Der Kampf des kleinen Mannes gegen die Bürokratie

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seraphimo
Kerberos
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Der Kampf des kleinen Mannes gegen die Bürokratie

Beitragvon seraphimo » 25.11.2009, 19:24

Der Fahrstuhl – wenn man ihn denn so nennen mochte, es war eigentlich eher ein Fallstuhl – polterte mit der vollen Kraft der Erdanziehung abwärts. Abwärts trug er den kleinen Mann, dessen Gedanken fortwährend um das Papier kreisten, das er zwischen den Fingern knitterte. Abseitig beschieden, hieß es dort. Abseitig beschieden. Heute morgen durch den Behördenkurier. Nun zirkelte er in einer entrüsteten Spirale in die Tiefe, seinem Ziel und seiner Laune entgegen. Denn er war wütend, hatte sich wohl lange geduckt, doch einmal war genug, quoll das Faß über. Er drängte nach dem Schuldigen an all dem Ungemach, dem Monster, der Bürokratie.
„Hallo“, meldete sich das Mädchen zu seiner Seite. „Kennen wir uns denn nicht?“ Er war unschlüssig. Im Zerrbild der vibrierenden Aluminiumverkleidung sah sie zwar aus wie ein Monster, doch wer nicht? War auch sie abseitig beschieden? Das war kein Spaß. Ein solches Urteil konnte ganz leicht das Ende der Karriere bedeuten. Dem kleinen Mann war das nur allzu sehr bewusst. Karriereende mit 18 Buchstaben: Abseitig beschieden.
Scheinbar erkannte das Mädchen die aufgewühlte Seele unter seiner maskenhaften Fasade. Womöglich könne sie helfen, erklärte sie, schließlich sei sie die Muse der Geschädigten. Tatsächlich war sie recht hübsch, musenhaft, zumindest in der Vorstellung, die er aus den Augenwinkeln heraus gewonnen hatte. Durchgeknallt vielleicht, aber hübsch.
„Weißt du, worauf du dich einlässt?“, forschte die Muse. Er verneinte, denn wer kannte schon die Bürokratie. Sie sei ein siebenköpfiger Drache, belehrte die Muse, der alles, aber auch wirklich alles zu verschlingen vermag. Doch damit nicht genug, denn auf dem Weg zu ihr müssten erst noch viele ihrer Schergen überwunden werden.
„Mit denen werden wir kämpfen.“ Aus ihrem knappen Kleidchen zog sie zwei hölzernen Stempel. Einen davon drückte sie dem kleinen Mann in die Hand. Das Wort „erledigt“ zeichnete sich dort in Spiegelschrift ab.
Schon prallte der Fahrstuhl auf Grund, die Kabinentür flog auf und spuckte sie aus in ein düsteres Gewölbe. Mann samt Muse rappelten sich auf, sahen sich um. Berge von Papier türmten sich hier. Es war die erste Amtsstube der Behörde, die Höhle der Ablehnung.
„Die müssen wir alle erledigen.“ Sogleich stürzte sich die Muse auf den ersten der gewaltigen Stapel, der kleine Mann ihr nach. Das Blattwerk wehrte sich, schnitt mit scharfen Kanten blutende Wunden. Im Rascheln der wirbelnden Papiere drangen Worte an sein Ohr. „Versager”, flüsterte es. „Verlierer.” „Niemals”, von einer anderen Seite. „Du nicht, nicht du.”
Doch der kleine Mann war entschlossen, drückte den Stempel ein ums andere Mal nieder. Und kaum war das Wort „erledigt” auf ein Formular gepresst, löste es sich auf. So wurden sie nach und nach der weißen Flut Herr.
Die nächste Amtsstube glich einer antiken Therme. Kaum einer hätte derartige Schönheit in weißem Marmor so tief vergraben vermutet. Erschöpft ließen sich Mann und Muse an den Stufen des großen Beckens nieder. Abseits tollten hübsche Mädchen zwischen den Säulen ohne tragende Funktion. Eine Weile lang starrten sie den schlanken Körper nach, dann erklärte die Muse mit einiger Geringschätzung, dass dies der Pool der Sekretärinnen sei, eine Bande hohler Grazien, die nichts zu sagen hätten. Und tatsächlich: Bei genauem Hinsehen erkannte der kleine Mann, dass sich ihre Lippen zwar bewegten, jedoch keinen Ton hervor brachten.
„Woran das wohl liegen mag.“
„Weil sie hohl sind.“ Die Muse winkte ein besonders hübsches Exemplar herbei. „Total hohl“, bekräftigte sie, und schnitt auch schon mit dem Skalpell chirurgisch gekonnt den Bauch der Wortlosen auf. Deren verblüfften Gesichtsausdruck folgte nichts als heiße Luft, während der Körper gleich einem schlaffen Ballon zusammen schnurrte. „Ach, und was sie ganz besonders hassen, sind Klugscheißer, die ihnen zeigen, wie sie wirklich sind.“
Schon rotteten sich die Schönen zusammen und marschierten drohend auf sie los. Im Wasserspiegel der Therme erkannte der kleine Mann, wie wenig hübsch sie waren. Nur Monster und Zerrbilder. Er griff den Stempel, der mittlerweile zu einem langen Dolch mutiert war, und stürzte ins Getümmel. Ein um die andere Hülle fiel, und nach einer Weile war auch dieser Kampf überstanden.
Wie würde die Bürokratie ohne Sekretärinnen funktionieren, fragte er sich, während sie durch den engen Tunnel stiegen, der sich an die zweite Amtsstube anschloss. Eine endlose Reihe Grabsteine säumte hier ihren Weg. Das also waren die Leichen im Keller, die Opfer der Bürokratie. Und er las: „Lenina Braun. Sie war glücklich, so lange sie lachte.“ Auf einem anderen hieß es: „Mrs Dalloway. Ausgedacht, wie man sich den besten Teil seines Lebens ausdenkt.“ Schon ahnte er seine eigene, leblose Inschrift: „Der kleine Mann. Abseitig beschieden.“
Immer enger wurde der Tunnel. Nun war das Ziel nicht mehr fern. Schließlich zwängten sie sich durch ein winziges Loch, kaum größer als ein Nadelöhr. (Denn eher findet ein Kamel Eingang in das bürokratische Innerste, als ein Geschädigter samt Muse.) Auf der anderen Seite erwartete sie die letzte Amtsstube, das Erlassenschaftsregister. Und dort, in der hintersten Ecke, zusammengerollt auf Unmengen neuerlicher Formulare lag der siebenköpfige Drache, die Bürokratie. Und wie so oft: Sie schlief.
Mann und Muse schauten sich verdutzt an, unsicher, was nun zu tun sei. All die Strapazen für ein abgetakeltes, altes Tattermonster.
„Die Bürokratie kann man nur mit Humor besiegen“, sprach da die Muse. Fluchs setzte sie sich eine rote Pappnase auf und pfiff die Polonaise, während dessen sie wiederholt auf einer Bananenschale ausglitt. Das ließ den Drachen aufmerken. Ungehalten ob der Störung reckte er die Köpfe. Der kleine Mann aber erkannte nun seine Chance, und begann, die vielen Hälse zu kitzeln, so lange, bis das Ungetüm Feuer spie, ein ums andere Mal, und mit einem der Feuerstöße löste sich der abseitige Bescheid schließlich in Rauch auf, und vor lauter Ärger auch gleich noch das ganz Ungeheuer.
So hatte der kleine Mann mit Mut und Muse den Sieg errungen. Die Muse aber gab ihm einen Kuss, dann noch einen, und dann noch ganz anderes. Aber das ist wieder eine neue Geschichte, die nichts mehr mit dem Kampf des kleinen Mannes gegen die Bürokratie zu tun hat.

Glaukos
Pegasos
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Re: Der Kampf des kleinen Mannes gegen die Bürokratie

Beitragvon Glaukos » 26.11.2009, 01:44

schön!
endlich mal eine geschichte, bei der ich nichts zu meckern finde; ich glaube, das ist ein novum ;)

seraphimo
Kerberos
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Re: Der Kampf des kleinen Mannes gegen die Bürokratie

Beitragvon seraphimo » 29.11.2009, 11:28

wow, danke fuers feedback.
tut gut, gelegentlich eine kleine aufmunterung zu bekommen.
letztlich schreibt man doch immer ziemlich... isoliert.
gruesse, sera...

Tintolino
Medusa
Beiträge: 28
Registriert: 05.01.2010, 12:32

Re: Der Kampf des kleinen Mannes gegen die Bürokratie

Beitragvon Tintolino » 09.01.2010, 13:20

Die Geschichte gefällt mir. Traumhaft - leicht, etwas kafkaesk, aber ohne die Bedrückung, humorvoll.

LG
Tintolino


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