sie zu ihrem Mann, der, wenn er einmal in ihren Wohnbereich eindrang, vor dem Gekreisch noch verrückter wurde als er ohnehin schon war, Papageien mochte sie nicht, waren ihr zu groß und korpulent, aber gerade diese kleinen, bunten, quirligen Pipmatze hatten ihren weiblichen Mutterinstinkt geweckt.
Migrantin V
Und Misshelligkeiten
Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.
Sie konnte mit ihrem Freund auch nicht mehr im Fahrzeug durch die Gegend kutschieren. Würde sie bei überhöhter Geschwindigkeit geblitzt werden, was keiner ausschließen kann, käme eine Gebührenanzeige mit einer Fotographie von ihr und ihrem Beifahrer ins Haus geflattert. Woher sie das wusste? Schon einmal geschehen, als sie zu schnell fuhr. Glücklicherweise saß sie aber nur alleine am Steuer.
Ihre Adresse gab sie nicht preis, nicht ihrem Freund. Sie würde vielleicht unerwünscht Post ins Haus geschickt bekommen. Gerne gab sie, stellte ihre Fähigkeiten zur Verfügung, so zum Beispiel stopfte, flickte und nähte sie im Handumdrehen Handschuhe, Unterwäsche, Gummistrapse von Unterhosen, aber nur vor Ort. Dies zugeschickt zu bekommen, weil der Freund gerade nicht alle zu nähenden Dinge zur Hand hatte, verbot sie.
Fotographien, die ein Besuch einer Cousine aus dem Ausland machte, auf der sie mit ihrem Freund abgebildet war, verbot sie gleichfalls, ihm zuzuschicken. „Die Aufnahmen sind zu schlecht geworden.“
Die Tatsache, einen Freund zu haben, musste wie immer nur möglich kaschiert und verborgen werden. So fuhr sie über Weihnachten, Neujahr, als ihr alles zu viel wurde, kurzerhand zu ihrer Cousine ins Ausland, allerdings ohne ihren Freund. Sie schämte sich wohl davor, dass es alle wussten, sei habe einen Freund und sei keine treue, verlässliche Ehefrau. So wurde auch eine ins Auge gefasste, zumindest darüber gesprochene Reise in ihr Heimatland mit ihm, unmöglich. Was sollte sie ihrer Familie erzählen, wenn sie mit einem Fremden kam und nicht mit ihrem Ehemann?
Ihr Ehemann indessen tat so, als kümmerte ihn dies alles nicht. Er tat so, als glaubte er ihr, wenn sie erzählte, sie würde mit einer Reisegruppe ins Ausland auf ein paar Tage Erholungsurlaub fahren und stattdessen mit ihrem Freund wegfuhr. Oder sie würde ihre Tochter in der 100 Kilometer entfernten Großstadt besuchen, dort ein paar Tage übernachten. Er fragte nicht nach. Besuche aus dem Ausland, von ihrer Cousine zum Beispiel, interessierten ihn nicht, weil er etwas gegen Ausländer hatte. Auch wenn ihre Cousine eine Vietnamesin wie sie war, so war doch deren Ehemann ein Ausländer.
Sie hatte auch eine paar Freunde in der Hauptstadt ihres neuen Landes, in Berlin, aber mit ihrem Freund dort ein paar Tage zu übernachten, kam aus den gleichen Gründen nicht in Frage.
Als diesen kennenlernte, hatte sie ihn eindringlich gefragt, ob er eine Freundin habe. Da dieser keine vorgab zu haben, erbot sie sich, ihm eine zu vermitteln, eine Schwester käme zum Beispiel in Frage. Da jedoch diese kein bisschen Deutsch sprach, auch kein Englisch, erschien es ihr aussichtslos zu vermitteln. Also nahm sie ihn zum Freund, zumindest einmal verreiste sie mit ihm, der oft ins Ausland zu einem Kurzurlaub fuhr. Sie schloss sich ihm kurzerhand an. Als er mit ihr schlafen wollte, sagte sie nicht nein und gab sich pass erstaunt, dass er dies beabsichtigte. Es lag für ihn nahe, weil sie gemeinsam ein Hotelzimmer gebucht und genommen hatten. „Willst Du mich ficken!“, hatte sie klagend gefragt. Aber es geschah. Es gestaltete sich sehr schmerzhaft, da sie unten sehr ng war, hatte sie doch seit Jahren keinen Verkehr mehr gehabt. Sie weinte danach, als er sie genommen hatte, vielleicht aus Schmerz, vielleicht aus dem Grund des Ehebruchs. Möglicherweise hatte es sie sich nicht eingestanden, dass es dazu kommen könnte, aber es geschah und sie fühlte sich elend danach. Weinen befreite.
Dabei war der Verkehr gefährlich, eine nicht beabsichtigte Befruchtung konnte passieren, was ein Perspektive eröffnete, die sie die Sicherheit einer verheirateten Ehefrau kosten würde und ihr Freund hatte nicht einmal eine Festanstellung. Sie selbst war zwar von einer Leiharbeiterin bei einer Firma fest übernommen worden, aber nur befristet. Der befristete Arbeitsvertrag wurde zwar jedes Mal verlängert, weil sie gut und schnell arbeitete, aber nur immer fristweise, von einem Vertrag von sechs Monaten zu einem Jahr, dann – man würde sehen. Wenn man aber nicht in ein normales Arbeitsverhältnis mit Kündigungsschutz und allen Rechten eines normalen Arbeitnehmers eingebettet war, drohte Unsicherheit, materieller Abstieg und Verlust eines regelmäßigen Lebensrhythmus. Nur ihr Mann konnte sie in einem solchen Fall auffangen, er war für sie verantwortlich per Gesetz, war verpflichtet, ihr einen notwendigen Lebensunterhalt zu gewähren. Er gab zwar nichts von seinem Einkommen, seiner guten Rente ab, ja drängte sie, wenn sie sich krank fühlte oder überfordert durch Stress auf der Arbeitsstelle, vehement dazu, in den Betrieb zu gehen und ihrer Verpflichtung nachzukommen. Er hatte ja selbst zu tun, mit seinem Einkommen über die Runden zu gelangen, bei seinem erhöhten und exorbitanten Rauch-, Trink- und Wettkonsum. Nicht selten lieh er sich von ihr Geld bis zum Zwanzigsten, weil er mit seinem Geld nicht bis zum Monatsende zu Potte kam. Nach Hause, nach Vietnam schicken konnte er sie zwar auch nicht, dagegen wehrte sie sich vehement, appellierte häufig an sein Versprechen, seine Nachrichten, „ohne sie nicht mehr leben zu können“ und „sie immer lieben zu würden“, aber recht wäre es ihm schon mittlerweile. Er fühlte sich ja von ihr links liegen gelassen und vernachlässigt mit seinem nicht heilen wollendem Loch im Bein, das er sich bei einer freiwilligen ehrenamtlichen Tätigkeit im Freiwilligen Feuerwehrhaus zugezogen hatte, sie mied ihn geradezu, vor allem näheren körperlichen Kontakt, wobei er merkte, wie sie angewidert die Nase verzog, als ob er stänke wie die Pest. Vielleicht tat er dies auch, aber er brachte es nicht auf die Reihe, regelmäßig sich selbst zu waschen und körperlicher Hygiene zu genügen mit seiner schwächenden Nikotin- und Alkoholsucht. Außerdem, sie war doch seine Frau, sie war verpflichtet, sich in Not und Krankheit um ihn zu kümmern! Er war sehr ärgerlich, sauer und erbost, nur gut, dass es die zwei Töchter gab, die ihn respektierten und Ehrfurcht vor ihm hatten und die er gerne mit diversen Geschenken überhäufte, Smart-Phones, Stereoanlage, neuem Bett und all das, was er seiner Frau nicht gewillt war zu geben. Die Kinder, obwohl nicht seine eigenen, bildeten den Kitt, der sie verband und die ihm in seinen späten Lebensjahren Perspektive, Befriedung und wohltuende Verantwortung vermittelten. Seinem Sohn gegenüber empfand er sowieso nichts mehr, war letztlich von ihm abhängig, hatte dieser das Haus gekauft, übernommen und auf sich übertragen lassen. Gegenüber dem empfand er nur ein beschämendes Abhängigkeitsverhältnis. Aber die Töchter seiner Frau, ja! Die gaben ihm etwas, viel, für die konnte er in seiner oft sich bewusst seienden Beschränkung noch etwas bewirken, bezwecken, geben und helfen, wunderbar!
Jederzeit konnte sie die Verbindung zu ihrem Freund kappen. Er wusste nicht, wo sie wohnte, sie hatten nur Kontakt über das Telefon und E-Mail. Eines Tages, sie wollte allein sein, auf Nummer sicher gehen, besorgte sie sich einen neune Telefonanschluß´und löste ihre E-Mailadresse auf. Jetzt lag es nur noch an ihr, mit diesem je wieder Verbindung aufzunehmen. Mal sehen.
Roman weiter und zuende zu lesen unter E-Book
https://www.buecher.de/artikel/ebook/di ... /63948089/
Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.
Sie konnte mit ihrem Freund auch nicht mehr im Fahrzeug durch die Gegend kutschieren. Würde sie bei überhöhter Geschwindigkeit geblitzt werden, was keiner ausschließen kann, käme eine Gebührenanzeige mit einer Fotographie von ihr und ihrem Beifahrer ins Haus geflattert. Woher sie das wusste? Schon einmal geschehen, als sie zu schnell fuhr. Glücklicherweise saß sie aber nur alleine am Steuer.
Ihre Adresse gab sie nicht preis, nicht ihrem Freund. Sie würde vielleicht unerwünscht Post ins Haus geschickt bekommen. Gerne gab sie, stellte ihre Fähigkeiten zur Verfügung, so zum Beispiel stopfte, flickte und nähte sie im Handumdrehen Handschuhe, Unterwäsche, Gummistrapse von Unterhosen, aber nur vor Ort. Dies zugeschickt zu bekommen, weil der Freund gerade nicht alle zu nähenden Dinge zur Hand hatte, verbot sie.
Fotographien, die ein Besuch einer Cousine aus dem Ausland machte, auf der sie mit ihrem Freund abgebildet war, verbot sie gleichfalls, ihm zuzuschicken. „Die Aufnahmen sind zu schlecht geworden.“
Die Tatsache, einen Freund zu haben, musste wie immer nur möglich kaschiert und verborgen werden. So fuhr sie über Weihnachten, Neujahr, als ihr alles zu viel wurde, kurzerhand zu ihrer Cousine ins Ausland, allerdings ohne ihren Freund. Sie schämte sich wohl davor, dass es alle wussten, sei habe einen Freund und sei keine treue, verlässliche Ehefrau. So wurde auch eine ins Auge gefasste, zumindest darüber gesprochene Reise in ihr Heimatland mit ihm, unmöglich. Was sollte sie ihrer Familie erzählen, wenn sie mit einem Fremden kam und nicht mit ihrem Ehemann?
Ihr Ehemann indessen tat so, als kümmerte ihn dies alles nicht. Er tat so, als glaubte er ihr, wenn sie erzählte, sie würde mit einer Reisegruppe ins Ausland auf ein paar Tage Erholungsurlaub fahren und stattdessen mit ihrem Freund wegfuhr. Oder sie würde ihre Tochter in der 100 Kilometer entfernten Großstadt besuchen, dort ein paar Tage übernachten. Er fragte nicht nach. Besuche aus dem Ausland, von ihrer Cousine zum Beispiel, interessierten ihn nicht, weil er etwas gegen Ausländer hatte. Auch wenn ihre Cousine eine Vietnamesin wie sie war, so war doch deren Ehemann ein Ausländer.
Sie hatte auch eine paar Freunde in der Hauptstadt ihres neuen Landes, in Berlin, aber mit ihrem Freund dort ein paar Tage zu übernachten, kam aus den gleichen Gründen nicht in Frage.
Als diesen kennenlernte, hatte sie ihn eindringlich gefragt, ob er eine Freundin habe. Da dieser keine vorgab zu haben, erbot sie sich, ihm eine zu vermitteln, eine Schwester käme zum Beispiel in Frage. Da jedoch diese kein bisschen Deutsch sprach, auch kein Englisch, erschien es ihr aussichtslos zu vermitteln. Also nahm sie ihn zum Freund, zumindest einmal verreiste sie mit ihm, der oft ins Ausland zu einem Kurzurlaub fuhr. Sie schloss sich ihm kurzerhand an. Als er mit ihr schlafen wollte, sagte sie nicht nein und gab sich pass erstaunt, dass er dies beabsichtigte. Es lag für ihn nahe, weil sie gemeinsam ein Hotelzimmer gebucht und genommen hatten. „Willst Du mich ficken!“, hatte sie klagend gefragt. Aber es geschah. Es gestaltete sich sehr schmerzhaft, da sie unten sehr ng war, hatte sie doch seit Jahren keinen Verkehr mehr gehabt. Sie weinte danach, als er sie genommen hatte, vielleicht aus Schmerz, vielleicht aus dem Grund des Ehebruchs. Möglicherweise hatte es sie sich nicht eingestanden, dass es dazu kommen könnte, aber es geschah und sie fühlte sich elend danach. Weinen befreite.
Dabei war der Verkehr gefährlich, eine nicht beabsichtigte Befruchtung konnte passieren, was ein Perspektive eröffnete, die sie die Sicherheit einer verheirateten Ehefrau kosten würde und ihr Freund hatte nicht einmal eine Festanstellung. Sie selbst war zwar von einer Leiharbeiterin bei einer Firma fest übernommen worden, aber nur befristet. Der befristete Arbeitsvertrag wurde zwar jedes Mal verlängert, weil sie gut und schnell arbeitete, aber nur immer fristweise, von einem Vertrag von sechs Monaten zu einem Jahr, dann – man würde sehen. Wenn man aber nicht in ein normales Arbeitsverhältnis mit Kündigungsschutz und allen Rechten eines normalen Arbeitnehmers eingebettet war, drohte Unsicherheit, materieller Abstieg und Verlust eines regelmäßigen Lebensrhythmus. Nur ihr Mann konnte sie in einem solchen Fall auffangen, er war für sie verantwortlich per Gesetz, war verpflichtet, ihr einen notwendigen Lebensunterhalt zu gewähren. Er gab zwar nichts von seinem Einkommen, seiner guten Rente ab, ja drängte sie, wenn sie sich krank fühlte oder überfordert durch Stress auf der Arbeitsstelle, vehement dazu, in den Betrieb zu gehen und ihrer Verpflichtung nachzukommen. Er hatte ja selbst zu tun, mit seinem Einkommen über die Runden zu gelangen, bei seinem erhöhten und exorbitanten Rauch-, Trink- und Wettkonsum. Nicht selten lieh er sich von ihr Geld bis zum Zwanzigsten, weil er mit seinem Geld nicht bis zum Monatsende zu Potte kam. Nach Hause, nach Vietnam schicken konnte er sie zwar auch nicht, dagegen wehrte sie sich vehement, appellierte häufig an sein Versprechen, seine Nachrichten, „ohne sie nicht mehr leben zu können“ und „sie immer lieben zu würden“, aber recht wäre es ihm schon mittlerweile. Er fühlte sich ja von ihr links liegen gelassen und vernachlässigt mit seinem nicht heilen wollendem Loch im Bein, das er sich bei einer freiwilligen ehrenamtlichen Tätigkeit im Freiwilligen Feuerwehrhaus zugezogen hatte, sie mied ihn geradezu, vor allem näheren körperlichen Kontakt, wobei er merkte, wie sie angewidert die Nase verzog, als ob er stänke wie die Pest. Vielleicht tat er dies auch, aber er brachte es nicht auf die Reihe, regelmäßig sich selbst zu waschen und körperlicher Hygiene zu genügen mit seiner schwächenden Nikotin- und Alkoholsucht. Außerdem, sie war doch seine Frau, sie war verpflichtet, sich in Not und Krankheit um ihn zu kümmern! Er war sehr ärgerlich, sauer und erbost, nur gut, dass es die zwei Töchter gab, die ihn respektierten und Ehrfurcht vor ihm hatten und die er gerne mit diversen Geschenken überhäufte, Smart-Phones, Stereoanlage, neuem Bett und all das, was er seiner Frau nicht gewillt war zu geben. Die Kinder, obwohl nicht seine eigenen, bildeten den Kitt, der sie verband und die ihm in seinen späten Lebensjahren Perspektive, Befriedung und wohltuende Verantwortung vermittelten. Seinem Sohn gegenüber empfand er sowieso nichts mehr, war letztlich von ihm abhängig, hatte dieser das Haus gekauft, übernommen und auf sich übertragen lassen. Gegenüber dem empfand er nur ein beschämendes Abhängigkeitsverhältnis. Aber die Töchter seiner Frau, ja! Die gaben ihm etwas, viel, für die konnte er in seiner oft sich bewusst seienden Beschränkung noch etwas bewirken, bezwecken, geben und helfen, wunderbar!
Jederzeit konnte sie die Verbindung zu ihrem Freund kappen. Er wusste nicht, wo sie wohnte, sie hatten nur Kontakt über das Telefon und E-Mail. Eines Tages, sie wollte allein sein, auf Nummer sicher gehen, besorgte sie sich einen neune Telefonanschluß´und löste ihre E-Mailadresse auf. Jetzt lag es nur noch an ihr, mit diesem je wieder Verbindung aufzunehmen. Mal sehen.
Roman weiter und zuende zu lesen unter E-Book
https://www.buecher.de/artikel/ebook/di ... /63948089/
Wer ist online?
Mitglieder in diesem Forum: Bing [Bot] und 5 Gäste