A. Samstag Abend
1. Plötzlich ist alles anders ...
Rote Blitze wie Supernova flammten im schwarzen Nichts auf – in einem Kopf, der hingebungsvoll und entspannt mit geschlossenen Augen auf der Sitzstütze seines Mercedes-Benz-Cabriolet ruhte.
"Kree..."
Moment. Ein merkwürdiger Laut. Das war kein Schwatzen, das die lutschende Frau neben ihn verursachte. Aber auch so etwas von egal, total egal.
Jetzt auch strich ein Luftzug über ihn und er öffnete für einen Moment seine Augenlider und sah das Verdeck des Cabrios über ihn sich öffnen. Einer der beiden musste gegen den Hebel in der Mittelkonsole gestoßen sein. Aber egal, egal.
Außerdem konnte er jetzt ohnehin nichts tun, denn so lange das Faltdach nicht am Hecj ganz in Falten zusammengeschrumpft war, war er machtlos. Egal, in welcher Lage auch immer er und seine Beifahrerin sich befanden, mit Gaffern war jetzt am Abend nicht zu rechnen. Also erneut Augen zu und den Farbenrausch, das Wabern des Hintergrunds und die Lust in vollen Zügen auskosten.
Das tat er so lange, bis er Lautfetzen von Stimmen hörte.
„Mensch, das Verdeck geht auf!“
"Um so besser. Damit haben wir die Szene noch besser im Fokus. Das wird ein echt scharfer Porno!“
Allmählich verblassten die explodierenden, buntfarbenen Flecken. Gleichzeitig mit dem Abschwellen der Lust. Das All um ihn herum wurde wieder schwarz. In der Ferne blinkte allerdings ein rotes Licht. Ein sterbender Stern in seinen letzten Zuckungen?
„Vielleicht können wir den Film als Porno ins Internet stellen! Gegen Geld, verstehst!"
"Geh näher ran Mann!“
"Mach ich, mach ich schon!"
Schlagartig öffnete er die Augen und starrte in einen rot-blinkenden Lichtpunkt.
„He, nicht aufhören, Mann! Action!“ Ein dreckiges, lautes Lachen.
Er begriff, sie wurden gefilmt, mit einem Camcorder, schon lange, obwohl sie sich doch, er und seine Partnerin, unbeobachtet fühlten und schamlos wie in einem Schlafzimmer verhalten hatten. Ihm blieb keine Zeit mehr, Scham zu empfinden. Der Vorrang riss und Angst schlug heftig zu.
Er stößt die Frau abrupt von sich und hebt schnell den Schoss, um seinen Reißverschluss zu schließen. Auch sie hat jetzt die Umstände erfasst und blickt benommen um sich. Aber geistesgegenwärtig genug ergreift sie ein Papiertaschentuch und reibt sich damit den schmierigen Schleim vom Mund.
Der Kameramann filmt und filmt, lacht dabei freudig, verdreht seinen Kopf immer wieder nach hinten, wo jemand stehen musste und über seine Schultern sieht. Aus dem Schatten tritt schließlich ein bulliger, korpulenter, dunkler Mann. Er fixiert ungerührt den Set und die Szene.
Dem schlaksigen Blonden hängt eine Zigarette schief aus dem Mundwinkel, an der er wie ein kleines Baby nuckelt. Der andere mahlt mit seinen Zähnen wie die Kuh saftiges Gras, weil er einen Kaugummi kaut.
Sie befanden sich auf einem Parkplatz des Bezirkskrankenhauses. Dem Fahrer, der als Arzt und die Beifahrerin, die dort als Krankenschwester tätig waren, war bekannt, dass in diesem eine berüchtigte Abteilung für „Drogenentzug und Rehabilitation" war.
Was bedeutete das angesichts dieser verwegenen Typen, die sie hier belästigten?
Zeichneten sie einen Video live auf, welches sich gerade Hunderte von Personen irgendwo oder noch schlimmer nahebei auf einer Station des Bezirkskrankenhauses ansahen? Man musste sich vorstellen, wie sich eine Meute kranker Hirne auf der Abteilung für psychisch Kranken dabei vehement auf die Schenkeln schlugen und mit verzückten Finger auf eine überdimensionale Bildfläche zeigten und schrien: „Sehr Euch mal die beiden an, wie sie es treiben.“
Weniger schlimm wäre es, wenn diese beiden Personen gerade Ausgang hatten und zufällig auf sie gestoßen wären. Damit würde, was sie gerade im Coupe getan hatten, nur diesen beiden bekannt. Vorläufig!
Waren sie aber ausgebüxt? Was bedeutete dies aber?
Vielleicht hatten sie gerade einen Drogensuchtentzug abgebrochen. So etwas geschah öfter mal, dass Abhängige es sich anders überlegten oder den Druck nicht standhalten konnten.
Nicht weniger häufig bekamen Abhängige Panik, bevor sie definitiv untergebracht wurden. Sie flohen oder gingen stiften, weil sie der Suchtdruck dazu zwang. Oft erfüllten sich diese Süchtigen, bevor sie sich in die trockene Wüste einer monatelange Therapie begaben, den letzten Wunsch und betranken sich bis zu Besinnungslosigkeit.
Dabei musste ´die Zivilbevölkerung mit dem Schlimmsten rechnen. Besonders Junkies konnten unter Suchtdruck ziemlich rücksichtslos und rüde werden, um an ein bisschen Betäubungsmittel zu kommen. Einbrüche in Kioske, in Fahrzeuge und Privatwohnungen waren das Übliche. Fühlten sie sich in die Enge getrieben, dann wehrten sie sich mit eckigen Ellenbogen, spitzen Schuhen und geballten Fäusten.
Geschichten darüber waren genug im Umlauf.
Würde es sich aber gar um Psychopathen, gefasste Sexualstraftäter oder Amokläufer handeln, die entkommen waren, war es nicht auszudenken. Wie entkam man getriebenen Kriminellen, sadistischen Quälern und sonstigen Bestien schließlich?
Zumal wenn sie zwei Personen nackt, beim sexuellen Verkehr antrafen? Sie wurden doch dadurch nur angestachelt, ihre Triebe geweckt, verführt dazu, die Chance zu nutzen – was gab es nicht für Tausend Möglichkeiten?
Es war nicht auszudenken.
Der Arzt fühlte sich hilflos, machtlos und ausgesetzt, dass er sich unwillkürlich an etwas festhalten wollte, was ihm lieb und teuer war. Er griff an seine ausgebeulte, vordere Jeanstasche.
Das hätte er nicht tun sollen! Aber die Panik halt!
Und schon schnüffelte einer der Ganoven wie im Reflex, als, als röche er Kokain oder sonst etwas Anrüchiges. Er spürte, dass hier etwas nicht stimmte und wurde in Unruhe versetzt. Sein Augenlider flatterten jetzt auch heftig.
Oh, Gott, das hatte er nicht hervorrufen wollen. Das Gegenteil doch!
Doch dieser Mensch war ein gebranntes Kind, spürte sofort, wenn sich etwas im Busch befand und nahm die Unsicherheit anderer Leute war, wie ein Hund Adrenalin. Dazu war er oft genug in Situationen gesteckt, wo jede falsche Bewegung ein Todesurteil gewesen wäre. Der Griff in eine Westen- oder Hosentasche bedeutete das Todesurteil, wenn dort eine Pistole versteckt war.
Der Dunklere trat sofort einen Schritt Richtung Fahrerseite. Ein silbernes, kleines Messerchen pendelte um die Brust, vielleicht auch war es nur der Halbmond, schwer erkennbar in dieser Abenddämmerung. Der Arzt hatte zwar die Hände sofort wieder zurückgezogen, wobei er am Jeansstoff so herum genestelt hatte, als wolle er bloß lästige Fuseln abstreifen, aber zu spät. Diese Gestik wirkte zu verdächtig.
Der Blick des Bullen fiel auf die leicht ausgebeulte Hosentasche.
Der kalte Schauer der Angst erfasste den Fahrer. Perlen bildeten sich auf der Stirn. Die an seiner Stirnseite herunterliefen. Steif und starr wartete er auf die Dinge, die da kommen mochten.
Die ausgebeulte Tasche verbarg ein Bündel Geldscheine. Es handelte sich um die Miete seines schwarz vermieteten Hauses, das er von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte, damit es nicht unter die Erbschaftssteuer fiel. Der Besitzer, ein griechischer Restaurantbetreiber, bezahlte seine Miete monatlich und bar in die Hand.
Nun schien es, als würde der Eigentümer doch noch dafür bezahlen müssen. Die Rechnung würde allerdings teurer als beim Staat ausfallen.
2. Arme wollen auch ihren Anteil...
Die Gauner warfen sich verstohlene Blicke zu.
Etwas war im Busch.
Doch schritten sie nicht sofort zur Tat wie es vielleicht Laien tun würden, weil ihnen die Lage brenzlig erscheint. Sie wogen erst einmal alle Möglichkeiten ab, bevor sie handelten.
Blondy warf seine Zigarette achtlos auf den Boden, stolzierte an der Längsseite des Wagens entlang, fuhr mit dem Finger über die Zierleiste des Verdecks und murmelte: „Nicht schlecht!"
Dann beugte er sich plötzlich über die Kante ins Innere und schnupperte: „Das Leder riecht auch geil!“
Dabei blieb sein Blick an etwas im Inneren des Mercedes-Benz-Caprio hängen.
Seine Augenbrauen kräuselten sich. In der Mitte der Frontscheibe hing ein seltsames Emblem.
Er wandte sich ihm zu, halb über den Schoß des Arztes gebeugt, bis seine Nase ganz nah dran war. Er drehte den Kopf ein wenig, starrte wie eine fixierende Klapperschlange auf den seltsam verzierten Stab, um den sich eine riesige Boa, eine schwarze Mamba oder irgendeine andere Schlange wand.
"Igitt!"
Er zuckte zurück.
„Mit wem haben wir's hier zu tun, he? Zu welcher Sekte gehört du, Mann? Guck dir mal dieses Geheimzeichen an! Der hat es faustdick hinter den Ohren hier, der Mercedes-Fahrer!"
Sein Begleiter brummte missmutig. Anscheinend war er nicht beeindruckt.
"Wir sind keine Sekte. Im Gegenteil, absolut seriös ... Wir, wir schwören, dass wir ...“
„Aha! Hab' ich's nicht gesagt. Eine Verschwörung. Eine Geheimzelle. Ein Templerorden oder so was sehr Gefährliches.“
„Nein, nein, wir sind Ärzte, die so ein Erkennungszeichen haben.“
„Klar, weiß ich schon. Hab' ich gelesen. Der Medicus, die Wanderhure, weiß der Teufel, welchem Geheimbund ihr gehört. Die schwören auch einen Eid. Die Bader zum Beispiel, so hat man die genannt, die schwörten … Verdammt, wie geht dieser Schwur noch mal?“
Offensichtlich hatte er den Spruch der Bader vergessen, so sehr er sich auch bemühte, er wollte ihm nicht in den Sinn kommen.
Er riss sich zusammen, setzte wieder an, verlor erneut den Faden und belferte nun den Arzt an: „Du brauchst mir nichts von deinem Geheimbund erzählen! Du, du!“ Wieder riss der Faden.
Um sich zu retten, wandte er sich an seinen Begleiter: „Da haben wir aber einen dicken Fisch an der Angel, was?“ Dabei ließ den gefährlichen Illuministen oder um wen auch immer es sich handeln mochte keine Sekunde aus den Augen. Sein Tonfall strömte trotz seines Alzheimers Siegesgewissheit und Wissen aus, kein Wunder, schöpfte er doch aus einem profunden Pool von Schundromanen.
Der andere schien klüger zu sein: "Mensch, kapierst du nicht, das ist ein Arzt, ein Doktor, ein Mediziner, ein Weh-Weh-Heiler...“
„Ja-ja, jemand, der sich gerne mit Spinnen, Skorpionen, Echsen, Krokodilen oder Schlangen umgibt, ist Arzt? Das kannst du deiner Oma erzählen, aber nicht mir. Nee, der Typ hier ist gefährlich, sag ich dir. Ein Geheimniskrämer, Heimlichtuer, ein Verschwörer der übelsten Sorte, mein Lieber!“
Bully platzte jetzt der Kragen und schrie: „Mann, was nicht in dein Hirn passt, ist die Realität. Der Mann ist Arzt, kapier das Mal. Die haben seit Jahrtausenden eine Schlange mit Stab als Erkennungszeichen, diese Mediziner. Daher kommt das, Mann!“
„Medizinmänner, ich verstehe. Dann ist das Zeichen so eine Art Totem, wie es die Indianer hatten, mit dem sie ihren Marterpfahl geschmückt haben. Sozusagen ihr Logo, ihr Erkennungszeichen, verstehe.“
„Genau! Endlich hast du's kapiert!“
Etwas verstand er immer noch nicht, denn er grübelte weiter, bis ihm endlich ein Licht aufging: „Ach so! Ich versteh! Von mir aus!"
Ganz überzeugt schien er aber nicht zu sein, denn schon bald hakte er nach: "Der Medizinmann verbirgt auf jeden Fall etwas!"
Die Bewegung, die der Arzt vorhin gemacht hatte, als er in seine Hosentasche gegriffen hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Seine Augen blinzelten auffällig in eine Richtung, die sein Begleiter mitverfolgte. Und Blondy griff plötzlich zur Hosentasche des Arztes. Er spürte auch etwas. Sofort riss er die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt.
„Raus damit!“, befahl er barsch.
Dann ertönte eine freudige, hohe Stimme von Bully, die man ihm gar nicht zugetraut hätte: "Das ist bestimmt ein Bündel Papier, das sind Scheine, Blüten, Moneten sind das." Wie er darauf gekommen war, wussten nur die Götter.
Aber der Arzt schien sich zu sträuben und wollte die Scheine nicht übergeben.
Sofort wurde Blondy Stimme bassig: "Und jetzt Mann, rück die Piepen raus. Aber dalli!“ Dazu machte er eine flache Hand. Nun zögerte der Arzt nicht mehr lange und reichte ihm einen Umschlag.
Durch das Klarsichtsfenster sah man, dass sich darin Geldscheine befanden.
Blondy pfiff durch die Zähne.
„Sieh mal einer an. Euroscheine!“
"Mal schau'n, was Ärzte so verdienen!“, rief der Bulle und nahm ihm den Umschlag weg. Er fühlte sich als der Kompetentere in dieser Sache.
Er machte seine Pranken zu spitzen Fingern und fischte einen braunen Euroschein aus dem geöffneten Kuvert hervor. Der andere, Blondy, warf seine Zigarette auf den Boden, schrie: "Mensch, lass mal sehen!"" und entriss ihm seinerseits den Geldschein, um ihn staunend in die Höhe zu halten: „Was ist das denn für ein wunderbares Ding, he? Wau!“ Mit der anderen Hand kratzte er sich am Kopf.
Ein Tausender flatterte im lauen Abendwind. Unglaublich!
Aber Bully lächelte schon lange nicht mehr, denn Speichel schoss ihm in den Mund und seine feuchte Zunge leckte sich die Lippen. Jetzt wurde es ernst. Ein hungriger Blick fiel auf die milchige Haut der Beifahrerin, die das Band ihres BH-Trägers über der Schulterpartie freilegte. Das Objekt der Begierde bemerkte es natürlich und sie spürte, wie eine eisige, völlig unerklärliche Angst ihr Herz zusammenzog.
Blondy hingegen war von seinem unglaublichen Fund nicht minder beunruhigt, und das zu recht, wie er sogleich mathematisch klarstellte: „Weißt du, wie lange ich dafür Flaschen sammeln muss?“
Sein vernichtender Blick fiel auf den Geldsack, der neben und unter ihm saß.
Langes Schweigen – Nachdenken – Nachrechnen.
"Jahre, Jahre, kann ich dir sagen, Jahre!“, brüllte er plötzlich. Er wedelte mit einem 1000 Euroschein, blickte erneut drohend und durchdringend auf den Arzt herab und verkündete: „Das kommt mir jetzt gerade recht. Nachdem ich ins Krankenhaus eingeliefert wurde und 10 Euro pro Tag zahlen muss. Mann, ja, das habe ich! Trotz Sozialstaat. He, wo bleibt er, wenn man krank ist? Dann zeigt er seine Fratze: Du musst fürs Kranksein bezahlen, he! In unserem verfickten Krankenhaus 10 Euro am Tag!“
Der Chefarzt fühlte sich beschämt, peinlich berührt, weil es stimmte, was der Mann da sagte. Betroffen war er jedoch wegen der geringen Summe. Was sind schon 10 Euro? Bei 10 Tagen Aufenthalt sind das 100 Euro? Ist das so viel?
Armut ist für Reiche immer peinlich. Er wandte seinen Blick zu seiner Partnerin. Diese blickte nur starr und ernst drein. In ihrem entsetzten Gesicht stand die blanke Angst.
Er ärgerte sich über sie. Hatte sie denn außer einem guten Händchen für Sex keine Gefühle? Der Arzt begriff jedenfalls, dass hier an den Pranger gestellt wurde quasi in Vertretung solcher Institutionen wie das Krankenhaus, die nicht davor zurückschreckten, armen kranken Menschen in Ihrer Notlage das letzte Hemd vom Leib zu zerren.
„Na, los Chirurg, sprich. Wie stehst Du dazu?“
„Tja, ich weiß auch nicht!“
„Hört Euch den Chirurgen da an. Sahnt von den Kranken Gelder ab, was das Zeug hält und wenn man ihn darauf anspricht, meint er“ - wobei er den Arzt nachäffte: „Ich weiß auch nicht!“
Er schoss nun unerwartet schnell mit seinem Kopf über den Volant ins Coupé hinein, mit seiner Nase und seiner bedrohlichen Stirn kurz vor dem Kopf des Doktors verharrend. „He, Arzt, warum?“
„Ich, ich bin auch nur ein kleines Rädchen im Getriebe.“
Dem Arzt rollten inzwischen die Schweißperlen von der Stirn.
Blondy zog sich wieder zurück in seine aufrechter Körperhaltung, steckte sich erneut eine Zigarette an und meinte, als wäre er gerade nicht erregt gewesen : „Der ist ganz schön hohl, der Arzt hier!"
"Es fängt schon bei der Einweisung an. Krankenkasse sagt mir zwar die Fahrkosten zu. Ich, also ein Taxi genommen, dem Taxifahrer den Erlaubnisschein von der Krankenkasse gegeben und ab in die Klinik. Nun kommt heute ein Schreiben: Ich muss die Hälfte der Fahrtkosten zahlen. Hatte ich nicht die Zusicherung von der Krankenkasse, dass sie mir den Betrag ersetzen würden? Nein! Mein Budget sei in diesem Monat überschritten gewesen, haben sie gesagt. Ich soll 40 Euro selbst dazu blechen. Warum haben sie mich nicht vorher darüber informiert, hab ich gefragt. Bräuchten sie nicht, haben sie unverfroren gesagt. Das müsse ich schon selber wissen, was meine Rechte und Pflichten sind. Diese Saubande!“
Blondy ballte jetzt dazu die Faust.
Bully nickte weise, wissend und betroffen, aber mit stierem Blick auf lilienweißer Haut der Krankenschwester gerichtet. „Mann, da bist Du nicht allein!“
Was sollte der Arzt dazu schon sagen? Er selbst hatte genug Ärger mit Papierkram. Vielleicht hätte sich der Patient wirklich vorher informieren sollen. Aber solche Leute können kaum lesen, stehen meistens unter was auch immer für einen Druck und leiden sowieso derartig unter Geldnot, dass ihnen selbst ein Telefongespräch mit der zuständigen Behörde zu teuer erscheint. Wenngleich sie ohnehin meist so vertrauensselig sind, dass sie nicht daran denken, sich durch Nachfragen abzusichern. Ganz zu schweigen davon, nicht mit der Beschränktheit der Bürokraten zu rechnen. Dabei pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass Beamte so geizig sind, als müssten sie die zu vergebenden Zuwendungen der öffentlichen Hand aus ihrer Privatschatulle bezahlen.
Der Arzt schüttelt verhalten den Kopf. Beißt sich auf die Lippen. Wagt keine Antwort zu geben.
„Und woher hast Du eigentlich die 5000 Euro, Mann!“
Der Angesprochene weiß, Reden hat keinen Sinn.
Blondy merkt das und schleudert ihm die Antwort ins Gesicht: „Bakschisch, Mann, gib's schon zu! Du hast eine Sonderbehandlung eingelegt, bei einem Geldsack, he! Hast ihm vielleicht ein seltenes Herz, Niere oder Leber verpasst und der hat Dir für die Extrabehandlung diese Schmiere zugesteckt, ist's nicht so?“
Der Arzt rührt keine Wimper. Er spürt die salzigen Schweißperlen, wie sie über seinen Mund rinnen.
„Mir brauchst Du nichts zu erzählen, mir ist klar, was mittlerweile falsch läuft im Staate Dänemark!“
Bully: „Dänemark?“
„Das sagt man halt so!“
„Hä?“
„Man sagt nicht Deutschland, sondern Dänemark. Irgendetwas ist faul im Staate Dänemark, so sagt man! Man sagt nicht: Irgendetwas ist faul im Staate Deutschland.“
„Wieso sagt man Dänemark, wenn wir hier in Deutschland leben, he! Es ist doch etwas in Deutschland faul und nicht in Dänemark, oder? Also muss man sagen: Irgendetwas ist faul im Staate Deutschland, und nicht in Dänemark.“
Er fühlt sich offenbar auf den Arm genommen, denn er macht eine Faust.
„Ist ja egal!“
„Mir aber nicht! Ich lass mich nicht verarschen. Also, warum?“
„Mann, weiß ich auch nicht. Hab's halt irgendwo gehört.“
„Ach so, und du weißt nichts Besseres, als solch einen Blödsinn nachzuplappern!“
„Du hast's erfasst!“
„Für so dumm hätt ich dich aber nicht gehalten!“
„Ja, ich mich auch nicht!“
„Hä!“
„Ist gut, Mann. Von mir aus: Es ist etwas faul im Staate Deutschland! Gut so?“
„Ja, das brauchst aber nicht extra zu betonen. Das weiß ja wohl mittlerweile ein jeder, Mann!“
„Da hast du verdammt recht, Mann!“
„Na also, sag ich doch!“
Und Bully begibt sich wieder in Entspannungsmodus, macht einen tiefen Schluck aus der Aufputsch-Dose und schielt erneut auf den verlockenden Wildfang im Cabrio.
Blondy wendet seine Aufmerksamkeit dem Arzt zu, versucht in seinem Kopf zu lesen, erkannt aber nur dessen Panik im Gesicht. Das ist ja immerhin ein Zeichen, dass die Mauer wacklig und brüchig geworden ist, gegen die er geprescht ist. Befriedigend, aber nicht genug. Er nuckelt an seinem Glimmstängel wie an einem Babylutscher, dann schnellt er mit seinem Kopf wieder vor - nah bis wenige Zentimeter vorm Arztkopf.
„Seitdem wir mit sechzehn in der Scheißmaloche stecken, hat man uns gesagt: Sozialbeiträge fürs Alter entrichten. Hä! Wofür? Für den Sozialstaat. Wo ist er denn jetzt? Wo ist er, wenn man ihn braucht? Dann, wenn man in der Scheiße sitzt? Ans Alter dürfen wir gar nicht denken. Werden es sowieso nicht! Steckst du aber in der Scheiße, dann hilft dir keine Sau. Bezahlen heißt es jetzt wieder. Blechen, dass man krank sein darf, dass man ärztlich versorgt wird, im Krankenhaus behandelt wird und operiert. Da überlegst du dir schon zweimal, ob du dich einweisen lässt oder rechnest nach, ob du dir das überhaupt leisten kannst oder nicht? So sieht's aus!“
Wieder nuckelt er an seiner Zigarette, fischt sich aus seiner Tasche eine Schachtel mit Pillen und wirft sich ein paar ein.
3. So eine Chance kann man sich nicht entgehen lassen ...
Als Bully plötzlich zu Blondy hintrat, senkte er die Stimme. Aber was er zu sagen hatte, hätten gerne auch die anderen hören können. Er blickte ohnehin auf die im Auto, um sie unter Aufsicht zu haben.
„Hör mal. Bei dem Arzt ist mehr zu holen als ein paar lumpige Tausender! Denk nur mal an die Fotos, äh, die Aufnahmen, die wir haben.“
Blondy gab sich Mühe und überlegte, aber kapierte es noch nicht.
„Mann, diese Aufnahmen sind Gold wert. Glaubst du, diese geile Schwanzlutscherin ist die Ehefrau vom Arzt? Wo gibt's das schon, dass Ehepaare in ihren piekfeinen Autos poppen? Dafür haben sie doch ihre Schlafzimmer und lilablassblauen Himmelbetten.“
Blondy dachte und dachte angestrengt mit.
„Wir haben den Arzt beim Ehebruch erwischt. Was glaubst Du , wie sich seine Ehefrau freuen wird, wenn sie davon erfährt? Auf Video vorgespielt bekommt, wie sich ihr Mann einen blasen lässt. Von einer Fremden. In ihren heißgeliebten Familien-Caprio?“
Blondys Gesicht zieht sich gerade beängstigend wie ein Luftballon zusammen. Man merkt, dass ihm das Denken schwerfällt. Wenn er verstehen soll, verzieht er wie jetzt gerne den Mund zu einem breiten Grinsen und nickt dabei so nachdenklich, als würde ihm tatsächlich ein Licht aufgehen. Blondy schaute umsich und signalisierte nur, dass er auf alles gefasst sei. Dabei hatte er nicht den blassesten Schimmer hatte, worauf.
Allenfalls denkt er, egal, was Sache ist, Bully weiß schon, wohin der Hase läuft.
Meistens wenigstens.
Mehr aber nicht.
Bully tritt wieder zum Caprio hin und verkündet wie ein Befehlshaberhh des Militärs.
„Also, als Erstes machen wir unsere Handys aus!“
„Klar!“, sagt Blondy und wiederholt ihn blöderweise: „Handy ausschalten, aber sofort!“ Er findet diesen Ton wohl cool. Was immer geschehen mag, es fängt zunächst Mal geheimnisvoll an, fast wie in einem Spionagekrimi. Dass sein Tonfall ankam, wie wenn ein Beschränkter etwas verkündet, was er gar nicht versteht, stört ihn nicht oder besser merkt er gar nicht.
Eben schwer von Begriff zieht Blondy es öfter vor, einfach zu tun, was von ihm verlangt wird. Dabei imitiert er oft sehr zu dessen Ärger Bullys Verhalten bis aufs i-Tüpfelchen. Dennoch war das meistens in Ordnung. Bully war nun einmal der Gescheitere und wusste meist, was zu tun war. Obwohl Blondy derjenige war, der die großen Reden schwang, war letzterer der weitaus klügere. Er traf auch stets die Entscheidungen.
„Also packen wir es an. Ab zu uns nach Hause alle!“, verkündete Bully und lief zur anderen Seite des Autos, um dort, wo die Frau saß, den Schlag zu öffnen. Blondy öffnete demzufolge den Fahrerschlag des Arztes.
Die beiden Gefangenen verstehen nicht sogleich, was Sache war. So müssen sie erst von Blondy, dann von Bully angebellt werden, schleunigst das Auto zu verlassen, dalli, dalli. Blondy bekommt Gefallen daran. Jetzt hat er es endlich auch kapiert, dass hier gerade eine Geiselnahme in die Gänge kommt.
Mit Drangsalierung? Wer weiß, wer weiß, was noch! War vielversprechend!.
Er grinst schon übers ganze Gesicht.
Diese Erscheinung der Geiselnehmer, düsterer Breitschulter-Typ und debiler Schlankheits-Typ verhieß zweifellos das Schlimmste.
Blondy hat dünne, strähnige Haare, die ihm ungekämmt in Stirn und Gesicht hängen und eine richtig große Tonsur, fast eine Platte - ungewöhnlich für so einen jungen Kerl. Sein wildes Erscheinungsbild ängstigt unwillkürlich, könnte ein derartig ungewöhnlicher Haarausfall dort, wo das dafür zuständige Organ ruht, nicht etwas nicht in Ordnung sein?
Der andere hingegen war so dicht behaart, dass in seinem breiten Dreikantschädel nur Augen und ein wenig Stirn zu sehen waren, abgesehen von der platten Nase mit den zu großen Nasenlöchern. Man konnte aber nicht von einem Dreitagebart ausgehen, er war von Natur aus so. Hinten erkannte man keinen Hals, denn der Schädel ging übergangslos in die Schultern über. Permanente Zuckungen an Oberarmen ließen auf einen überstrapazierten und übertrainierten Fitness-Körper schließen. Er wirkte, als würde er jeden Moment zum Wutausbruch kommen.
Blondy fordert den Arzt als erster auf, auszusteigen und als geschehen, dreht er ihn um und biegt ihm die Hände nach hinten. Dieser schreit schmerzhaft auf. „Damit du spürst, was auf dich zukommen kann, wenn du Muckser machst!“ „Ja, ja, keine Gefahr!“, stammelt der Leidtragende. „Dann ist gut, Doktorchen!“ Trotzdem bindet er ihm mit seinem Gürtel die Hände zu Knebeln.
Bully nimmt sich die Frau vor.
Er öffnet den Verschlag, hilft der Dame jedoch nicht beim Aussteigen, sondern tritt einen Schritt zurück, um sie in ihrer ganzen blühenden Erscheinung besser taxieren zu können. Als sie mit den Beinen voran aus dem Auto steigen will und er noch befiehlt: "Hure, steig aus!", fährt sie erschrocken wieder die Beine zurück, eine Geste, die das Gegenteil dessen ausdrückt, was ihr befohlen worden ist. Grund genug für Bully, nicht lange zu fackeln, auf sie zuzuspringen, sie an den Händen zu packen und aus dem Auto zu zerren.
"Dir werd ich's zeigen!"
Er zerrt sie mit den Armen aus dem Fahrzeug und schleudert sie in die parkplatzbegrenzenden Sträucher. Sie kann von Glück reden, dass sie nicht auf dem kruden Asphaltboden gelandet ist, so dass sie mit Schürfwunden und weniger harten Blessuren davonkommt.
Blondy kümmert sich derweil um das offene Verdeck: "Wo muss man hier drücken?", und fuchtelt erfolgreich an der Konsole herum. Mit den Autoschlüsseln verriegelt er das gute Stück und steckt sie in die Hosentasche.
Bullys Finger umklammern fest das Handgelenk der Schwester und er dreht ihre Hand auf den Rücken bis zur Schulter. „Aua!“ Bully sagt nüchtern: „Das tut ganz schön weh, was!“ Noch bevor die Frau antworten kann, kommt es brüsk: „Los, los, die andere Hand auch.“ Gehorsam streckt sie ihm diese nach hinten. Mit seinem Hosengürtel bindet er ihr ihre Hände fest.
Und schon schubst er die Krankenschwester zum Arzt.
„So, bildet eine Polonaise!“, ruft Blondy aus. Wie befohlen, gruppieren sie sich wie eine Gänsekolonne hintereinander. Damit ist klar, es kann losgehen. Die Frau klammert sich mit ihren Händen an die Schultern des mürrischen Bullen, der voranschreitet, um nach Hause zu gelangen. Dahinter folgt der Mann und am Ende Blondy.
Die unzulängliche Fesselung mit bloßen Hosengürteln zeigt, dass man nicht auf eine Entführung vorbereitet war.
Es geht quer durch den Wald, auf einem Weg, der selbst bei Tageslicht kaum als solcher bezeichnet werden kann. Doch der Bulle findet schlafwandlerisch seinen Weg durch die dichten Bäume. In einer langen Serpentine geht es eine Anhöhe hinunter, mal nach rechts, mal nach links, aber der Bulle findet schlafwandlerisch immer wieder den richtigen Pfad. Plötzlich hält er an. Sie stehen vor einem Bahndamm. Er sitzt zwei Meter erhöht auf einem Bahndamm. Genau in der Mitte dieses Anblicks klafft ein schwarzes Loch.
„Jetzt müssen wir uns die Hände geben, bevor wir in die Hölle fahren! Haha!“
„Los, ihr dummen Gänse. Im Gänsemarsch, los! - Macht euch jetzt ein bisschen kleiner! Und macht euch vor allem nicht in die Hosen. Haha.“ Das ist die letzte Verkündigung, begleitet von einem schaurigen Lachen.
Händereichen, Gänsemarsch und Kleinermachen helfen, denn es ist eng, niedrig und stockdunkel dort drinnen. Man ahnt mehr, als dass man sieht, aber es wird wohl ein kleiner Tunnel sein, der unter den Bahngleisen hindurchführt. Ziemlich unheimlich hier drinnen. Dazu ein penetranter Gestank, der einem den Atem raubt.
„Passt auf, dass ihr nicht auf der Kacke ausrutscht!“
Ist das ernst gemeint oder ein derber Scherz? Blondys ekliger Lacher in diesem undurchdringlichen Schwarz lässt bald keinen Zweifel mehr zu.
Der bestialische Urin- und Fäkalgeruch beißt wie Säure in der Nase. Da das Tunnelrohr nur wenig Platz bietet, wirken die schwarzen, kohle- und granitartigen feuchten Gesteinsbrocken richtig gefährlich, die draußen die Bahndämme und hier drinnen den Boden bedecken. Die Röhrenwände sind tropfnass, also sollte man nicht ausrutschen. Andernfalls würde man sich ernsthaft verletzen, wenn man sich daran festhalten wollte. Der scharfe Gestank lässt einen instinktiv die angegriffene Nase zuhalten, was aber leider zwei Personen nicht möglich ist, denen bei diesem Potpourri die Hände nach hinten gebunden sind. Immerhin sieht man schnell das Licht am Ende des Tunnels. Allzu lang ist er nicht. Dadurch sehen die Beteiligten jedoch deutlich, in welch gefährlicher Umgebung sie sich befinden - es könnte sehr schmerzhaft werden, blutig sogar ...
Die Dämmerung draußen schützt vor unliebsamen Fragen von Passanten. Aber am Freitagabend sind die Leute ohnehin nicht mehr auf der Straße, sie sitzen längst schon am Abendbrottisch vor dem Großbildfernseher und schauen die Abendnachrichten oder versuchen sich bei einem schönen grausamen Krimi von der Arbeitswoche zu entspannen.
Die obskure Gänseschar trifft also auf niemanden.
Es geht schnell, denn das Ziel ist nicht weit. Ein obskures Familienhaus ist keine 50 Meter vom Tunnel entfernt, direkt hinter dem Bahndamm. Eine verwahrloste Hecke umgibt es mit einem nicht minder vernachlässigten Garten, so dass das Haus selbst vom Bürgersteig aus kaum zu sehen ist. Es ist zudem das letzte der hier üblichen eingeschossigen Einfamilienhäuser aus den 40ziger, 50ziger Jahren. Danach führt ein unbefestigter, lose aufgeschütteter Schotterweg in den nahen Forstwald und verliert sich im schwarzen Nichts. Links und rechts davon, auf den Wiesen, bewegen sich dunkle Flecken, die als weidende Schafe zu erahnen sind.
Am Pfosten, neben den Eingangstürchen, hängt halb herunter an einem letzten Nagel ein Briefkasten. Es ist ein viereckiger Kasten mit schwarzen und silbernen Aufklebern. Sie sind so häufig angebracht und erneuert worden, dass man keine vernünftige Schrift mehr erkennen kann. Wahrscheinlich so etwas wie: Bitte keine Werbung hier. Jedenfalls sind die Namen nicht mehr richtig lesbar.
Die Haustür öffnet sich quietschend und hängt wie der Briefkasten auch schon halb aus den Angeln. Dann folgt eine zweistufige Steintreppe, die direkt ins Einfamilienhaus führt.
Dort, wo man eintritt, quillt abgetretenes Linoleum locker und wellig aus dem Boden. Ein Schränkchen unter der Garderobe zeigt unzählige weiße Abblätterungen. Der Flur ist minimalistisch und kaum drei Quadratmeter groß. Danach betritt man sofort das Wohnzimmer im Erdgeschoss, welches ein Sammelsurium von Möbeln beherbergt.
Dies mag zwar schäbig und für stilsichere Augen schmerzhaft sein, jedoch keinesfalls steif, eckig und kahl. Ein dunkles Sofa steht unterhalb des Fensterbretts. Darauf stehen eingetopfte Pflanzen wie Kakteen und eine kleine Palme aufgereiht, nicht so dicht, dass man nicht durch die vergilbten Stores auf die nahe Straße schauen könnte.
Auf dem Sofa ist es bequem zu liegen und auch wenn die Federn darin längst kaputt sind, ragt doch keine dieser Eisenspiralen gefährlich hervor. Ein weißer Korbsessel, mehrmals übermalt, thront neben einem Ohrensessel. In den Ecken stehen zwei Stehlampen mit Quastenschirmen, in der Mitte ein breiter, niedriger Tisch, auf dem sich dreckiges Geschirr mit muffigen, verbeulten Pizzaschachteln stapelt. Darüber ist Asche verstreut, sowie Essenreste, Alufolie und Papierservietten, die einen derartigen unangenehmen Gestank verströmen, dass einem schlecht werden kann. Hier und da stehen Eimer mit überquellendem Papier, Bioabfall und Sondermüllresten herum. Jegliche Gemütlichkeit von Nostalgie der alten, bizarren Möbel wird dadurch gnadenlos abgewürgt.
Den Anblick der Küche erspart man sich besser. Dennoch quält einen ein daraus kommender ekliger, beizender Geruch von Essen, Öl und Fett bis ins Wohnzimmer hinein. Damit muss man leben.
4. Wer keine Wahl hat, hat die Qual
Als alle Personen im Haus waren, wurde zuerst der Gürtel von der Frau gelöst, die sich vor den Augen Bullys übertrieben zimperlich das Handgelenk rieb: „Prinzessin auf der Erbse heult gleich oder was?“
Und schon packte er sie am Oberarm und kniff sie mit aller Kraft.
„Aua, du tust mir weh!“
„Ich tu dir viel mehr, wenn du weiterhin so zimperlich bist!“
Sofort verstummte sie und unterdrückte ihren Schmerz. Es war klar, jegliches Getue war hier strikt zu unterlassen – erste Lektion gelernt.
Blondy ging nach Betreten der Wohnung schnurstracks in die Küche zum Kühlschrank, fischte einen Sechser-Pack Bier heraus, riss die Plastikhülle ab, öffnete eine Dose, spülte den Inhalt in einem Zug hinunter und griff nach der nächsten. Die Dritte folgte sogleich. Dann trat er mit der Bierdose an den großen Tisch inmitten des Raums, um sie dort abzustellen. Er ließ sich in einen Sessel fallen und legte die Füße auf den Tisch.
Sein Partner hatte unterdessen die Geiseln einfach in die enge Rumpelkammer gestoßen, die in diesen Küchen- und Wohnraum eingelassen worden war – für den Moment – das Weitere würde sich ergeben.
Es ergab sich nicht, es musste erdacht, geplant und entworfen werden - gar nicht so leicht. Aber mit Bier würde es schon gehen. Während sie also beim fortgesetzten Dosenbieranstoßen überlegten und nachdachten, verfolgten die Eingesperrten aus ihrem Kerkerverhau mit Argusaugen das Szenario. Leicht möglich, dass es ihnen zu langsam und zögerlich vorwärts ging, denn bald meldeten sie Protest an. Zu düster und eng sei es in ihrem Asyl.
„Wir kriegen gar keine Luft mehr! - Wir sehen gar nichts mehr.“
„Unsere Gäste sind mit unserem Service nicht zufrieden. Die wollen ein Fünf-Sterne-Hotel!“
„Sieht ihnen ähnlich. Sind Besseres gewohnt, als was wir ihnen bieten können.“
Wie man sieht, nahmen sie anfänglich den Protest noch mit Humor, der aber schnell verflog, als diese es sogar wagten, murrend mit den Füßen zu scharren.
„Sie wünschen also mehr Luxus!“, sagte Bondy verärgert. „Das können sie haben!“ Er sprang auf die Beine, hechtete zur Seitenkammer und trat mit den Füßen gegen die windige, wacklige Holztür.
„Haltet Eure Fresse, ihr Blödmänner und, äh, -frauen. Sonst könnt ihr etwas erleben!“
Sofort war Ruhe.
Auch Blondy zeigte kein Mitleid: „Die treten sich wohl auf die Füße?“
„Na, wie sehr die doch auf vertrauten Fuß miteinander verkehren, ist das kein Unglück!“
Und Bully schlürfte zurück zum Sofa, um sich auf dieses fallen zu lassen und mit seinem Kumpanen anzustoßen: „Ohoho!“
„Auf die fette Beute!“
„Vopr allem auf die kommende Ausbeute!“
„Du sagst es, Mann!“
Dann verfielen sie ins Grübeln.
Bully verströmte eine solche Energie, dass die Luft um ihn herum elektrisch aufgeladen schien und gleich explodieren würde. Seine Bewegungen waren zurückhaltend und verhalten, als würden gigantische Kräfte entfesselt, sobald er nur zuschlug. Seine kräftigen, breiten Zähne verrieten, dass er mit bester körperlicher Gesundheit gesegnet war.
Blondy dagegen wirkte seltsam krank, schüchtern, ängstlich und es passte zu ihm, dass er jetzt Katzenjammer bekam: "Scheiße, dass der Doktor so viel Pinke-Pinke in der Hosentasche mit sich herumschleppen muss. Da wird man ja zum Diebstahl gezwungen!"
Dies gefiel Bully gar nicht.
"Was meinst du damit?"
"Naja, ich weiß auch nicht."
"Willst 'nen Rückzieher machen! Denk an das viele Geld. Stell dir vor, wie es sich anfühlt, wenn du es in Händen hälst! Hunderte von Tausenden in einem Bündel, oh Mann oh Mann!"
"Ja Mann, das ist es eben!"
"Hä!"
Für Bully war klar: Die Würfel waren gefallen, Punkt. Das Zaudern seines Kumpels passte gut zu dem Bild, das er von ihm besaß: eine zögerliche Memme wie sie im Buche stand.
Guter Rat war teuer. Ruhig und bedächtig begannen sie die verschiedenen und vielfältigen Umstände zu bedenken, die bei einer solchen Entführung und der unvermeidlichen Erpressung zu berücksichtigen waren.
„10 000?“
„Hm!“
Diese Summe ließen sie zunächst einmal auf sich wirken.
Langsam merkten sie, dass sie viel zu wenig forderten: „He, 10 000, was ist das schon? Das ist doch nichts für diese reichen Fuzzis, oder? Wir sollten 250 000 verlangen!“
„Oh, das sollten wir wirklich!“
Nächster Schritt: An wen sollten sie sich wenden, um das Geld zu bekommen?
Sie kamen auf die Frau des Doktors. Auch wenn sie zickte und zögerte, was bei der Höhe der Summe fast zu erwarten war, der Arzt würde ihr Beine machen. Schließlich hatte er das Zepter in der Hand.
„Du sagst es!“
Etwas anderes konnten sie sich nicht vorstellen. Eine Ehefrau, die in der Ehe das Sagen hatte – zumal in einer Arztehe – eh, da war es klar, dass der Arzt der König war.
„Genau! Lass die Frau aufmucken, der Arzt wird der Alten schon Beine machen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche!“
Was blieb dem Doktor übrig? Dass seine Gemahlin von der Nebenbuhlerin erfährt?
In tausend Jahren nicht.
Unvorstellbar!
Sie lachten laut bei der Vorstellung, wenn sie an die Sprengkraft dieser Bilder mit den Sexszenen dachten. Haha, nicht einmal Gewalt müssten sie anwenden! Zu kompromittierend. Wer würde einer solchen Veröffentlichung gleichgültig gegenüberstehen?
Bedenke der Öffentlichkeit!
Ein Arzt steht zu sehr im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, vor allem auf dem Land, ja im ganzen weiten Umkreis. Was gäbe es da für Klatsch und Tratsch.
Nein!
Und seine Frau erst! Scheiden wird sie sich wollen, ganz sicher! Oder jedenfalls wird das weitere Eheleben die Hölle sein. Nee, nee, eine so gestörte Ehe zu führen, wird dem Herrn Doktor auf Dauer zu stressig erscheinen. Er wird parieren, alle Hebel in Bewegung setzen, um der Hölle zu entkommen.
„Worauf du Gift nehmen kannst!“ Und das taten sie dann auch.
„Prost!“
Auch deshalb stoßen sie immer wieder an, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Sie sind ihrer nicht so sicher. Und das Denken fällt ihnen schwer. Ist das in ihrer Lage so verwunderlich? Die Fähigkeiten zur hohen Kunst der Erpressung fielen ihnen nicht einfach in den Schoß, sondern mussten erst erworben werden. Wie, war zunächst schleierhaft.
Man überlegte, das Lösegeld in dem leeren Mercedes Benz Cabrio deponieren zu lassen. Die Frau sollte die Viertel Mille Euro von der Bank abheben, das Geld zum Auto bringen, es dort ablegen und verschwinden. Danach wird es abgeholt. Danach werden Krankenschwester und Arzt freigelassen. Wenn der Arzt zur Polizei geht, werden die Bilder überall veröffentlicht. Der Arzt hat keine Chance, die Bilder zu löschen, unwiederbringlich zu löschen. Sie sind millionenfach kopierbar. Kein Ausweg für ihn. Wenn er sich aber ruhig verhält, dann ist es nicht notwendig, die Pics zu verbreiten. Dann ist die Öffentlichkeit außen vor.
„Und das Geld. Das ist doch eine ganz schöne Schaufel voll, oder?“ Der Blondy äußert Bedenken.
Die Arztfamilie wird das Geld locker aufbringen können, mit Sicherheit. Die Beschaffung der hohen Summe stößt bestimmt auf keine großen Hindernisse, so ein Arzt hat Kohle ohne Ende und wenn es nicht reicht, die Familie und Verwandtschaft wird schon ein wenig aushelfen, davon kann man ausgehen.
Nun wurde der Arzt angehalten, seine "Alte" zu beauftragen, das Geld aufzutreiben.
„Angehalten“ ist etwas zu milde ausgedrückt. So rüde wie er jetzt aus der Rumpelkammer gezogen wird, so, dass gleichzeitig Besen und sonstiger Krempel wie Staubsauger herauskullern, mitnichten. Einschließlich der Krankenschwester. Sie litt in dieser Enge der Besenkammer unter Schwindelgefühle und konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, versuchte sich irgendwo festzuhalten, an einem lösen Besenstil und fiel heraus, diesen in der Hand. Sie fällt Bullys vor die Füße und er brüllt: „Wer hat gesagt, dass du rauskommen sollst?“ "Aber mir ist schwindlich!" "Na gut. Dann bleib dort in der Ecke und halt still, Schlampe!" Er scheint sehr verärgert zu sein, hat sich aber trotzdem nicht getraut, die Frau auf die Beine zu stellen und in die Ecke zu stoßen.
Dann nehmen sie den Arzt ins Kreuzverhör.
Bully schildert die Bedingungen der Erpressung.
Der Adressat hört sie sich stumm an und als ihm schließlich sein Telefon in die Hand gedrückt wird, tippt er sofort drauf los, ein Verhalten so ohne Widerspruch, dass es mißtrauisch machen musste. Bullys Stirn graust sich und er reißt ihm wieder das Gerät aus der Hand.
„Weißt du!“, sagt er zum Blonden. „Lass uns einfach verdoppeln. Wenn's wirklich zu viel ist, können wir immer noch runtergehen. Also, Herr Doktor. Wir fordern 500 000."
Der Arzt beginnt zu protestieren, verstummt aber, als er die Faust des Blonden vor seiner Nase sieht. Dem Blonden gefällt seine Macht und er lacht.
Die Krankenschwester in der Ecke begeht die Unvorsichtigkeit, wegwerfend zu schnauben. Wenn sie den Eindruck gehabt hat, dass sie hier keine große Rolle spielte, weil sie nicht das begehrte Objekt der Erpressung war, so täuschte sie sich aber in dem Punkt, dass sie nicht unter Beobachtung stand und jedes ihrer Regungen wahrgenommen wurden.
Blonde geht zu ihr hin und schlägt ihr wortlos ins Gesicht.
Danach geht es weiter, als wäre nichts passiert. Dem Arzt wird das das Gerät gereicht: "Also, 500 000!"
Der Arzt tippt eine Weile.
„Bist du endlich fertig?“
„Ja.“
„Dann gib schon das Gerät her!“
„Aber wir müssen noch auf die Antwort meiner Frau warten.“
"Ja, machen wir auch. Nämlich ich! ... Hast du geschrieben, sie soll keine dummen Fragen stellen!“
„Ja, hab ich.“
„Na, dann dürfte es ja keinen Ärger geben. Du hast doch die Hosen an in der Ehe, oder?“
„Wie bitte?“
„Ich habe gefragt, wer bei euch in der Familie die Hosen anhat: Du oder deine Frau?“
„Äh, das kann man so nicht beantworten...“, sagte er zunächst, bis ihm klar wurde, mit wem er es hier zu tun hatte. "Ähm, Ich natürlich!“
Blondy, als einziger, lachte dazu.
Und schon piepte es.
Der Arzt, verblüfft, reagierte nicht, als ihm Bully das Gerät in die Hände drückt: „Schau schon nach, was deine Alte geschrieben hat!“ Kann dieser vielleicht nicht lesen? Aber egal, er liest es und ist erleichtert.
5. Jeder Pornodarsteller hat seinen Preis...
Der Arzt liest die Antwort laut vor. Sie könne wahrscheinlich so und so viel bezahlen, aber am Montag wüsste sie genau Bescheid, nachdem sie zur Bank gegangen war und dann würde man schauen, was machbar sei. Sie bitte um Geduld. Sobald sie das Geld beisammen hätte, würde sie eine Nachricht senden.
Ein Schrei Blondys erfolgte: „Was soll das Rumgeeiere! Der werden wir Beine machen. Gib Dein Smartphone her!“ Der Arzt wusste, was auf ihn zukam und schrie: „Nein!“
Blondy riss es ihm einfach aus der Hand: „Aber doch. Die wird Augen machen, wenn sie ihren Ehemann in einem Porno sieht! Haha!“
Der Arzt sank auf einen Stuhl, biss sich auf die Lippen, biss sich in die Finger, aber es half nichts, es blieb nur übrig, versteinert mitzuverfolgen, wie sein Schicksal, das des Ehebrechers, sich langsam aber sicher vollzog.
Blondy ging zu einem Schreibtisch, schaltete einen Computer ein und verband das tragbare Gerät mit dem Rechner. Es dauerte keine fünf Minuten, bis er das Video überspielt, mit einem Schnittprogramm bearbeitet und wieder auf das Smart Phone übertragen hatte.
Als er zurückkam, sagte er lapidar und bestätigte, was man vermutet hatte, dass er das Video vom Smartphone auf dem Computer bearbeitet, geschnitten, verkürzt, zum einen dann auf eine Plattform im Internet und zum anderen einen Teil auf des Arztes Handy geladen hatte: „Das reicht erst einmal für deine Etepetete-Ehefrau, wetten! So – und ab der Fisch!“
Dem Arzt wurde es anders zumute.
Blondy ergänzte dabei „Dieser tolle Porno ist jetzt auch im Internet abrufbar. Jeder, der's wissen will, Presse, Verwandte, Kollegen vom Krankenhaus können diesen tollen Spielfilm anschauen. So, jetzt gibt’s wirklich keine Probleme mehr, oder was hat der Chefarzt dazu zu sagen?“
Dieser schwieg wie ein Grab.
100 Kilometer entfernt von hier. Eine Frau und ein zufällig anwesender Mann, der Neffe des Arztes, schauen sich ein Video an, das auf einem Smartphone abgespielt wird, dass die Frau in ihren Händen hält.
Zu sehen ist der Kopf des Ehemannes dieser Frau, der mit geschlossenen Kopf auf einer Autokopfstütze liegt. Ein Frauenschädel, von oben gesehen, bewegt sich auf der Schoßebene des Mannes hin und her, auf und ab. Ihre zarten Hände halten dabei etwas in ihren Händen, was ein Teil des Körpers des Mannes ist. Die Kamera bewegt sich genau darauf zu, noch aber ist nur das Hoch- und Runterbewegen des Frauenkopfes zu sehen. Plötzlich jedoch verschwindet dieser Kopf. Sichtbar ist dasjenige Organ, dass die Frau offenbar in ihrem Mund geführt hatte und der nackte Rumpf des Arztes.
Die Kameraeinstellung verharrt in einem Standbild: Trotzdem das Bild eingefroren ist, wirkt jedoch ein bestimmter Körperteil aufgeplustert, nahe zu dem Platzen, man braucht wenig Phantasie, um ihn gleichsam wie einen Pendel hin- und herschwingen zu sehen.
Dann läuft der Film weiter. Die Handlungen der agierenden Personen sind jetzt deutlich hektischer.
Der Kopf des Mannes dreht sich um und zeigt ein erschrockenes Gesicht.
Mit diesem Schreckensgesicht friert das Bild erneut zehn Sekunden ein, so dass kein Zweifel mehr besteht, wer es ist: der Ehemann und Onkel der beiden Zuschauer.
Der Hobbyfilmer, das musste man ihm lassen, verstand sein Handwerk, dachte der Neffe. Das zehn Sekunden lang eingefrorene Bild bildete einen eindrucksvollen Schlusspunkt. Das verwackelte, unscharfe Bild war nur dem billigen Camcorder geschuldet, ließ aber keinen Zweifel über die Identität der Person.
„Dieses Schwein!“, rief die Ehefrau aus und schlug ihre Hände vors Gesicht. Damit meinte sie höchstwahrscheinlich ihren Mann. „Diese Saubande!“, rief der andere aus, mit einem Anflug von Bewunderung. Der Film, wie er geschnitten war, war beeindruckend und traf voll ins Schwarze.
„Was machen wir jetzt?“, fragte die Ehefrau atemlos.
Der Neffe, der Polizist war, wusste Rat. Er war schließlich Experte.
„Nichts. Warten wir erst einmal ab. Aber zunächst auf keinen Fall Polizei!“
Er sprach den Entführern aus dem Mund.
Klein beigeben, ja, das war das einzig Richtige. Allein die Vorstellung, wer das alles sehen könnte, war unerträglich. Der Ruf des Arztes, ja des ganzen Clans stand auf dem Spiel. Besonders Letzteres, weil es ihn unmittelbar betraf, drängte den Mann, auf die Ehefrau einzuwirken, die auf Widerspruch, Aktionismus und Polizei drängte. Einfach nichts tun, abwarten und Tee trinken, das war die Devise!
Die Ehefrau, eine im Grunde brave Bürgerin, erwiderte immerhin skeptisch: "Findest du?"
"Wir wissen nicht, ob es Profis oder Laien sind. 90 Prozent von Entführungen gehen auf das Konto von Laien. Das bedeutet, das sie zum einen zu unüberlegten Handlungen neigen, wenn ihr Argwohn erwacht und zum anderen, das sie leicht Fehler machen. Dann können wir immer noch die Kripo einschalten."
Seine Behauptungen waren an den Haaren herbeigezogen, als Verkehrspolizist hatte er keine Erfahrungen auf diesem Gebiet. Dennoch tat er so, als sei er in diesen kriminalistischen Dingen sehr bewandert.
Die Ehefrau überlegte, das Gesicht abgewandt und hinter einem Taschentuch verdeckt. Obwohl sie immer wieder aufschniefte, behielt sie letztendlich einen erstaunlich kühlen Kopf.
Sie blieb trotz des schamlosen Verrats ihres Ehemanns Ehefrau. Und auch die Gattin des Chefarztes. Zu sehr fühlte sie sich mit der Rolle der Chefarztgattin, mit der Rolle der Familienmutter und der der Clanschwägerin insgesamt verbunden. Wonach ihr Herz drängte und schrie, wurde unterdrückt.
"Die Lösegeldforderung wird erfüllt. Aber erst am Montag, spätestens Dienstag“, simste sie schließlich. Und so bald sie es hätten, würde sie Bescheid geben und laut Anweisung das Geld im Caprio auf dem einzigen Parkplatz des Krankenhauses deponieren.
Als die Frau ihr Handy weglegte, stieß sie aus: "Das wird teuer. Das ist viel Geld! Sehr viel!"
"Ja, wir müssen alle informieren. Sie müssen sofort kommen. Am Ende müssen wir alle zusammenlegen, befürchte ich. 500 000 Euro ist eine Menge Mist!“ Mit alle meinte er eine Art Familienrat.
"Das wird für alle schmerzhaft!"
"Oja!"
"Bis Dienstag!", brummte er.
Blondy gefiel das gar nicht. Das waren drei volle Tage. Aber was soll's, man musste sich damit abfinden. „Da beißt die Maus keinen Faden ab!"
"Hä? Welche Maus? Meinst du die Krankenschwester jetzt?“
„Ahö!“
„Warum sollte die einen Faden abbeißen? Hä?“
"Das sagt man halt so, wenn ... wenn in so einem Fall ...äh … wie diesem ...wo … äh ...“
„Wie, wo eine Maus... Eine tatsächliche Maus?"
„Nein, eine abstrakte...“
„Eine abstrakte Maus. Soso.“
„Halt eine vorgestellte...“
„Wie, die Maus stellt sich vor? Verarscht du mich jetzt total!“
„Nein!“
„Also, dann red Deutsch mit mir!"
"Das ist Deutsch!"
"Hä!". Ein zorniger Blitz streifte Blondy.
"Ach, vergiss es!"
Plötzlich packte er Blondy beim Kraken.
"Wenn du mich verarschen willst, dann ...“
"Nein, niemals!"
"Das hätte ich dir auch nicht geraten!"
Bully ließ wieder los.
"Ist ja gut, ist ja gut!"
Verärgert über Bullys Demütigung entriss Blondy dem Arzt das Smartphone, tippte etwas ein und rief dabei aus: "Dieses Video geht jetzt um die Welt, das schwöre ich!“ Und drückte auf den Knopf – denn das, was er so laut ausgesprochen hatte, war auch der Inhalt der SMS-Nachricht. Er war wirklich sehr geschickt mit technischen Dingen.
„Ihr wollt doch sicher sehen, was ich verschickt habe. Da, schaut es Euch an.“
Für Arzt und Krankenschwester gab es eine Sondervorführung des gedrehten Pornos. Dazu hielt er den Apparat gut sichtbar für alle in die Höhe. Das letzte, gefrorene Bild, das Konterfei des Pornohelden, hielt er wie ein Spiegelbild dem Arzt unter die Nase.
Das Bild war auf zweifache Weise entsetzlich. Als erstes, weil es eine intime Handlung öffentlich machte und zweitens, weil die darin dargestellte Person sich von ihrer häßlichsten Seite präsentierte, nämlich in Ekstase. Seine Nase, sein Gesicht, alles was man von seiner Büste zu sehen war, war verzerrt. Das demütigte zu allem doppelt.
"Und das ist meine geniale Idee gewesen. Damit du's weißt! Du widerlicher Perversling!"
Damit traf er die Sache auf den Punkt. Der Arzt, so wie er herausgestellt und im gefrorenen Bild erschien, erschien wie ein Perverser, anders konnte man es leider nicht sagen. Betrachtete man jedoch das Bild von einer anderen Perspektive, so sah man schlicht einen Pronodarsteller gut und scharf aufgezeichnet in seinem erstarrten Staunen ausdrückendem Konterfei, der den Betrachter wider Willen schamlos entgegen starrte.
Am wenigsten jedoch sah dies der Pornoheld selbst so. Er tendierte eindeutig zur ersteren Sichtweise.
"Das sollst du niemals vergessen, dieses Bild. Damit du weißt, was hier gespielt wird!"
Der Entführer öffnete daraufhin wütend das Cassius des Handys, nahm die Telefonkarte heraus, zerdrückte sie und schmetterte das Gerät auf den Tisch, dass es in zig Einzelteile zerfiel.
„Ich schlage vor, wir bringen den Arzt in den Keller, du weißt schon wohin...“, sagte der Bulle.
„Dort, wo du immer den Hund ankettest!“, lachte der Blonde dazu.
„Genau! Und die Hündin kommt in die Rumpelkammer! Dann überlegen wir in aller Ruhe, was wir mit ihr machen.“
„Was soll das heißen? Was gibt es da zu überlegen? Die kommt auf den Misthaufen.“
Einen Menschen einfach so aus dem Weg zu räumen, ging Bully denn doch gegen den Strich. Außerdem, würde es die Sache nur noch schlimmer machen. Das Blondy auseinander zu setzen, war ihm jedoch zu müßig.
Bully schaute immerhin Blondy gelangweilt an und verdrehte die Augen.
Das zeigte Wirkung, Blondy kapierte endlich, das das mit dem Misthaufen nicht ernst zu nehmen ist.
Bully, um nicht noch einmal so einen makabren Scherz von Blondy hören zu müssen, brachte immerhin das hervor: „Halt einfach die Goschen! Tu, was ich dir sage!“
Voller Schuldbewusstsein raunte Blondy: „Ist ja gut!“
Er dachte sich seinen Teil. Er vermutete, dass der andere wohl an der Schlampe Gefallen gefunden hatte. Und das lag gar nicht so falsch. Blondy stellte sich nur die Frage, was seinem Kumpel an ihr gefiel? Diese Frage vergaß er bald wieder, schließlich war ihm diese Tussi gänzlich reizlos. Doch das sollte sich ändern.
Sie steckten die Krankenschwester in die Abstellkammer und den Arzt in den Keller,
Im Keller wurde er an eine Wand gestellt, an der eine Hundekette hing, eine lange Eisenkette mit eiserner Halskrause am Ende. Diese wurde ihm um seinen Hals gelegt und mit einem extra Schlüssel verschlossen, nicht etwa nur mit einem Riegel. Immerhin konnte der Angebundene seine Hände frei bewegen, eine Knebelung war nicht notwendig.
Darauf wies Blondy gönnerhaft: „Wir nehmen davon Abstand, deine Hände am Rücken mit einem Kabelband zu binden. Wir hoffen, du weißt dies zu schätzen.“
Beim Weggehen wunderte sich der Bulle über seinen Partner: „Woher hast du eigentlich diese geschwollene Ausdrucksweise?“
„So etwas Ähnliches habe ich gestern im Tatort-Krimi gehört.“
„Ach so!“
Die Krankenschwester war wieder oben in der Seitenkammer eingesperrt worden. Immerhin hatten sie dort drinnen den Staubsauger und einige Besen entfernt, so dass sie etwas Platz hatte. Gut war auch, dass die selbstgebaute Tür der Kammer durch die Bretterschlitze Licht und Sauerstoff hereinließ. Vorteilhaft oder nachteilig, je nach Standpunkt, war: Sie verstand jedes Wort in der Küche und im Wohnzimmer, das gesprochen wurde.
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Verbrechen wider Willen - Wahrer Heimatkrimi
B. Samstag
6. Langeweile gebiert Ungeheuer...
Der erste Abend war ruhig verlaufen.
Der zweite Tag begann schon weniger gemütlich.
Vorkehrungen für die Bewirtung der Gäste mussten getroffen werden. Einkaufen gehen, aber halt, die Vorräte würden noch bis Montag reichen. Aber es war schon lästig, sich darüber Gedanken machen zu müssen. Immerhin war die Tankstelle nicht weit, wo man sich mit Alkoholika versorgen konnte, sobald es brannte. Und es brannte ständig. Das war leider ein teurer Lebensstil.
War ja nur vorübergehend, dachten sie. Nächste Woche sah es schon anders aus. Spätestens bis Mittwoch, Donnerstag würde sie nur so in Geld schwimmen. Also, warum nicht jetzt schon so leben wie übermorgen?
Es blieb nichts anderes übrig zu tun, als auf die Geldübergabe zu warten. Das konnte dauern. Eine halbe Million waren kein Pappenstiel. Eine solch hohe Summe würde nicht einfach von einem Geldautomat ausgespuckt werden. Ein Besuch bei der Bank war nötig. Außerdem musste der ganze Arztclan seinen Obolus beitragen. Das alles würde sich hinziehen. Wie lange wohl? Vermutlich nicht vor Dienstag. Genau, wie die Arztfrau ja schon prophezeit hatte.
Und es konnte durchaus noch länger gehen. „Wenn ich an die kommenden drei, vier Tage denke, wird mir jetzt schon sterbenslangweilig!“, stöhnte Blondy. Man brauchte Geduld, sehr viel Geduld. Geduld, ein Fremdwort, für das sie am wenigsten Verständnis hatten.
Bereits nach einem Tag der Entführung stehen und liegen die beiden jetzt untätig und unschlüssig herum, als hätte man sie an einem fremden Ort abgesetzt, nur nicht bei sich zuhause. Die einzige Abwechslung besteht darin, dass sie ein Six-Pack oder einen Kasten Bier nach dem anderen von der Tankstelle um die Ecke holen. Was kann man sonst schon Sinnvolles tun als Saufen?
Warten … Warten... Warten …
Der Bulle war ja schon beim ersten Aufeinandertreffen, beim Parkplatz, von der Frau hin und weg. Aber als sie jetzt in der Küche putzte und spülte, wurde es heikel. Er musste sie beobachten, das war sein Job. Er sagte sich, dass er nur auf eine Geisel aufpasst, damit sie nicht unbedachte Dinge macht. Mehr nicht.
Nun, wo sie in der Küche spült und hantiert, hat er sie ihm vollen Blick und ihm entgeht kein Detail. Die Umstände lassen es zu.
Die Wände der Küche sind so feucht, dass das Spülmobiliar nicht mehr in der Wand festgemacht ist. Es fehlt der Halt, so dass es mitten im Raum auf zwei Böcken steht, in denen die zwei großen Spülbecken verkrätscht und mit Seilen provisorisch festgemacht sind. Das eine Becken ist für das Spülen im Spülwasser vorgesehen, das mit heißen Wasser gefüllt ist. Im anderen wird es in blankem, kaltem Wasser abgewaschen und abgeschreckt. Daneben reiht sich ein länglicher Tisch an, auf dem feuchtes Porzellan und Silberbesteck zum Trocknen auf die Abtropfgestelle und Geschirrkörbe gelegt wird.
So kann man Hilde gut beobachten, wo sie mit der Arbeit beschäftigt ist. Der Körper und das Gesicht ist direkt zum Wohnzimmer gerichtet und durch die offene Küchentür zu sehen. Bully hat sie voll im Blick und sieht direkt in die Augen, wenn sie das Kinn nur etwas hebt. Das Gleiche gilt natürlich auch anders herum. Wenn er sich auf dem Sofa fälzt und nur ein bisschen den Kopf hebt.
Warum setzte sich Bully dieser Gefahr aus? Ahnte er denn nicht, in welch gefährliches Fahrwasser er sich begab? Dabei ist die Überwachung selbst nicht gemeint, die sein muss. Die Gefangene musste ständig beobachtet werden, damit sie nicht plötzlich abhaute. Sie war ein Unterpfand des Lösegelds und damit des Glücks.
Andere Dinge stellten eine viel größere Gefahr dar.
Diese weißen Schultern! Die milchig schimmernde und glatte Haut! Die Oberfläche ist wirklich spiegelglatt. Keine Pore, keine Unreinheit, keine Fältchen, nirgendwo etwas Derartiges - einfach perfekt.
Aber ihre Hüften sind doch ziemlich breit, oder? Bemerkte er nicht. Nahm er nicht wahr.
Er war nur von ihrer perfekten weißen Haut verzaubert. Sie tauchte wie en Scarlett aus einem Hollywoodfilm entsprungen auf.
Er konnte seinen Blick einfach nicht von ihr wenden und war verzaubert.
Da übersieht man schon mal breite Hinterteile. Wird automatisch ausgeblendet. Ganz natürlich. Er starrte ganz einfach nur auf die geschmeidige Samthaut, überall sichtbar durch die legere Kleidung. Dieses war das Ergebnis jahrelanger ausgiebiger Pflege, von Anti-Aging-Salben und Cremes aller Art. Die kostenlosen Probierbeilagen der abonnierten Frauenzeitschrift hatten über die Jahre hinweg ihre Wirkung nicht verfehlt. Aber leider war der Bewunderer der Falsche.
Dieser Verehrer war eine rollige Katze. Wenn er noch einen Funken menschlichen Verstandes hatte, musste er sich ernsthaft Sorgen machen: Was passiert, wenn er noch ein paar Tage mit dieser heißen Schnecke unter einem Dach verbringen muss?
Die Gummibänder des BHs, die sich über die Schulter spannten – wenn man bedenkt, wohin diese Bänder letztlich führten!
Irgendwas irritiert ihn, er bricht seinen festen Blick plötzlich ab. Er wendet sich ab.
Aber sofort schaut er wieder zurück, nachdem er sich wieder gefangen und diese Störung überwunden hat. Der Blick der Krankenschwester trifft ihn mit voller Wucht.
Da es sie peinlich berührt, zieht sie ihre herunterhängenden Spaghetti-Träger über die Achseln, den Pullover über die Blöße, aber es ist zu spät. Der Mann ist krebsrot geworden. Sie sieht es, er bemerkt es. In Drogenkreisen sagt man, er sei angespitzt worden. Das heißt, er muß sein Leben lang gegen den Stoff ankämpfen. Drogensucht als Folge.
Ist sich Bully dieser Abhängigkeit bewusst? Gefahr erkannt, Gefahr bekannt! Keineswegs!
Diese leicht bekleidete Frau brachte ihn völlig aus dem Konzept. Brachte ihn sogar um seinen Verstand, verdammter Mist, verdammter!
Aber ein bisschen ist er schon noch bei Trost und fragt sich zurecht: Wie konnte nur so eine verworfene, liederliche Schlampe wie diese Frau einen solchen Mann wie ihn, der derartig integer und sittenstreng ist, aus der Fassung bringen?
Er ist zutiefst empört. Das darf so nicht stehen bleiben! Eine Antwort muss sofort erfolgen. Doch nur welche? Stattdessen kommt es sogar noch dicker.
Er sieht genauer hin, erblickt, dass die Frau ihn mit einem starren Blick fixiert. Und jetzt weiß er nicht mehr, wie ihm geschieht. Er starrt genauso perplex zurück. Dabei handelt es sich hier nicht um das bekannte Paarspiel, wir schauen uns so lange an, bis einer es nicht mehr aushält und wegschaut. Somit kann sich der andere als Sieger fühlen. Nichts wäre falscher.
Beide sind wirklich wie die Kaninchen von Schlangen hypnotisiert, wobei Kaninchen und Schlange auswechselbar sind. Jeder, im Blick des anderen gefangen, verliert völlig jegliches Zeitgefühl und sein Selbstbewusstsein. Allerdings leiten sie unterschiedliche Beweggründe dabei.
Hilde hat ein Gefühl totaler Angst im Würgegriff. Es heißt sie, dass sie ja nicht irgendwo anders hinblickt, als in diese kalten Augen dieses Brutalos. Es riefe womöglich unabsehbare desaströse Folgen nach sich. In ihren Augen glitzert Verzweiflung, aber sie ist außerstande, den Blick wegzureißen. Ihr Mund steht weit offen, die Augen weit aufgerissen und wie zur Salzsäure erstarrt hält sie einen nassen Teller in der klitschigen Hand, der vor sich hin tropft, aber nicht entgleitet.
Jetzt sind sie quasi beide von sich selbst abgeschnitten. Jeder ist in seiner eigenen Welt gefangen.
Während Bullys eisiger Blick Hilde in antarktische Kältezonen verbannt, weiß sie ganz genau, dass sie in die Augen ihres Mörders blickt. Es gibt kein Entkommen aus den schwindelerregenden Abgründen. Dennoch starrt sie unverwandt weiter ins Dunkle, nicht fähig, sich wegzureißen.
Er hingegen fühlt sich, als läge er auf einer Herdplatte. Diese wärmt sich unaufhaltsam auf. Aber er ist gelähmt. Gleichzeitig wird es immer heißen. Bald wird er geröstet und gebraten werden. Aber wie hypnotisiert macht er keinen Versuch, sich loszueisen. Er schaut nicht nur in Augen, er wird auch in einen Schmelzpunkt hineingezogen, in einen Sog sozusagen. Die Begierde, das Sexuelle, das Erotische – wie lässt es sich schon benennen?
Seine Untätigkeit ist schon ziemlich ungewöhnlich für einen Helden, der ansonsten keine Angst kennt.
Wer weiß wie lange es dauert, dieses Starren? Eine Ewigkeit. Mindestens! Wer weiß, wie lange es noch gedauert hätte, wenn nicht plötzlich Blondy hereingetrampelt wäre wie der Elefant in den Porzellanladen, nichts sehend, riechend, hörend und fühlend und rumbläkend: „Schläfst Du immer beim Arbeiten, Du Schnalle!“
Bully wird puterrot, räuspert sich verlegen und Hilde arbeitet wie von der Tarantel gestochen weiter.
7 . Hinter Gittern
Eine Stunde ist vergangen. Die Jungs liegen genervt und gelangweilt im Wohnzimmer auf der langen Couch hier und dem langen Sessel dort. Plötzlich schreit Bully die Frage aller Fragen laut heraus: „Was machen wir mit der Hure, verdammt?“
Keine Antwort.
Wahrscheinlich ist Blondy gerade eingeschlafen. Doch davon lässt sich der andere nicht beeindrucken, äußert erneut mit lauter Stimme und in einem gekränktem Ton, als hätte soeben seine empfindliche Zunge etwas Bitteres schmecken müssen: „Die ist zu nichts nutze! Sie ist einfach zu nichts nutze. Aber auch zu gar nichts!“
Wahrscheinlich bereute Bully, dass er sich von der Frau so hatte in Beschlag nehmen lassen. Er hatte Schwäche gezeigt. Er war handlungsunfähig gewesen. Er empfand dies als Niederlage. Er befürchtete schon das Schlimmste. Möglich, dass sie ihn um den Finger wickelte. Damit wäre ihr Erpressung gefährdet. Das war ein Punkt, sofort etwas zu unternehmen.
Blondy, der noch immer die Augen geschlossen hält, erhebt auch sein Votum, das ins gleiche Horn stößt: „Du hast es ja gesehen, die schläft im Stehen, die pennt beim Arbeiten. Die gehört auf den Müll!“
Vielleicht ist er etwas erschrocken über seine menschenverachtende Aussage,weil er sich plötzlich aufrichtet. Aber dieser Schrecken dauerte nur wenige Sekunden, denn schon lacht er satanisch aus und in einem Tonfall, als wäre ihm gerade eine geniale Idee gekommen: „Im Garten vergraben, sag ich Dir! Das ist die bester Lösung.“
Dies hieß im Klartext, dass er leicht und locker auf sie verzichten konnte. Erstaunlich? Keineswegs, sie war schließlich nicht der Joker, der ihnen viel Geld versprach. Um die Wahrheit zu sagen: Sie war keinen Pfifferling wert. Außerdem hatte er sowieso einen Groll gegen Weiber, warum auch immer. Wegen einer kürzlich beendeten Beziehung, die nicht so gut lief? Mit dem Rattenschwanz von üblichen Rosen- und Grabenkriegen? In manchen Kreisen gehört dies ja zum guten Ton.
Die Aussage „Im-Garten-Vergraben“ war jedenfalls ein klares Zeichen seiner Geringschätzung. Diese Frau interessierte weder menschlich noch sexuell. Letzteres stand aber im Gegensatz zu seinem Partner.
Dieser knurrte dazu etwas Unverständliches.
Die Person, um das sich das Gespräch dreht, bekommt jedes Wort mit.
Hat sie Angst?
Natürlich! Und wer Angst hat, hofft. Sucht nach Auswegen.
Würde ihr der Arzt zur Seite stehen? Das wäre das Nächstliegende. Aber weit gefehlt!
Sie denkt daran, wie sie ihn das letzte Mal gesehen hat. Es ist zwar erst ein paar Stunden her, aber es kommt ihr so vor, als ob es Tage wären. Es geschah kurz nachdem sie in die Wohnung geführt wurden. „Die Frau in die Besenkammer dort! Der Mann in den Keller!“ Und dann der letzte Blickkontakt, bevor sie voneinander getrennt wurden. Der eigentlich keiner war.
Er hat schnell den Blick abgewandt und zu Boden gesenkt. Dann hat er ihr gleich den Rücken zugekehrt. Die Botschaft war klar und deutlich: jeder musste mit den Gängstern allein zurecht kommen. Jeder war also auf sich selbst gestellt.
Sofort hatte sie sich dagegen gewehrt, aber vergebens. Sie wusste, was es heißt, als Frau zwei Männern ausgeliefert zu sein. Sein Abwenden war allerdings niederschmetternd. Die Männer hatten sie natürlich nur verspottet und brutal in die Besenkammer weggesperrt. In der saß sie jetzt wie der Vogel im Käfig.
Nur gut, dass er jetzt wenigstens nichts mitbekam von dem, was ihr zugemutet wurde. Wenn er ihr schon nicht helfen konnte und wollte. Ihre Qual mit zu erleben, gönnte sie diesem gemeinen Feigling nicht. Sie traute ihm mittlerweile sogar zu, dass er sich daran ergötzen könnte - unerträglich – und hundsgemein!
Diese brutale Übermacht dieser gefühlskalter Brutalos und Frauenverächter – schnell die Vorstellung unterdrücken, sonst bekäme sie keine Luft mehr. Ihre Finger graben sich in die flachen Hände, sie sucht Halt, findet jedoch keinen, außer dem, dass sie in die Knie sinkt und auf den Fersen kauert, wie sie das oftmals als Kind getan hat, während sie mit Kreidestifte aufs Pflaster gemalt hat.
Ah, sie hat verstanden: Kein Platz für unnötiges Mitleid. Jeder rette sich, so gut er kann! Sie springt mutig auf, als würde sie sich keine demütigende Verkleinerung leisten, die dieses Kauern ja ausdrückt, sondern bereit sein, zum Sprung bereit – in die Freiheit hinaus.
Durch die Gitterstäbe blickte sie, durchs Fenster und nach draußen. Aber plötzlich kommt ein Sperling ans Fensters heran geflogen, setzt sich darauf, wendet den Kopf mal mal nach links, mal nach rechts, um das Terrain abzuschecken.
Der hatte es gut. Er war in Freiheit. Wusste aber nicht einmal um die Bedeutung dieser.
Sie klammert sich jetzt mit den Händen an die Holzstreben und drückt ihr Gesicht dagegen, die Nasenpartie schaut dabei vorne heraus, um besser durch die Gitter sehen zu können.
Sie zoomte ihren Blick über das schöne Geschöpf hinweg, um weitere Lebewesen zu entdecken. Es ging über die Zinnen des Gartenzauns und fiel auf den Asphaltweg, der hier vorbeiführte.
Darauf war aber weit und breit, soweit ihr Blickwinkel erlaubte, etwas, was nach Mensch aussah, zu sehen. Keiner. Nicht einmal ein Auto, ein Radfahrer, ein Fußgänger kam in den nächsten fünf Minuten vorbei, wo sie den Blick sehnsuchtsvoll darauf heftete.
Verdammt, der ist schön aus dem Schneider, der Mistkerl! Noch einmal tauchte seine demütige Abwendung, sein Ihr-Rücken-Zuwenden auf, das klipp und klar sagte: Ich bin selbst heilfroh, wenn ich meine eigene Haut retten kann, was geht mich deine an. Er hatte damit angezeigt, dass er er sofort verstand, was auf dem Spiel stand.
Sie ahnte nun, dass sie hier nicht mehr lebend herauskam. Das Gefühl des nahen Todes übermannte sie. Sie fühlte sich dadurch plötzlich körperlich leichter und alles nahm sie von hinter einer Glasur, einem Film, einem Laminat wahr. Unwirklich, wie wenn man Menschen von hinter einer Einwegscheibe, einer Fensterscheibe oder einem Fernglas beobachtete. Alles wirkte erträglich, fast, als betreffe es einem nicht. Als wäre sie schon irgendwo im Jenseits.
Aber da waren doch die Schmerzen, die auf sie zukommen würden!
Der Brutalo würde sie töten, klar. Aber wie? Erwürgen – sie fühlte die Schmerzen am Hals, griff danach, rieb sich – bitte das nicht! Im Keller verhungern, verdursten, vor sich hin darben, jedenfalls elendiglich verenden, sobald die Verbrecher das Lösegeld erhalten hatten und sich aus dem Staube machten – bitte das auch nicht! Welcher Tod denn?
Panik stieg auf, sie blickte wieselflink hin- und her, nach links bis zum Ende des Ausschnitt, der Fensterrahmen, nach rechts, der andere. Dann glitt ihr Blick über die Straße, über Sträucher, bis zum Bahndamm.
Ein Zug sauste vorbei. Was kümmerten die vielen Insassen schon, was in diesen Häusern, wie dem, wo sie einkerkert war, passierte? Nichts! Niemand ahnte etwas. Jeder ging blindlings seiner Geschäfte nach.
Sie fühlte sich mutterseelenallein jetzt, gebot sich aber schnell, nicht aufzugeben, weiter zu suchen und zu kämpfen.
Hinter den Gleisen sah sie die Bäume des Parks, durch den sie hierher verschleppt worden waren. Der Park war ein kleiner Hügel nur. Darüber stießen die kruden Kieferbäume stachelig in den grauen Himmel. Der Himmel war etwas erleuchtet, wahrscheinlich durch das Licht, das das betriebsame, große Bezirkskrankenhaus dahinter ausstrahlte. Deren Korona zeichnete erst die Bäume gegen den Himmel ab.
Sie zog den Blick zurück auf die Straße, schaute wieder in die äußersten Fensterecken hinaus, um vielleicht Nachbarhäuser zu entdecken. Nichts. Das Haus schien ziemlich einsam dazustehen. Aber sie wusste, sie erinnerte sich, da waren doch zumindest auf einer Seite Häuser gestanden. Aber dieses Haus musste das Letzte am Ende eines Blocks gewesen. Dahinter erstreckten sich nur weite Felder und bald wieder dichtes Waldgebiet.
Selbst wenn jetzt ein Passant am Gartenzaun vorbeiginge, um in den nahen Wald spazieren zu gehen, hätte sie keine Chance. Wenn sie laut um Hilfe schrie, würde kein Wort durch die Mauern nach draußen auf den Bürgersteig dringen.
Sie saß in der Falle. Wie eine Maus. Eine graue Maus. Eine kleine, graue Maus, nur noch wert, an eine hungrige Katze verfüttert zu werden. Ansonsten vielleicht tot und verreckt auf dem Misthaufen geworfen zu werden …
Sie sah plötzlich eine Katze dort über die Straße huschen. War es nicht eine schwarze gewesen? Sie musste über sich und ihren Aberglauben lachen. Sie nahm sich vor, sich nicht unterkriegen zu lassen, standhaft zu bleiben, gleich gar nicht solch kindische Gedanken wie Schwarze-Katze-läuft-Dir-über-den-Weg-bringt-Unglück aufkommen zu lassen. Ja, sie glaubte jetzt daran, dass sie ungebrochen daraus hervorgehen würde. Das sie überleben würde. Mit ungebrochenem Rückgrat.
Glücklicherweise wusste sie nicht, was auf zukommen würde.
8 . Massieren
Untätiges Herumliegen führt zu Verspannungen. Bei Bully führte das zu dem Tick, dass er sich ständig den Nacken rieb – sofern man sagen konnte, dass er einen hatte. Zu sehen war keiner, nur zwei dicke Wülste wie bei einem Rottweiler, einer Bulldogge oder einem anderen Kampfhund. Er drehte den Kopf im Kreis und fuhr mit den Händen nach hinten zu dem, was eher den Körpermuskeln einer Boa constricta glich.
„Verspannungen?“
„Du sagst es!“
Blondy sprang auf. Er hatte eine Idee. Er ging zur Besenkammer. Ohne um Erlaubnis zu fragen, schritt er zu einer Handlung, die der Betroffene niemals gutgeheißen hätte.
„Kannst du massieren, Schwester?“
„Schon.“
Er öffnete das Holzgitter, zog die Schwester unsanft an der Hand heraus und zerrte sie mit sich.
„Hier. Ich glaube, die Schwester kann dir helfen.“
„Und?“, hatte Bully etwas ängstlich gestammelt, schließlich brannte der Blickkontakt immer noch in ihm. Die Augen dieser Frau würde er nicht so schnell aus seine Kopf bekommen. Nun stand sie unmittelbar neben ihm, genauer ihr Körper, der sofort wieder das Feuer in ihm entfachte und er stand sofort in Flammen.
Er würde verbrennen, wenn sie ihn nur berührte!
Genau das war das Ziel von Blondy: der körperliche Kontakt zwischen beiden. Was das für Bully bedeutete, ahnte er nicht im Geringsten. Für den anderen war es unvorstellbar, dass sein reiner Körper mit dem der verdorbenen Hure in Berührung kommen könnte, niemals.
„Du hast Verkrampfungen, hast du gesagt. Ich habe eine Medizin dagegen!“
„Hä!“ Bully wollte im ersten Moment gar nichts verstehen.
Blondy blinzelte bedeutungsvoll zur Schwester hin.
Bully sah nur Bahnhof. So schob sich Blondy an Hilde vorbei, die dann hinter ihm verschwand.
Er flüsterte, als er sagte: „Was glaubst du, wie gut so eine Massage tut! Man fühlt sich gleich wie ein neuer Mensch!“ Das Tuscheln war allerdings überflüssig, denn die Schwester verstand alles.
Wieder blinzelte er und da das nicht ankam, zuckte er mit dem Schädel zur Seite hin. Er meinte damit die ahnungslose Krankenschwester.
Bully wurde bloß befangener. Damit war er noch weniger imstande, klar denken zu können.
Blondy sagte deswegen laut: „Gell Schwester, du massierst doch gerne? Besonders um den Nacken bist du Spitze, oder?“
Was blieb ihr übrig: „Ja, schon!“
Endlich fiel bei Bully der Groschen. Trotzdem war er immer noch zu befangen. Da das immer noch das beste Mittel war, verschaffte er sich dadurch Erleichterung, dass er Blondy anschnauzte: „Laber hier nicht rum, Kumpel. Ich weiß, was gespielt wird. Die Schwester kann loslegen.“
So kam das Unglück oder Glück, je nach dem, ins Rollen.
Dennoch äußerte Bully noch Bedenken: „Aber keine Ganzkörpermassage!“
„Aber nein, Halsmassage genügt auch“, beruhigte ihn Blondy. Klang das nicht ironisch?
Blondy sah, was Bully durchmachte und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Okay!“
Dann wandte er sich an Hilde.
„Keine Ganzkörpermassage!“
„Ja, am Nacken halt!“ Der Satz blieb Bully im Mund stecken. Jetzt, wo es konkret wurde, wurde er wieder nervös.
„Ganau. Nackenmassage. Aber vom Feinsten!“
Bully griff sich unwillkürlich an den Nacken, tastete ihn ab. Es stimmte, der Nacken war etwas hart und taub. Aber nach der Massage war sofortiges Waschen angesagt, wer weiß, welche Krankheitserreger diese verdorbene Hure übertrug.
„Aber dass du mir nicht den Halswirbel brichst!“
Blondy lachte jetzt laut auf. War der aber wie ein kleines Kind, das sich vorm Waschen sträubte, der große Bulle, haaha. Ein Mannsbild und solch eine Memme, wer hätte das gedacht?
Endlich hatte Bully verstanden: eine wohltuende Wirkung einer Massage war nicht zu verachten, trotz des Ekelgefühls vor den Berührungen dieser Masseurin. Wäre ich ja dumm, dachte er, sich solch einen Genuss entgehen zu lassen. Na endlich!
„Na gut. Bevor du mir den Kopf abreißt!"
Dennoch wechselte sie noch verstohlene Blicke. Es war ihnen nicht ganz wohl bei der Sache, sie spürten, dass sie dabei waren, eine rote Linie zu überschreiten.
Blondy ging schweigend zu dem einzigen Stuhl, der in der einzigen freien Ecke stand. Erstaunlich bei all dem Gerümpel, das hier herumstand, dass er den Stuhl problemlos ein paar Meter von der Wand wegrücken konnte, ohne irgendwo anzuecken.
Bully erhob sich fast wie ein alter Mann, stöhnte als ob er Schmerzen hätte und rieb sich den Nacken. Das war nur ein Grund, um die Massage zu rechtfertigen. Weil er sich ständig daran rieb, wankte er mehr zum Stuhl, als dass er aufrecht ging. Er setzte sich ordentlich darauf, den Rücken gerade nach vorne geneigt.
„Worauf wartest du? An die Arbeit, Frau Doktor!“
Sie zögerte einen Moment, empört, sie war keine Ärztin oder so etwas, aber dann trat sie an den Stuhl, vielmehr hinter ihm, bereit zur Tat zu schreiten, während Bully nun das Oberhemd auszog, das Unterhemd über den Kopf, ohne es ganz herunterzuziehen.
Dann beugte er den Quadratschädel wie wenn er sich vor dem Henker verneigte.
Zum Glück war zwischen Hildes und Bullys Körper eine Lehne. Die Körper der beiden berührten sich nicht, nur Hand auf Stiernacken. Sonst hätte sie sicher die Nerven verloren und wäre nicht in der Lage gewesen, das zu tun, was man von ihr verlangte.
Dann rückte sie an den Stuhl heran, beugte sich weit vor und machte sich an die Arbeit.
Sie bemühte sich, rein technisch und praktisch vorzugehen, vermied jedes zärtliche Streicheln, knetete seine Schultern, den Rücken, massierte die harten Verspannungen unter den Schulterblättern und versuchte die weicheren Muskeln weiter unten zu lockern. Sein Atem wurde ruhiger, gleichmäßiger. Die Ahs und Ohs, das unterdrückte Seufzen und Grunzen, das Bully entfuhr, verstummten allmählich. Ihre Massagebewegungen zeigten Wirkung. Trotzdem keine Physiotherapeutin, noch ausgebildete Masseurin am Werk war.
Schlagartig herrschte Stille. Eine Ruhe hatte den Raum erfasst, dass es schon unheimlich war.
Ein Lächeln huschte über Bullys finsteres Gesicht. Nur einen flüchtigen Moment. Schnell Unterhemd übern Kopf gezogen, Hemd angezogen und während er die Knöpfe schloss, stieß er die heftigen Worte aus: "Schaff die Schlampe hier raus!"
Es klang seltsam, fast beleidigt.
Hatte er gerade nicht eine wunderbare Massage verpasst gekriegt? War das nicht Anlass zur Zufriedenheit? Da kenne sich einer aus bei der Dumpfbacke!
Blondy zuckte die Achseln, packte die Schwester mit einem Beißzangengriff bei der Hand, schleifte sie mit sich zur Besenkammer und warf sie mit einem Druck auf den Rücken hinein. Es schepperte, als er das Brettergatter zuschlug; es krächzte, als er den Riegel betätigte.
9 . Wenn schon, denn schon
Was nun folgte, hörte die junge Frau in ihrem Kerker Silbe für Silbe und Wort für Wort. Sie sträubte sich vehement gegen die Ahnung, dass etwas Schreckliches geschehen könnte. Doch konnte sie nichts dagegen tun. In dieser Abstellkammer war sie eingesperrt wie ein wildes Tier in einem Käfig. Nur dass sie sich ihrer Lage bewusst war, unterschied sie von einem Tier.
Und nun konnte sie genau mitverfolgen, was ihre Peiniger ausheckten.
„War das gut?“
„Hm!“
Mehr kam nicht von Bully. Eindeutiger sich zu äußeren, dazu war er nicht fähig. Das wäre ein Zugeständnis gewesen. Ein Lob. Eine Streicheleinheit für die verdorbene Hure. Worte hätten nur einen Verlust bedeutet und noch mehr Verlegenheit ausgelöst, als er ohnehin schon empfindet.
„Ich wusste es. Denn die Braut ist Krankenschwester. Deshalb wusste ich, dass sie massieren kann.“
„Hm.“
„Hm, da fällt mir noch was ein. Die Tussi ist doch Krankenschwester.“ Blondy schoss wieder ein Gedanke durch den Kopf.
„Eh! Na und?“
„Na, wenn sie Krankenschwester ist und massieren kann, wie wir gesehen haben … Also, wenn sie Krankenschwester ist, ist sie doch eine Art eine Pflegerin!? Oder?“
„Kann schon sein.“
„Und eine Pflegerin kümmert sich um den Körper eines Menschen. Normalerweise, den eines kranken Menschen. Aber sie kann genauso gut um einen gesunden Körper kümmern.“
„Ja, und?“
„Funkt es nicht?“
Der Dunkle warf Blondy einen zweifelnden Blick zu. Gleichzeitig auch in Richtung des Gesprächsgegenstandes, zur Rumpelkammer. Die Aussicht nach diesem kurzen, schnellen Spaß noch weitere Glücksmomente zu erzielen, vor allem längere, intensivere brachte ihn zum Schlucken.
„Mann, zum Kranke pflegen gehört ja auch waschen … Das gehört ja dazu!“
Doch der Bulle zierte sich, das ist deutlich. Mehr eigentlich. Wie sonst konnte man sein Verhalten deuten: Er erhob sich von der horizontalen Lage in Sitzstellung, rauchte seine filterlose Zigarette jetzt bis zum Anschlag. Dazu nahm er den kümmerlichen Rest zwischen Finger und Daumen und nuckelte daran, dampfte dabei und blies Rauch aus wie eine in Beschleunigung geratene Dampflok des 19. Jahrhunderts. Zeichen höchsten Missbehagens! Konnte es sein, dass dieser coole Bulle ins Wanken geriet?
Dann kam etwas.
„Ja, massieren ist ja okay, Aber sich waschen lassen. Bin ich eine alte Krücke oder was?“
„Mann, sei nicht so empfindlich. Darum geht es nicht. Du bist natürlich nicht alt und gebrechlich, ein Greis, igitt. Nicht dran zu denken!“ Dabei lachte er dreckig.
Ein drohender Blick traf ihn.
„Nein, nein. Trotzdem! Warum sich nicht weiter von so einer Professionellen verwöhnen lassen? Die Möglichkeiten nutzen, die diese Krankenschwester bietet ...“
„Was willst du damit sagen? Red nicht um den heißen Brei herum. Spuck's endlich aus!“
„Na, pflegen, pflegen. Woran denkst du dabei?“
Bullys Ahnungen verwandelten sich allmählich in Gewissheiten. Gleichzeitig war ihm der Gedanke und die wagen Vorstellungen so peinlich, dass er kein Wort herausbrachte. Das Massieren hatte man ja noch als Spiel abtun können, aber das andere …
„Genau, schnackelt's?“
Er blickte zur Rumpelkammer, schluckte Speichel hinunter, hatte aber noch so viel Feuchtigkeit um die Lippen, dass er sie mit seiner Zunge wegzulecken versuchte.
„Äh, warum nicht ...“
Jetzt erhob sich Blondy zu seiner vollen Größe, um nicht gleich los zu spurten, sondern aus einer vollen Dose Bier in aufrechten Haltung einen gewaltigen Schluck zu machen, der ihm leicht wie ein Wasserfall durch Kehle und Speiseröhre in den Magen floss. Als er absetzte, rülpste er und jubilierte: „Ja, Mann, wir haben sie in der Hand. Wir können mit ihr machen, was wir wollen.“
Bully ging allmählich die Dimension des Ganzen auf.
Blondy merkte es ihm an seinen Gesicht an.
„Hast hast du es endlich erfasst, Mann!“
„Ja, und wie.“
Statt Bully das Geschehen bestimmte, tat es nun Blondy, in dem er befahl: „Also, lass schon mal heißes Wasser in die Wanne laufen. Ich komme gleich mit ihr nach!“
„Eh, Mann, mach ich!“
Erstaunlich, dass Bully sich herumkommandieren ließ. Das zeigt, wie betroffen er von der ganzen Sache war. Offensichtlich war er nicht mehr ganz bei Sinnen.
Die Haare auf ihrem Körper hatten sich bereits aufgestellt. Sie hatte alles gehört, Silbe für Silbe.
Ihr war furchtbar übel, ihr Magen drehte sich wie ein Karussell im Kreis und sie suchte Halt an einem Schrupper, damit sie nicht umkippte und sich wehtat. Aber dafür wäre es eh zu eng gewesen.
Sie sah glasklar, was auf sie zukam.
Die Vorstellung war widerlich, ekelhaft, abstoßend. Und doch spürte sie, wie Entspannung durch ihren Körper strömte, denn in dieser dunklen, stickigen Kammer auf engstem Raum war sie eingeschnürt wie in ein zu enges Korsett. Ihr Kreislauf war bereits eingeschlafen und alles verlangte nach Bewegung.
So ein Wohlfühlgefühl signalisierte ihr Körper. Es war verrückt, denn die Aussichten waren düster.
Körper und Verstand kämpften noch eine Weile miteinander, bis alles entschieden war. Dann versuchte sie. sich zu trösten und zu beruhigen. Wenn sie aus der Kammer herauskäme, würde sich vielleicht eine neue Möglichkeit auftun wie etwa, zu fliehen, aus dem Haus zu entkommen, sich zu befreien.
Sie löste ihre Hand vom Besenstiel und war bereit. Schon öffnete sich das Holzgitter, ein starker Arm zerrte sie an der Schulter heraus und sie stand vor der Rumpelkammer und nicht mehr in dieser bedrückenden Enge.
„Wohin bringst du mich?“
„Mädchen, spiel hier nicht die Ahnungslose! Du weißt genau, was auf dich zukommt. Du bist ja nicht taub, du hast alles mitgehört, was wir gequatscht haben!“
Blondy bugsierte sie unsanft zur Holzstiege, die vom Erdgeschoss in den ersten Stock führte. Selbst danach musste er der Widerspenstigen noch in den Rücken stoßen, damit sie die knarrenden Bretter und ausgetretenen Stufen der Holztreppe erklomm. Sie war nicht so leicht bereit, sich ihrem Schicksal zu fügen, oh nein.
"Was passiert jetzt?"
"Mädchen, ich bin der Kaiser von China und du noch Jungfrau!"
Er stieß sie weiter die Treppe hinauf.
Wenigstens der Blonde! Seine körperliche Nähe ertrug sie noch am ehesten. Doch ihr schwante etwas und sie stieß aus: Bitte, nicht der grimmige Dunkle! Nur nicht dieser finster dreinblickende Kerl!
Als sie den Treppenabsatz erreichten, versuchte er sie zu beruhigen. Dabei wehte eine Alkoholfahne an ihr Ohr.
„Mädchen, mach dir nicht gleich ins Höschen. Wir machen hier keine Melange zu dritt alla Moussee oder wie das heißt. So wie die Franzosen es treiben. Nein, bei uns herrschen keine französischen Zustände, bei uns geht's noch geordnet und gesittet zu. Einer nach dem anderen! Das kann ich dir garantieren.“
Ein eigenartiges irres Kichern erfolgte.
Sie sah eine Tür. Durch die leicht geöffnete Türspalte fiel ein gelbes Sprühlicht und ein feuchter, weißer Dampf drang heraus. Sie wurde die paar Meter dorthin mehr gedrückt, als dass sie selbst die Schritte machte. Dann stand sie aber wie versteinert da, bewegungslos und zu keinem weiteren Schritt mehr fähig, um durch diese Tür zu treten. „Marsch!“ und ein rüder Stoß bugsierte sie dorthin, an der Schulter von Blondy gehalten, der gleichzeitig geschickt mit der anderen Hand die Tür ganz öffnete. Heißer Dampf schlug ihr brutal ins Gesicht.
Sie konnte nichts sehen, außer einem dunklen Etwas und Bulg Drei Meter weiter vor ihr. Hinter sich hörte sie die Tür ins Schloss fallen. Ein Schlüssel krächzte im Schloss. Sie saß in der Falle.
Sie befand sich in einem Raum, der von dichtem Wasserdunst und Dampf erfüllt war. Es zeichnete sich allmählich eine Badewanne heraus, die als Quelle dieses heißen Wassernebels diente und von dort Schwaden aufsteigen ließ, die den Raum erfüllten. An einem Ende der Wanne ragten aus dem Wasser Füße, am anderen ein Schädel, der sich in seinen Nacken zurückgelehnt hatte. Daneben hing schlaff ein Arm über den Seitenrand, als säße der Träger in einem flotten Caprio und fuhr an einem lauen, schwülen Sommerabend durch die Landschaft.
Es gab kein Zurück. Nur schnell die Sache hinter sich bringen, gebot sie sich.
Mit fast geschlossenen Augen ging sie beherzt auf die Wanne zu und was und wer sich allmählich an einer Gestalt in der Wanne langsam herausschälte, raubte ihr den Atem. Das Herz sank ihr in den Magen. Ihr wurde speiübel. Mit dem anderen, den Blonden, zugange zu sein, wäre ihr leichter gefallen, weniger unangenehm. Aber dieser ging ihr total gegen den Strich. Sie wusste ja schon, was auf sie zukam, aber als sie diesen Ekelbatzen in seiner natürlichen Pracht und Herrlichkeit erblicken musste, drehte sich alles um sie herum.
Die Hitze in ihrem Gesicht und an ihrem Hals griff nun auf den ganzen Körper über und sie fühlte sich sofort pitschnass, weil aus jede einzelene Pore ihres Körpers Schweiß ausströmte.
Einen abstoßenden Menschen waschen zu müssen, war schon schwer genug. Schließlich war Waschen eine intime Handlung. Aber die Aussicht, dann noch andere Dinge tun zu müssen, die sich nicht vermeiden lassen, war unerträglich. Nun, sie musste sich dieser übermenschlichen Herausforderung stellen. Obwohl sie sich davor ekelte. Auch wenn sie gerade diesen Menschen verachtete.
Dieses ekelhafte Parfüm, das billige Gel und der säuerliche Alkohol – ihr stockte der Atem, sie war kurz davor, sich zu übergeben. Zumal wegen dieser finstere Charakter, den dieser Mann ausstrahlte: Mürrisch, unberechenbar und zu Geilheit und Gewalt neigend.
Angewidert räusperte sie ihre Nase, als rieche sie förmlich die sauren Endorphine und das Adrenalin, das er ausströmte. Zum Glück konnte er das nicht sehen.
"Worauf wartest du, he!"
Augen zu und durch und schon verschlang sie der Dampf, sie drang in ihm ein und wurde insbesondere von einer eine Meter über der Wanne hohe Mosaikwand aus bunten Kacheln angezogen. Die Handwerker hatten es mit viel liebevoller Kleinstarbeit und Sorgfalt geschaffen. Nur waren an einigen Stellen bereits Fliesen herausgebrochen. Aus den durchtränkten Rändern bröselte das Fugenmaterial, Gips und Beton. Schade, das Gebilde hatte etwas.
Aus einer Seifenschale, die in die Mosaikwand eingefügt und die links und rechts mit zwei Schwalbenplastiken verziert war, deren Köpfe jedoch abgebrochen waren, nahm sie eine Seife.
Diese beschädigte, jugendstilartige Gestaltung hinterließ gleichfalls Traurigkeit.
Die Besitzer des besonderen Gestaltung hatten alles verfallen lassen, leider nicht wieder nachgebessert und saniert.
Sie hörte ein Brummen und suchte nach einem Lappen mit den Augen.
Über der Mosaikwand hing ein Spiegelschrank, den sie öffnete. Der Inhalt war das reinste Chaos, aber sie konnte ein Stück Seife sowie einen verknitterten Waschlappen entdecken und herausnehmen.
Als sie den Schrank wieder schloss stand sie im Spiegel einer Fremden gegenüber.
Sie dachte, so ist es gut, du bist jetzt einfach eine fremde Person, die in einem Film spielt, den du nur distanziert und interessiert verfolgst. Als ob das alles keine Bedeutung hätte. Als ob es jemand anderem an einem anderen Ort widerfahren würde.
„Wird's bald!"
Sie gab sich innerlich einen Ruck, gebot sich zu tun, was sie tun musste, ohne weiter nachzudenken. Dabei beobachte sie sich, ihr Handeln, den ganzen Set und Drumherum von einem weit weg entfernten Standpunkt, ob sie auf einer Leiter von oben herab alles verfolgte. Punkt.
Sie den Lappen ins Wasser und seifte ihn ein. Sie setzte sich mit einem Oberschenkel auf den Rand der Kopfseite der Wanne. Damit war sie nicht beobachtbar.
Irgendetwas hatte sich verändert. Die Wahrnehmung der Abläufe verlangsamte sich, einen Handstreich nach dem anderen machte sie gemächlich, wie in Zeitlupe, als hätte sie eine halluzinogene Droge zu sich genommen. Sie hatte aber niemals in ihrem Leben so etwas getan.
Doch konnte sie sich nicht dagegen wehren und so verfolgte sie ihr Tun wie einen Film: langsam und ein Bild nach dem anderen, als ob die Szene fotografiert werden würde.
Sie akzeptierte es schnell. Dadurch fiel es ihr vielleicht leichter, das zu tun, was zu tun war?
Gleichzeitig lag über allen Dingen ein trüber Schleier, der nicht vom Wasserdampf herrührte. Wie ein überdrehtes Fischauge vielleicht. In der Mitte der Bilder war es am klarsten, aber an den Rändern war das Bild sehr trüb und zerfranste. Mensch, außer dass sie einmal gekifft hatte, einmal eine Prise Koks genommen, hatte sie nichts zu sich genommen. Aber trotzdem sah sie alles fast wie auf LSD. So hieß doch diese Droge, oder?
Sie empfand aber bei ihrem Tun, den Kopf zu waschen, Erleichterung, weil sie sich hinter dem geilen Kerl befand und ihm nicht direkt in die Augen starren musste. Den Anblick eines krummen Rücken war leichter zu ertragen als eine grimmige Visage. Der man am liebsten die Augen ausgekratzt hätte. Schlimm genug war sein Duft aus Männerschweiß und Alkoholgeruch, wo sich bei diesem widerlichen Säuregeruch einem fast der Magen umdrehte.
Instinktiv kniff sie die Augen zu, um ihr sensibelsten Organ zu schützen.
Aber halt!
Das durfte sie auch nicht.
Drehte er sich plötzlich um!
Oder vielleicht beobachtete er sich aus seiner Postion heraus in einem Spiegelbild? Was wusste sie.
Zumindest konnte sie den Kopf abwenden bei der Arbeit, damit sie nicht die Gift direkt ins Gesicht geblasen kriegte. Aber langsam den Kopf zur Seite wende. Dabei sich aber zu einer verräterischen Geste hinreißen lassen.
Außer den Augen, fiel ihr jetzt auch ein, würden womöglich durch diesen Gestank am Ende noch ihre sensiblen sensiblen Nasenschleimhäute angegriffen!
„Na, mach schon, Hure!“ Kopf und Rücken beugten sich vor und signalisierten: Ich bin bereit!
Filmriss.
Sie war wie gelähmt.
Was bildete sich dieser Berggorilla ein? Dass sie seine Sexsklavin wäre? Er, der Herr und Gebieter, sie die Sexsklavin, untertänig und ohne Rechte? Dass er etwas Besseres wäre als sie?
Sie musste es ertragen. Wahrscheinlich noch viel mehr. Schlimmeres.
Nach dieser Schockstarre ging sie hurtiger zur Arbeit über. Klatschte den Lappen auf die vorgebeugte Schulter, rieb vor Angst und Wut rüde die borstige Haut, ruppelte wie über ein Waschbrett, während der Bearbeitete grunzte und Laute des Wohlgefallens ausstieß und unterdrückte.
„Fester, Schnalle!“
Sie rieb über seine Borsten, als würde sie mit einem Reibeisen hin und her fahren. Es machte sogar ein Kratzgeräusch, so widerlich das sich auch anhörte.
„Aua, pass doch auf! Du zerreißt mir noch mein Halsband.“
Er drehte sich zu ihr um und warf ihr einen fürchterlichen Blick zu.
Woher sollte sie wissen, dass an diesem dicken Hals eine goldene Kette hing?
Schnell rieb sie weiter, fuhr erneut an seinem Hals entlang, nur sanfter, hob die Kette leicht an und bearbeitete langsam und unermüdlich die roten Streifen, die die Kette an seinem Hals hinterlassen hatte. Massierte sie sogar. Knetete sie zwischen Daumen und Zeigefinger.
Sie widerstand den Impuls, ihn zu würgen, leider hatte sie kein geeignetes Werkzeug zur Hand. Die Kette war ungeeignet, wahrscheinlich riss sie. Der Lappen zu kurz, als dass man ihn um den Nacken legen könnte, dann an den beiden Ende zu packen und ihn zu erdrosseln. Und ihre starken Hände würde nicht die genügende Kraft ausüben können. Der Stiernacken war zu hart und muskulös.
Nein, es bot sie leider keine Chance für einen Erdrosselung.
Sein Kopf bewegte sich zur Seite, um nach hinten zu lugen. Hatte er ihre Gedanken erraten? Vorsicht, nicht innehalten mit den Bewegungen, schnell weiter massieren. Das konnte sie sehr gut, wie sie wusste. Dafür war sie in der Schwesternschaft bekannt, so oft hatte sie ihre Freundinnen damit beglückt.
Der Druck ihrer kräftigen Hände entfaltete eine entspannende, angenehme und wohltuende Wirkung unter seiner kruden, muskulösen Haut. Er drehte seinen Nacken im Kreis und gab sich den Schauern hin, die seinen Rücken hinauf und hinunter liefen. Nach einer Minute nickte er ein, schwieg verdächtig lange.
Aufrecht saß er in der Wanne, der Kopf hing schlaff zwischen den Schultern nach vorn.
Jetzt wäre der richtige Moment - ein Schlag mit einem harten Gegenstand auf den dumpfen Schädel und aus die Maus. Sie schaute um sich. Stand in einer Ecke nicht so ein Basketballschläger. Nein. Oder den Kopf unter die Wasserfläche tauchen. Nein, ein Ding der Unmöglichkeit, ihre Kraft würde nicht ausreichen, ihn lange genug unter Wasser zu tauchen.
Sie seufzte, spülte mit der Dusche heißes Wasser über seine nach Gel, Parfüm und Alkohol riechenden abstehenden Borsten. Ein Spritzer Haarshampoo in die flache Hand und sie wusch ihm den Schädel mit allen zehn Fingern.
Plötzlich richtete er den Kopf auf. Der Gesalbte erwachte aus seinem tiefen Schlaf .
„Pass auf, Hure! Nicht so heftig!“
„Tut mir leid!“
Stattdessen lagen ihr ganz andere Worte auf der Zunge, sogar ironische: „Was, ein bisschen Gefühl wäre nicht schlecht!?“ Würde er das verstehen? Wo dachte sie hin?
Dann drehte sie die Dusche voll auf, um die dreckige Soße aus seinen Haaren zu spülen.
Als sie den Brausearm auf die Seitenhalterung legte, also dicht über ihn gebeugt war, packte er ihren Kopf mit einer großen Hand und hielt ihn fest umklammert. Langsam bewegte er ihn nach unten in Richtung seines Schoßes.
„Jetzt zeig mal, was du kannst, Weibsstück!“
Gleichzeitig stöpselte er den Abfluss aus, begleitet von einem lauten Gluckern des Wassers. Mit dem langsamen Absinken der Wasseroberfläche tauchte sein schmieriger, ekliger, krummer Schliegel unaufhaltsam wie eine Moräne aus der Tiefe des Meeres auf ...
Kapitel 10 - nicht besonders relevant
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Der erste Abend war ruhig verlaufen.
Der zweite Tag begann schon weniger gemütlich.
Vorkehrungen für die Bewirtung der Gäste mussten getroffen werden. Einkaufen gehen, aber halt, die Vorräte würden noch bis Montag reichen. Aber es war schon lästig, sich darüber Gedanken machen zu müssen. Immerhin war die Tankstelle nicht weit, wo man sich mit Alkoholika versorgen konnte, sobald es brannte. Und es brannte ständig. Das war leider ein teurer Lebensstil.
War ja nur vorübergehend, dachten sie. Nächste Woche sah es schon anders aus. Spätestens bis Mittwoch, Donnerstag würde sie nur so in Geld schwimmen. Also, warum nicht jetzt schon so leben wie übermorgen?
Es blieb nichts anderes übrig zu tun, als auf die Geldübergabe zu warten. Das konnte dauern. Eine halbe Million waren kein Pappenstiel. Eine solch hohe Summe würde nicht einfach von einem Geldautomat ausgespuckt werden. Ein Besuch bei der Bank war nötig. Außerdem musste der ganze Arztclan seinen Obolus beitragen. Das alles würde sich hinziehen. Wie lange wohl? Vermutlich nicht vor Dienstag. Genau, wie die Arztfrau ja schon prophezeit hatte.
Und es konnte durchaus noch länger gehen. „Wenn ich an die kommenden drei, vier Tage denke, wird mir jetzt schon sterbenslangweilig!“, stöhnte Blondy. Man brauchte Geduld, sehr viel Geduld. Geduld, ein Fremdwort, für das sie am wenigsten Verständnis hatten.
Bereits nach einem Tag der Entführung stehen und liegen die beiden jetzt untätig und unschlüssig herum, als hätte man sie an einem fremden Ort abgesetzt, nur nicht bei sich zuhause. Die einzige Abwechslung besteht darin, dass sie ein Six-Pack oder einen Kasten Bier nach dem anderen von der Tankstelle um die Ecke holen. Was kann man sonst schon Sinnvolles tun als Saufen?
Warten … Warten... Warten …
Der Bulle war ja schon beim ersten Aufeinandertreffen, beim Parkplatz, von der Frau hin und weg. Aber als sie jetzt in der Küche putzte und spülte, wurde es heikel. Er musste sie beobachten, das war sein Job. Er sagte sich, dass er nur auf eine Geisel aufpasst, damit sie nicht unbedachte Dinge macht. Mehr nicht.
Nun, wo sie in der Küche spült und hantiert, hat er sie ihm vollen Blick und ihm entgeht kein Detail. Die Umstände lassen es zu.
Die Wände der Küche sind so feucht, dass das Spülmobiliar nicht mehr in der Wand festgemacht ist. Es fehlt der Halt, so dass es mitten im Raum auf zwei Böcken steht, in denen die zwei großen Spülbecken verkrätscht und mit Seilen provisorisch festgemacht sind. Das eine Becken ist für das Spülen im Spülwasser vorgesehen, das mit heißen Wasser gefüllt ist. Im anderen wird es in blankem, kaltem Wasser abgewaschen und abgeschreckt. Daneben reiht sich ein länglicher Tisch an, auf dem feuchtes Porzellan und Silberbesteck zum Trocknen auf die Abtropfgestelle und Geschirrkörbe gelegt wird.
So kann man Hilde gut beobachten, wo sie mit der Arbeit beschäftigt ist. Der Körper und das Gesicht ist direkt zum Wohnzimmer gerichtet und durch die offene Küchentür zu sehen. Bully hat sie voll im Blick und sieht direkt in die Augen, wenn sie das Kinn nur etwas hebt. Das Gleiche gilt natürlich auch anders herum. Wenn er sich auf dem Sofa fälzt und nur ein bisschen den Kopf hebt.
Warum setzte sich Bully dieser Gefahr aus? Ahnte er denn nicht, in welch gefährliches Fahrwasser er sich begab? Dabei ist die Überwachung selbst nicht gemeint, die sein muss. Die Gefangene musste ständig beobachtet werden, damit sie nicht plötzlich abhaute. Sie war ein Unterpfand des Lösegelds und damit des Glücks.
Andere Dinge stellten eine viel größere Gefahr dar.
Diese weißen Schultern! Die milchig schimmernde und glatte Haut! Die Oberfläche ist wirklich spiegelglatt. Keine Pore, keine Unreinheit, keine Fältchen, nirgendwo etwas Derartiges - einfach perfekt.
Aber ihre Hüften sind doch ziemlich breit, oder? Bemerkte er nicht. Nahm er nicht wahr.
Er war nur von ihrer perfekten weißen Haut verzaubert. Sie tauchte wie en Scarlett aus einem Hollywoodfilm entsprungen auf.
Er konnte seinen Blick einfach nicht von ihr wenden und war verzaubert.
Da übersieht man schon mal breite Hinterteile. Wird automatisch ausgeblendet. Ganz natürlich. Er starrte ganz einfach nur auf die geschmeidige Samthaut, überall sichtbar durch die legere Kleidung. Dieses war das Ergebnis jahrelanger ausgiebiger Pflege, von Anti-Aging-Salben und Cremes aller Art. Die kostenlosen Probierbeilagen der abonnierten Frauenzeitschrift hatten über die Jahre hinweg ihre Wirkung nicht verfehlt. Aber leider war der Bewunderer der Falsche.
Dieser Verehrer war eine rollige Katze. Wenn er noch einen Funken menschlichen Verstandes hatte, musste er sich ernsthaft Sorgen machen: Was passiert, wenn er noch ein paar Tage mit dieser heißen Schnecke unter einem Dach verbringen muss?
Die Gummibänder des BHs, die sich über die Schulter spannten – wenn man bedenkt, wohin diese Bänder letztlich führten!
Irgendwas irritiert ihn, er bricht seinen festen Blick plötzlich ab. Er wendet sich ab.
Aber sofort schaut er wieder zurück, nachdem er sich wieder gefangen und diese Störung überwunden hat. Der Blick der Krankenschwester trifft ihn mit voller Wucht.
Da es sie peinlich berührt, zieht sie ihre herunterhängenden Spaghetti-Träger über die Achseln, den Pullover über die Blöße, aber es ist zu spät. Der Mann ist krebsrot geworden. Sie sieht es, er bemerkt es. In Drogenkreisen sagt man, er sei angespitzt worden. Das heißt, er muß sein Leben lang gegen den Stoff ankämpfen. Drogensucht als Folge.
Ist sich Bully dieser Abhängigkeit bewusst? Gefahr erkannt, Gefahr bekannt! Keineswegs!
Diese leicht bekleidete Frau brachte ihn völlig aus dem Konzept. Brachte ihn sogar um seinen Verstand, verdammter Mist, verdammter!
Aber ein bisschen ist er schon noch bei Trost und fragt sich zurecht: Wie konnte nur so eine verworfene, liederliche Schlampe wie diese Frau einen solchen Mann wie ihn, der derartig integer und sittenstreng ist, aus der Fassung bringen?
Er ist zutiefst empört. Das darf so nicht stehen bleiben! Eine Antwort muss sofort erfolgen. Doch nur welche? Stattdessen kommt es sogar noch dicker.
Er sieht genauer hin, erblickt, dass die Frau ihn mit einem starren Blick fixiert. Und jetzt weiß er nicht mehr, wie ihm geschieht. Er starrt genauso perplex zurück. Dabei handelt es sich hier nicht um das bekannte Paarspiel, wir schauen uns so lange an, bis einer es nicht mehr aushält und wegschaut. Somit kann sich der andere als Sieger fühlen. Nichts wäre falscher.
Beide sind wirklich wie die Kaninchen von Schlangen hypnotisiert, wobei Kaninchen und Schlange auswechselbar sind. Jeder, im Blick des anderen gefangen, verliert völlig jegliches Zeitgefühl und sein Selbstbewusstsein. Allerdings leiten sie unterschiedliche Beweggründe dabei.
Hilde hat ein Gefühl totaler Angst im Würgegriff. Es heißt sie, dass sie ja nicht irgendwo anders hinblickt, als in diese kalten Augen dieses Brutalos. Es riefe womöglich unabsehbare desaströse Folgen nach sich. In ihren Augen glitzert Verzweiflung, aber sie ist außerstande, den Blick wegzureißen. Ihr Mund steht weit offen, die Augen weit aufgerissen und wie zur Salzsäure erstarrt hält sie einen nassen Teller in der klitschigen Hand, der vor sich hin tropft, aber nicht entgleitet.
Jetzt sind sie quasi beide von sich selbst abgeschnitten. Jeder ist in seiner eigenen Welt gefangen.
Während Bullys eisiger Blick Hilde in antarktische Kältezonen verbannt, weiß sie ganz genau, dass sie in die Augen ihres Mörders blickt. Es gibt kein Entkommen aus den schwindelerregenden Abgründen. Dennoch starrt sie unverwandt weiter ins Dunkle, nicht fähig, sich wegzureißen.
Er hingegen fühlt sich, als läge er auf einer Herdplatte. Diese wärmt sich unaufhaltsam auf. Aber er ist gelähmt. Gleichzeitig wird es immer heißen. Bald wird er geröstet und gebraten werden. Aber wie hypnotisiert macht er keinen Versuch, sich loszueisen. Er schaut nicht nur in Augen, er wird auch in einen Schmelzpunkt hineingezogen, in einen Sog sozusagen. Die Begierde, das Sexuelle, das Erotische – wie lässt es sich schon benennen?
Seine Untätigkeit ist schon ziemlich ungewöhnlich für einen Helden, der ansonsten keine Angst kennt.
Wer weiß wie lange es dauert, dieses Starren? Eine Ewigkeit. Mindestens! Wer weiß, wie lange es noch gedauert hätte, wenn nicht plötzlich Blondy hereingetrampelt wäre wie der Elefant in den Porzellanladen, nichts sehend, riechend, hörend und fühlend und rumbläkend: „Schläfst Du immer beim Arbeiten, Du Schnalle!“
Bully wird puterrot, räuspert sich verlegen und Hilde arbeitet wie von der Tarantel gestochen weiter.
7 . Hinter Gittern
Eine Stunde ist vergangen. Die Jungs liegen genervt und gelangweilt im Wohnzimmer auf der langen Couch hier und dem langen Sessel dort. Plötzlich schreit Bully die Frage aller Fragen laut heraus: „Was machen wir mit der Hure, verdammt?“
Keine Antwort.
Wahrscheinlich ist Blondy gerade eingeschlafen. Doch davon lässt sich der andere nicht beeindrucken, äußert erneut mit lauter Stimme und in einem gekränktem Ton, als hätte soeben seine empfindliche Zunge etwas Bitteres schmecken müssen: „Die ist zu nichts nutze! Sie ist einfach zu nichts nutze. Aber auch zu gar nichts!“
Wahrscheinlich bereute Bully, dass er sich von der Frau so hatte in Beschlag nehmen lassen. Er hatte Schwäche gezeigt. Er war handlungsunfähig gewesen. Er empfand dies als Niederlage. Er befürchtete schon das Schlimmste. Möglich, dass sie ihn um den Finger wickelte. Damit wäre ihr Erpressung gefährdet. Das war ein Punkt, sofort etwas zu unternehmen.
Blondy, der noch immer die Augen geschlossen hält, erhebt auch sein Votum, das ins gleiche Horn stößt: „Du hast es ja gesehen, die schläft im Stehen, die pennt beim Arbeiten. Die gehört auf den Müll!“
Vielleicht ist er etwas erschrocken über seine menschenverachtende Aussage,weil er sich plötzlich aufrichtet. Aber dieser Schrecken dauerte nur wenige Sekunden, denn schon lacht er satanisch aus und in einem Tonfall, als wäre ihm gerade eine geniale Idee gekommen: „Im Garten vergraben, sag ich Dir! Das ist die bester Lösung.“
Dies hieß im Klartext, dass er leicht und locker auf sie verzichten konnte. Erstaunlich? Keineswegs, sie war schließlich nicht der Joker, der ihnen viel Geld versprach. Um die Wahrheit zu sagen: Sie war keinen Pfifferling wert. Außerdem hatte er sowieso einen Groll gegen Weiber, warum auch immer. Wegen einer kürzlich beendeten Beziehung, die nicht so gut lief? Mit dem Rattenschwanz von üblichen Rosen- und Grabenkriegen? In manchen Kreisen gehört dies ja zum guten Ton.
Die Aussage „Im-Garten-Vergraben“ war jedenfalls ein klares Zeichen seiner Geringschätzung. Diese Frau interessierte weder menschlich noch sexuell. Letzteres stand aber im Gegensatz zu seinem Partner.
Dieser knurrte dazu etwas Unverständliches.
Die Person, um das sich das Gespräch dreht, bekommt jedes Wort mit.
Hat sie Angst?
Natürlich! Und wer Angst hat, hofft. Sucht nach Auswegen.
Würde ihr der Arzt zur Seite stehen? Das wäre das Nächstliegende. Aber weit gefehlt!
Sie denkt daran, wie sie ihn das letzte Mal gesehen hat. Es ist zwar erst ein paar Stunden her, aber es kommt ihr so vor, als ob es Tage wären. Es geschah kurz nachdem sie in die Wohnung geführt wurden. „Die Frau in die Besenkammer dort! Der Mann in den Keller!“ Und dann der letzte Blickkontakt, bevor sie voneinander getrennt wurden. Der eigentlich keiner war.
Er hat schnell den Blick abgewandt und zu Boden gesenkt. Dann hat er ihr gleich den Rücken zugekehrt. Die Botschaft war klar und deutlich: jeder musste mit den Gängstern allein zurecht kommen. Jeder war also auf sich selbst gestellt.
Sofort hatte sie sich dagegen gewehrt, aber vergebens. Sie wusste, was es heißt, als Frau zwei Männern ausgeliefert zu sein. Sein Abwenden war allerdings niederschmetternd. Die Männer hatten sie natürlich nur verspottet und brutal in die Besenkammer weggesperrt. In der saß sie jetzt wie der Vogel im Käfig.
Nur gut, dass er jetzt wenigstens nichts mitbekam von dem, was ihr zugemutet wurde. Wenn er ihr schon nicht helfen konnte und wollte. Ihre Qual mit zu erleben, gönnte sie diesem gemeinen Feigling nicht. Sie traute ihm mittlerweile sogar zu, dass er sich daran ergötzen könnte - unerträglich – und hundsgemein!
Diese brutale Übermacht dieser gefühlskalter Brutalos und Frauenverächter – schnell die Vorstellung unterdrücken, sonst bekäme sie keine Luft mehr. Ihre Finger graben sich in die flachen Hände, sie sucht Halt, findet jedoch keinen, außer dem, dass sie in die Knie sinkt und auf den Fersen kauert, wie sie das oftmals als Kind getan hat, während sie mit Kreidestifte aufs Pflaster gemalt hat.
Ah, sie hat verstanden: Kein Platz für unnötiges Mitleid. Jeder rette sich, so gut er kann! Sie springt mutig auf, als würde sie sich keine demütigende Verkleinerung leisten, die dieses Kauern ja ausdrückt, sondern bereit sein, zum Sprung bereit – in die Freiheit hinaus.
Durch die Gitterstäbe blickte sie, durchs Fenster und nach draußen. Aber plötzlich kommt ein Sperling ans Fensters heran geflogen, setzt sich darauf, wendet den Kopf mal mal nach links, mal nach rechts, um das Terrain abzuschecken.
Der hatte es gut. Er war in Freiheit. Wusste aber nicht einmal um die Bedeutung dieser.
Sie klammert sich jetzt mit den Händen an die Holzstreben und drückt ihr Gesicht dagegen, die Nasenpartie schaut dabei vorne heraus, um besser durch die Gitter sehen zu können.
Sie zoomte ihren Blick über das schöne Geschöpf hinweg, um weitere Lebewesen zu entdecken. Es ging über die Zinnen des Gartenzauns und fiel auf den Asphaltweg, der hier vorbeiführte.
Darauf war aber weit und breit, soweit ihr Blickwinkel erlaubte, etwas, was nach Mensch aussah, zu sehen. Keiner. Nicht einmal ein Auto, ein Radfahrer, ein Fußgänger kam in den nächsten fünf Minuten vorbei, wo sie den Blick sehnsuchtsvoll darauf heftete.
Verdammt, der ist schön aus dem Schneider, der Mistkerl! Noch einmal tauchte seine demütige Abwendung, sein Ihr-Rücken-Zuwenden auf, das klipp und klar sagte: Ich bin selbst heilfroh, wenn ich meine eigene Haut retten kann, was geht mich deine an. Er hatte damit angezeigt, dass er er sofort verstand, was auf dem Spiel stand.
Sie ahnte nun, dass sie hier nicht mehr lebend herauskam. Das Gefühl des nahen Todes übermannte sie. Sie fühlte sich dadurch plötzlich körperlich leichter und alles nahm sie von hinter einer Glasur, einem Film, einem Laminat wahr. Unwirklich, wie wenn man Menschen von hinter einer Einwegscheibe, einer Fensterscheibe oder einem Fernglas beobachtete. Alles wirkte erträglich, fast, als betreffe es einem nicht. Als wäre sie schon irgendwo im Jenseits.
Aber da waren doch die Schmerzen, die auf sie zukommen würden!
Der Brutalo würde sie töten, klar. Aber wie? Erwürgen – sie fühlte die Schmerzen am Hals, griff danach, rieb sich – bitte das nicht! Im Keller verhungern, verdursten, vor sich hin darben, jedenfalls elendiglich verenden, sobald die Verbrecher das Lösegeld erhalten hatten und sich aus dem Staube machten – bitte das auch nicht! Welcher Tod denn?
Panik stieg auf, sie blickte wieselflink hin- und her, nach links bis zum Ende des Ausschnitt, der Fensterrahmen, nach rechts, der andere. Dann glitt ihr Blick über die Straße, über Sträucher, bis zum Bahndamm.
Ein Zug sauste vorbei. Was kümmerten die vielen Insassen schon, was in diesen Häusern, wie dem, wo sie einkerkert war, passierte? Nichts! Niemand ahnte etwas. Jeder ging blindlings seiner Geschäfte nach.
Sie fühlte sich mutterseelenallein jetzt, gebot sich aber schnell, nicht aufzugeben, weiter zu suchen und zu kämpfen.
Hinter den Gleisen sah sie die Bäume des Parks, durch den sie hierher verschleppt worden waren. Der Park war ein kleiner Hügel nur. Darüber stießen die kruden Kieferbäume stachelig in den grauen Himmel. Der Himmel war etwas erleuchtet, wahrscheinlich durch das Licht, das das betriebsame, große Bezirkskrankenhaus dahinter ausstrahlte. Deren Korona zeichnete erst die Bäume gegen den Himmel ab.
Sie zog den Blick zurück auf die Straße, schaute wieder in die äußersten Fensterecken hinaus, um vielleicht Nachbarhäuser zu entdecken. Nichts. Das Haus schien ziemlich einsam dazustehen. Aber sie wusste, sie erinnerte sich, da waren doch zumindest auf einer Seite Häuser gestanden. Aber dieses Haus musste das Letzte am Ende eines Blocks gewesen. Dahinter erstreckten sich nur weite Felder und bald wieder dichtes Waldgebiet.
Selbst wenn jetzt ein Passant am Gartenzaun vorbeiginge, um in den nahen Wald spazieren zu gehen, hätte sie keine Chance. Wenn sie laut um Hilfe schrie, würde kein Wort durch die Mauern nach draußen auf den Bürgersteig dringen.
Sie saß in der Falle. Wie eine Maus. Eine graue Maus. Eine kleine, graue Maus, nur noch wert, an eine hungrige Katze verfüttert zu werden. Ansonsten vielleicht tot und verreckt auf dem Misthaufen geworfen zu werden …
Sie sah plötzlich eine Katze dort über die Straße huschen. War es nicht eine schwarze gewesen? Sie musste über sich und ihren Aberglauben lachen. Sie nahm sich vor, sich nicht unterkriegen zu lassen, standhaft zu bleiben, gleich gar nicht solch kindische Gedanken wie Schwarze-Katze-läuft-Dir-über-den-Weg-bringt-Unglück aufkommen zu lassen. Ja, sie glaubte jetzt daran, dass sie ungebrochen daraus hervorgehen würde. Das sie überleben würde. Mit ungebrochenem Rückgrat.
Glücklicherweise wusste sie nicht, was auf zukommen würde.
8 . Massieren
Untätiges Herumliegen führt zu Verspannungen. Bei Bully führte das zu dem Tick, dass er sich ständig den Nacken rieb – sofern man sagen konnte, dass er einen hatte. Zu sehen war keiner, nur zwei dicke Wülste wie bei einem Rottweiler, einer Bulldogge oder einem anderen Kampfhund. Er drehte den Kopf im Kreis und fuhr mit den Händen nach hinten zu dem, was eher den Körpermuskeln einer Boa constricta glich.
„Verspannungen?“
„Du sagst es!“
Blondy sprang auf. Er hatte eine Idee. Er ging zur Besenkammer. Ohne um Erlaubnis zu fragen, schritt er zu einer Handlung, die der Betroffene niemals gutgeheißen hätte.
„Kannst du massieren, Schwester?“
„Schon.“
Er öffnete das Holzgitter, zog die Schwester unsanft an der Hand heraus und zerrte sie mit sich.
„Hier. Ich glaube, die Schwester kann dir helfen.“
„Und?“, hatte Bully etwas ängstlich gestammelt, schließlich brannte der Blickkontakt immer noch in ihm. Die Augen dieser Frau würde er nicht so schnell aus seine Kopf bekommen. Nun stand sie unmittelbar neben ihm, genauer ihr Körper, der sofort wieder das Feuer in ihm entfachte und er stand sofort in Flammen.
Er würde verbrennen, wenn sie ihn nur berührte!
Genau das war das Ziel von Blondy: der körperliche Kontakt zwischen beiden. Was das für Bully bedeutete, ahnte er nicht im Geringsten. Für den anderen war es unvorstellbar, dass sein reiner Körper mit dem der verdorbenen Hure in Berührung kommen könnte, niemals.
„Du hast Verkrampfungen, hast du gesagt. Ich habe eine Medizin dagegen!“
„Hä!“ Bully wollte im ersten Moment gar nichts verstehen.
Blondy blinzelte bedeutungsvoll zur Schwester hin.
Bully sah nur Bahnhof. So schob sich Blondy an Hilde vorbei, die dann hinter ihm verschwand.
Er flüsterte, als er sagte: „Was glaubst du, wie gut so eine Massage tut! Man fühlt sich gleich wie ein neuer Mensch!“ Das Tuscheln war allerdings überflüssig, denn die Schwester verstand alles.
Wieder blinzelte er und da das nicht ankam, zuckte er mit dem Schädel zur Seite hin. Er meinte damit die ahnungslose Krankenschwester.
Bully wurde bloß befangener. Damit war er noch weniger imstande, klar denken zu können.
Blondy sagte deswegen laut: „Gell Schwester, du massierst doch gerne? Besonders um den Nacken bist du Spitze, oder?“
Was blieb ihr übrig: „Ja, schon!“
Endlich fiel bei Bully der Groschen. Trotzdem war er immer noch zu befangen. Da das immer noch das beste Mittel war, verschaffte er sich dadurch Erleichterung, dass er Blondy anschnauzte: „Laber hier nicht rum, Kumpel. Ich weiß, was gespielt wird. Die Schwester kann loslegen.“
So kam das Unglück oder Glück, je nach dem, ins Rollen.
Dennoch äußerte Bully noch Bedenken: „Aber keine Ganzkörpermassage!“
„Aber nein, Halsmassage genügt auch“, beruhigte ihn Blondy. Klang das nicht ironisch?
Blondy sah, was Bully durchmachte und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Okay!“
Dann wandte er sich an Hilde.
„Keine Ganzkörpermassage!“
„Ja, am Nacken halt!“ Der Satz blieb Bully im Mund stecken. Jetzt, wo es konkret wurde, wurde er wieder nervös.
„Ganau. Nackenmassage. Aber vom Feinsten!“
Bully griff sich unwillkürlich an den Nacken, tastete ihn ab. Es stimmte, der Nacken war etwas hart und taub. Aber nach der Massage war sofortiges Waschen angesagt, wer weiß, welche Krankheitserreger diese verdorbene Hure übertrug.
„Aber dass du mir nicht den Halswirbel brichst!“
Blondy lachte jetzt laut auf. War der aber wie ein kleines Kind, das sich vorm Waschen sträubte, der große Bulle, haaha. Ein Mannsbild und solch eine Memme, wer hätte das gedacht?
Endlich hatte Bully verstanden: eine wohltuende Wirkung einer Massage war nicht zu verachten, trotz des Ekelgefühls vor den Berührungen dieser Masseurin. Wäre ich ja dumm, dachte er, sich solch einen Genuss entgehen zu lassen. Na endlich!
„Na gut. Bevor du mir den Kopf abreißt!"
Dennoch wechselte sie noch verstohlene Blicke. Es war ihnen nicht ganz wohl bei der Sache, sie spürten, dass sie dabei waren, eine rote Linie zu überschreiten.
Blondy ging schweigend zu dem einzigen Stuhl, der in der einzigen freien Ecke stand. Erstaunlich bei all dem Gerümpel, das hier herumstand, dass er den Stuhl problemlos ein paar Meter von der Wand wegrücken konnte, ohne irgendwo anzuecken.
Bully erhob sich fast wie ein alter Mann, stöhnte als ob er Schmerzen hätte und rieb sich den Nacken. Das war nur ein Grund, um die Massage zu rechtfertigen. Weil er sich ständig daran rieb, wankte er mehr zum Stuhl, als dass er aufrecht ging. Er setzte sich ordentlich darauf, den Rücken gerade nach vorne geneigt.
„Worauf wartest du? An die Arbeit, Frau Doktor!“
Sie zögerte einen Moment, empört, sie war keine Ärztin oder so etwas, aber dann trat sie an den Stuhl, vielmehr hinter ihm, bereit zur Tat zu schreiten, während Bully nun das Oberhemd auszog, das Unterhemd über den Kopf, ohne es ganz herunterzuziehen.
Dann beugte er den Quadratschädel wie wenn er sich vor dem Henker verneigte.
Zum Glück war zwischen Hildes und Bullys Körper eine Lehne. Die Körper der beiden berührten sich nicht, nur Hand auf Stiernacken. Sonst hätte sie sicher die Nerven verloren und wäre nicht in der Lage gewesen, das zu tun, was man von ihr verlangte.
Dann rückte sie an den Stuhl heran, beugte sich weit vor und machte sich an die Arbeit.
Sie bemühte sich, rein technisch und praktisch vorzugehen, vermied jedes zärtliche Streicheln, knetete seine Schultern, den Rücken, massierte die harten Verspannungen unter den Schulterblättern und versuchte die weicheren Muskeln weiter unten zu lockern. Sein Atem wurde ruhiger, gleichmäßiger. Die Ahs und Ohs, das unterdrückte Seufzen und Grunzen, das Bully entfuhr, verstummten allmählich. Ihre Massagebewegungen zeigten Wirkung. Trotzdem keine Physiotherapeutin, noch ausgebildete Masseurin am Werk war.
Schlagartig herrschte Stille. Eine Ruhe hatte den Raum erfasst, dass es schon unheimlich war.
Ein Lächeln huschte über Bullys finsteres Gesicht. Nur einen flüchtigen Moment. Schnell Unterhemd übern Kopf gezogen, Hemd angezogen und während er die Knöpfe schloss, stieß er die heftigen Worte aus: "Schaff die Schlampe hier raus!"
Es klang seltsam, fast beleidigt.
Hatte er gerade nicht eine wunderbare Massage verpasst gekriegt? War das nicht Anlass zur Zufriedenheit? Da kenne sich einer aus bei der Dumpfbacke!
Blondy zuckte die Achseln, packte die Schwester mit einem Beißzangengriff bei der Hand, schleifte sie mit sich zur Besenkammer und warf sie mit einem Druck auf den Rücken hinein. Es schepperte, als er das Brettergatter zuschlug; es krächzte, als er den Riegel betätigte.
9 . Wenn schon, denn schon
Was nun folgte, hörte die junge Frau in ihrem Kerker Silbe für Silbe und Wort für Wort. Sie sträubte sich vehement gegen die Ahnung, dass etwas Schreckliches geschehen könnte. Doch konnte sie nichts dagegen tun. In dieser Abstellkammer war sie eingesperrt wie ein wildes Tier in einem Käfig. Nur dass sie sich ihrer Lage bewusst war, unterschied sie von einem Tier.
Und nun konnte sie genau mitverfolgen, was ihre Peiniger ausheckten.
„War das gut?“
„Hm!“
Mehr kam nicht von Bully. Eindeutiger sich zu äußeren, dazu war er nicht fähig. Das wäre ein Zugeständnis gewesen. Ein Lob. Eine Streicheleinheit für die verdorbene Hure. Worte hätten nur einen Verlust bedeutet und noch mehr Verlegenheit ausgelöst, als er ohnehin schon empfindet.
„Ich wusste es. Denn die Braut ist Krankenschwester. Deshalb wusste ich, dass sie massieren kann.“
„Hm.“
„Hm, da fällt mir noch was ein. Die Tussi ist doch Krankenschwester.“ Blondy schoss wieder ein Gedanke durch den Kopf.
„Eh! Na und?“
„Na, wenn sie Krankenschwester ist und massieren kann, wie wir gesehen haben … Also, wenn sie Krankenschwester ist, ist sie doch eine Art eine Pflegerin!? Oder?“
„Kann schon sein.“
„Und eine Pflegerin kümmert sich um den Körper eines Menschen. Normalerweise, den eines kranken Menschen. Aber sie kann genauso gut um einen gesunden Körper kümmern.“
„Ja, und?“
„Funkt es nicht?“
Der Dunkle warf Blondy einen zweifelnden Blick zu. Gleichzeitig auch in Richtung des Gesprächsgegenstandes, zur Rumpelkammer. Die Aussicht nach diesem kurzen, schnellen Spaß noch weitere Glücksmomente zu erzielen, vor allem längere, intensivere brachte ihn zum Schlucken.
„Mann, zum Kranke pflegen gehört ja auch waschen … Das gehört ja dazu!“
Doch der Bulle zierte sich, das ist deutlich. Mehr eigentlich. Wie sonst konnte man sein Verhalten deuten: Er erhob sich von der horizontalen Lage in Sitzstellung, rauchte seine filterlose Zigarette jetzt bis zum Anschlag. Dazu nahm er den kümmerlichen Rest zwischen Finger und Daumen und nuckelte daran, dampfte dabei und blies Rauch aus wie eine in Beschleunigung geratene Dampflok des 19. Jahrhunderts. Zeichen höchsten Missbehagens! Konnte es sein, dass dieser coole Bulle ins Wanken geriet?
Dann kam etwas.
„Ja, massieren ist ja okay, Aber sich waschen lassen. Bin ich eine alte Krücke oder was?“
„Mann, sei nicht so empfindlich. Darum geht es nicht. Du bist natürlich nicht alt und gebrechlich, ein Greis, igitt. Nicht dran zu denken!“ Dabei lachte er dreckig.
Ein drohender Blick traf ihn.
„Nein, nein. Trotzdem! Warum sich nicht weiter von so einer Professionellen verwöhnen lassen? Die Möglichkeiten nutzen, die diese Krankenschwester bietet ...“
„Was willst du damit sagen? Red nicht um den heißen Brei herum. Spuck's endlich aus!“
„Na, pflegen, pflegen. Woran denkst du dabei?“
Bullys Ahnungen verwandelten sich allmählich in Gewissheiten. Gleichzeitig war ihm der Gedanke und die wagen Vorstellungen so peinlich, dass er kein Wort herausbrachte. Das Massieren hatte man ja noch als Spiel abtun können, aber das andere …
„Genau, schnackelt's?“
Er blickte zur Rumpelkammer, schluckte Speichel hinunter, hatte aber noch so viel Feuchtigkeit um die Lippen, dass er sie mit seiner Zunge wegzulecken versuchte.
„Äh, warum nicht ...“
Jetzt erhob sich Blondy zu seiner vollen Größe, um nicht gleich los zu spurten, sondern aus einer vollen Dose Bier in aufrechten Haltung einen gewaltigen Schluck zu machen, der ihm leicht wie ein Wasserfall durch Kehle und Speiseröhre in den Magen floss. Als er absetzte, rülpste er und jubilierte: „Ja, Mann, wir haben sie in der Hand. Wir können mit ihr machen, was wir wollen.“
Bully ging allmählich die Dimension des Ganzen auf.
Blondy merkte es ihm an seinen Gesicht an.
„Hast hast du es endlich erfasst, Mann!“
„Ja, und wie.“
Statt Bully das Geschehen bestimmte, tat es nun Blondy, in dem er befahl: „Also, lass schon mal heißes Wasser in die Wanne laufen. Ich komme gleich mit ihr nach!“
„Eh, Mann, mach ich!“
Erstaunlich, dass Bully sich herumkommandieren ließ. Das zeigt, wie betroffen er von der ganzen Sache war. Offensichtlich war er nicht mehr ganz bei Sinnen.
Die Haare auf ihrem Körper hatten sich bereits aufgestellt. Sie hatte alles gehört, Silbe für Silbe.
Ihr war furchtbar übel, ihr Magen drehte sich wie ein Karussell im Kreis und sie suchte Halt an einem Schrupper, damit sie nicht umkippte und sich wehtat. Aber dafür wäre es eh zu eng gewesen.
Sie sah glasklar, was auf sie zukam.
Die Vorstellung war widerlich, ekelhaft, abstoßend. Und doch spürte sie, wie Entspannung durch ihren Körper strömte, denn in dieser dunklen, stickigen Kammer auf engstem Raum war sie eingeschnürt wie in ein zu enges Korsett. Ihr Kreislauf war bereits eingeschlafen und alles verlangte nach Bewegung.
So ein Wohlfühlgefühl signalisierte ihr Körper. Es war verrückt, denn die Aussichten waren düster.
Körper und Verstand kämpften noch eine Weile miteinander, bis alles entschieden war. Dann versuchte sie. sich zu trösten und zu beruhigen. Wenn sie aus der Kammer herauskäme, würde sich vielleicht eine neue Möglichkeit auftun wie etwa, zu fliehen, aus dem Haus zu entkommen, sich zu befreien.
Sie löste ihre Hand vom Besenstiel und war bereit. Schon öffnete sich das Holzgitter, ein starker Arm zerrte sie an der Schulter heraus und sie stand vor der Rumpelkammer und nicht mehr in dieser bedrückenden Enge.
„Wohin bringst du mich?“
„Mädchen, spiel hier nicht die Ahnungslose! Du weißt genau, was auf dich zukommt. Du bist ja nicht taub, du hast alles mitgehört, was wir gequatscht haben!“
Blondy bugsierte sie unsanft zur Holzstiege, die vom Erdgeschoss in den ersten Stock führte. Selbst danach musste er der Widerspenstigen noch in den Rücken stoßen, damit sie die knarrenden Bretter und ausgetretenen Stufen der Holztreppe erklomm. Sie war nicht so leicht bereit, sich ihrem Schicksal zu fügen, oh nein.
"Was passiert jetzt?"
"Mädchen, ich bin der Kaiser von China und du noch Jungfrau!"
Er stieß sie weiter die Treppe hinauf.
Wenigstens der Blonde! Seine körperliche Nähe ertrug sie noch am ehesten. Doch ihr schwante etwas und sie stieß aus: Bitte, nicht der grimmige Dunkle! Nur nicht dieser finster dreinblickende Kerl!
Als sie den Treppenabsatz erreichten, versuchte er sie zu beruhigen. Dabei wehte eine Alkoholfahne an ihr Ohr.
„Mädchen, mach dir nicht gleich ins Höschen. Wir machen hier keine Melange zu dritt alla Moussee oder wie das heißt. So wie die Franzosen es treiben. Nein, bei uns herrschen keine französischen Zustände, bei uns geht's noch geordnet und gesittet zu. Einer nach dem anderen! Das kann ich dir garantieren.“
Ein eigenartiges irres Kichern erfolgte.
Sie sah eine Tür. Durch die leicht geöffnete Türspalte fiel ein gelbes Sprühlicht und ein feuchter, weißer Dampf drang heraus. Sie wurde die paar Meter dorthin mehr gedrückt, als dass sie selbst die Schritte machte. Dann stand sie aber wie versteinert da, bewegungslos und zu keinem weiteren Schritt mehr fähig, um durch diese Tür zu treten. „Marsch!“ und ein rüder Stoß bugsierte sie dorthin, an der Schulter von Blondy gehalten, der gleichzeitig geschickt mit der anderen Hand die Tür ganz öffnete. Heißer Dampf schlug ihr brutal ins Gesicht.
Sie konnte nichts sehen, außer einem dunklen Etwas und Bulg Drei Meter weiter vor ihr. Hinter sich hörte sie die Tür ins Schloss fallen. Ein Schlüssel krächzte im Schloss. Sie saß in der Falle.
Sie befand sich in einem Raum, der von dichtem Wasserdunst und Dampf erfüllt war. Es zeichnete sich allmählich eine Badewanne heraus, die als Quelle dieses heißen Wassernebels diente und von dort Schwaden aufsteigen ließ, die den Raum erfüllten. An einem Ende der Wanne ragten aus dem Wasser Füße, am anderen ein Schädel, der sich in seinen Nacken zurückgelehnt hatte. Daneben hing schlaff ein Arm über den Seitenrand, als säße der Träger in einem flotten Caprio und fuhr an einem lauen, schwülen Sommerabend durch die Landschaft.
Es gab kein Zurück. Nur schnell die Sache hinter sich bringen, gebot sie sich.
Mit fast geschlossenen Augen ging sie beherzt auf die Wanne zu und was und wer sich allmählich an einer Gestalt in der Wanne langsam herausschälte, raubte ihr den Atem. Das Herz sank ihr in den Magen. Ihr wurde speiübel. Mit dem anderen, den Blonden, zugange zu sein, wäre ihr leichter gefallen, weniger unangenehm. Aber dieser ging ihr total gegen den Strich. Sie wusste ja schon, was auf sie zukam, aber als sie diesen Ekelbatzen in seiner natürlichen Pracht und Herrlichkeit erblicken musste, drehte sich alles um sie herum.
Die Hitze in ihrem Gesicht und an ihrem Hals griff nun auf den ganzen Körper über und sie fühlte sich sofort pitschnass, weil aus jede einzelene Pore ihres Körpers Schweiß ausströmte.
Einen abstoßenden Menschen waschen zu müssen, war schon schwer genug. Schließlich war Waschen eine intime Handlung. Aber die Aussicht, dann noch andere Dinge tun zu müssen, die sich nicht vermeiden lassen, war unerträglich. Nun, sie musste sich dieser übermenschlichen Herausforderung stellen. Obwohl sie sich davor ekelte. Auch wenn sie gerade diesen Menschen verachtete.
Dieses ekelhafte Parfüm, das billige Gel und der säuerliche Alkohol – ihr stockte der Atem, sie war kurz davor, sich zu übergeben. Zumal wegen dieser finstere Charakter, den dieser Mann ausstrahlte: Mürrisch, unberechenbar und zu Geilheit und Gewalt neigend.
Angewidert räusperte sie ihre Nase, als rieche sie förmlich die sauren Endorphine und das Adrenalin, das er ausströmte. Zum Glück konnte er das nicht sehen.
"Worauf wartest du, he!"
Augen zu und durch und schon verschlang sie der Dampf, sie drang in ihm ein und wurde insbesondere von einer eine Meter über der Wanne hohe Mosaikwand aus bunten Kacheln angezogen. Die Handwerker hatten es mit viel liebevoller Kleinstarbeit und Sorgfalt geschaffen. Nur waren an einigen Stellen bereits Fliesen herausgebrochen. Aus den durchtränkten Rändern bröselte das Fugenmaterial, Gips und Beton. Schade, das Gebilde hatte etwas.
Aus einer Seifenschale, die in die Mosaikwand eingefügt und die links und rechts mit zwei Schwalbenplastiken verziert war, deren Köpfe jedoch abgebrochen waren, nahm sie eine Seife.
Diese beschädigte, jugendstilartige Gestaltung hinterließ gleichfalls Traurigkeit.
Die Besitzer des besonderen Gestaltung hatten alles verfallen lassen, leider nicht wieder nachgebessert und saniert.
Sie hörte ein Brummen und suchte nach einem Lappen mit den Augen.
Über der Mosaikwand hing ein Spiegelschrank, den sie öffnete. Der Inhalt war das reinste Chaos, aber sie konnte ein Stück Seife sowie einen verknitterten Waschlappen entdecken und herausnehmen.
Als sie den Schrank wieder schloss stand sie im Spiegel einer Fremden gegenüber.
Sie dachte, so ist es gut, du bist jetzt einfach eine fremde Person, die in einem Film spielt, den du nur distanziert und interessiert verfolgst. Als ob das alles keine Bedeutung hätte. Als ob es jemand anderem an einem anderen Ort widerfahren würde.
„Wird's bald!"
Sie gab sich innerlich einen Ruck, gebot sich zu tun, was sie tun musste, ohne weiter nachzudenken. Dabei beobachte sie sich, ihr Handeln, den ganzen Set und Drumherum von einem weit weg entfernten Standpunkt, ob sie auf einer Leiter von oben herab alles verfolgte. Punkt.
Sie den Lappen ins Wasser und seifte ihn ein. Sie setzte sich mit einem Oberschenkel auf den Rand der Kopfseite der Wanne. Damit war sie nicht beobachtbar.
Irgendetwas hatte sich verändert. Die Wahrnehmung der Abläufe verlangsamte sich, einen Handstreich nach dem anderen machte sie gemächlich, wie in Zeitlupe, als hätte sie eine halluzinogene Droge zu sich genommen. Sie hatte aber niemals in ihrem Leben so etwas getan.
Doch konnte sie sich nicht dagegen wehren und so verfolgte sie ihr Tun wie einen Film: langsam und ein Bild nach dem anderen, als ob die Szene fotografiert werden würde.
Sie akzeptierte es schnell. Dadurch fiel es ihr vielleicht leichter, das zu tun, was zu tun war?
Gleichzeitig lag über allen Dingen ein trüber Schleier, der nicht vom Wasserdampf herrührte. Wie ein überdrehtes Fischauge vielleicht. In der Mitte der Bilder war es am klarsten, aber an den Rändern war das Bild sehr trüb und zerfranste. Mensch, außer dass sie einmal gekifft hatte, einmal eine Prise Koks genommen, hatte sie nichts zu sich genommen. Aber trotzdem sah sie alles fast wie auf LSD. So hieß doch diese Droge, oder?
Sie empfand aber bei ihrem Tun, den Kopf zu waschen, Erleichterung, weil sie sich hinter dem geilen Kerl befand und ihm nicht direkt in die Augen starren musste. Den Anblick eines krummen Rücken war leichter zu ertragen als eine grimmige Visage. Der man am liebsten die Augen ausgekratzt hätte. Schlimm genug war sein Duft aus Männerschweiß und Alkoholgeruch, wo sich bei diesem widerlichen Säuregeruch einem fast der Magen umdrehte.
Instinktiv kniff sie die Augen zu, um ihr sensibelsten Organ zu schützen.
Aber halt!
Das durfte sie auch nicht.
Drehte er sich plötzlich um!
Oder vielleicht beobachtete er sich aus seiner Postion heraus in einem Spiegelbild? Was wusste sie.
Zumindest konnte sie den Kopf abwenden bei der Arbeit, damit sie nicht die Gift direkt ins Gesicht geblasen kriegte. Aber langsam den Kopf zur Seite wende. Dabei sich aber zu einer verräterischen Geste hinreißen lassen.
Außer den Augen, fiel ihr jetzt auch ein, würden womöglich durch diesen Gestank am Ende noch ihre sensiblen sensiblen Nasenschleimhäute angegriffen!
„Na, mach schon, Hure!“ Kopf und Rücken beugten sich vor und signalisierten: Ich bin bereit!
Filmriss.
Sie war wie gelähmt.
Was bildete sich dieser Berggorilla ein? Dass sie seine Sexsklavin wäre? Er, der Herr und Gebieter, sie die Sexsklavin, untertänig und ohne Rechte? Dass er etwas Besseres wäre als sie?
Sie musste es ertragen. Wahrscheinlich noch viel mehr. Schlimmeres.
Nach dieser Schockstarre ging sie hurtiger zur Arbeit über. Klatschte den Lappen auf die vorgebeugte Schulter, rieb vor Angst und Wut rüde die borstige Haut, ruppelte wie über ein Waschbrett, während der Bearbeitete grunzte und Laute des Wohlgefallens ausstieß und unterdrückte.
„Fester, Schnalle!“
Sie rieb über seine Borsten, als würde sie mit einem Reibeisen hin und her fahren. Es machte sogar ein Kratzgeräusch, so widerlich das sich auch anhörte.
„Aua, pass doch auf! Du zerreißt mir noch mein Halsband.“
Er drehte sich zu ihr um und warf ihr einen fürchterlichen Blick zu.
Woher sollte sie wissen, dass an diesem dicken Hals eine goldene Kette hing?
Schnell rieb sie weiter, fuhr erneut an seinem Hals entlang, nur sanfter, hob die Kette leicht an und bearbeitete langsam und unermüdlich die roten Streifen, die die Kette an seinem Hals hinterlassen hatte. Massierte sie sogar. Knetete sie zwischen Daumen und Zeigefinger.
Sie widerstand den Impuls, ihn zu würgen, leider hatte sie kein geeignetes Werkzeug zur Hand. Die Kette war ungeeignet, wahrscheinlich riss sie. Der Lappen zu kurz, als dass man ihn um den Nacken legen könnte, dann an den beiden Ende zu packen und ihn zu erdrosseln. Und ihre starken Hände würde nicht die genügende Kraft ausüben können. Der Stiernacken war zu hart und muskulös.
Nein, es bot sie leider keine Chance für einen Erdrosselung.
Sein Kopf bewegte sich zur Seite, um nach hinten zu lugen. Hatte er ihre Gedanken erraten? Vorsicht, nicht innehalten mit den Bewegungen, schnell weiter massieren. Das konnte sie sehr gut, wie sie wusste. Dafür war sie in der Schwesternschaft bekannt, so oft hatte sie ihre Freundinnen damit beglückt.
Der Druck ihrer kräftigen Hände entfaltete eine entspannende, angenehme und wohltuende Wirkung unter seiner kruden, muskulösen Haut. Er drehte seinen Nacken im Kreis und gab sich den Schauern hin, die seinen Rücken hinauf und hinunter liefen. Nach einer Minute nickte er ein, schwieg verdächtig lange.
Aufrecht saß er in der Wanne, der Kopf hing schlaff zwischen den Schultern nach vorn.
Jetzt wäre der richtige Moment - ein Schlag mit einem harten Gegenstand auf den dumpfen Schädel und aus die Maus. Sie schaute um sich. Stand in einer Ecke nicht so ein Basketballschläger. Nein. Oder den Kopf unter die Wasserfläche tauchen. Nein, ein Ding der Unmöglichkeit, ihre Kraft würde nicht ausreichen, ihn lange genug unter Wasser zu tauchen.
Sie seufzte, spülte mit der Dusche heißes Wasser über seine nach Gel, Parfüm und Alkohol riechenden abstehenden Borsten. Ein Spritzer Haarshampoo in die flache Hand und sie wusch ihm den Schädel mit allen zehn Fingern.
Plötzlich richtete er den Kopf auf. Der Gesalbte erwachte aus seinem tiefen Schlaf .
„Pass auf, Hure! Nicht so heftig!“
„Tut mir leid!“
Stattdessen lagen ihr ganz andere Worte auf der Zunge, sogar ironische: „Was, ein bisschen Gefühl wäre nicht schlecht!?“ Würde er das verstehen? Wo dachte sie hin?
Dann drehte sie die Dusche voll auf, um die dreckige Soße aus seinen Haaren zu spülen.
Als sie den Brausearm auf die Seitenhalterung legte, also dicht über ihn gebeugt war, packte er ihren Kopf mit einer großen Hand und hielt ihn fest umklammert. Langsam bewegte er ihn nach unten in Richtung seines Schoßes.
„Jetzt zeig mal, was du kannst, Weibsstück!“
Gleichzeitig stöpselte er den Abfluss aus, begleitet von einem lauten Gluckern des Wassers. Mit dem langsamen Absinken der Wasseroberfläche tauchte sein schmieriger, ekliger, krummer Schliegel unaufhaltsam wie eine Moräne aus der Tiefe des Meeres auf ...
Kapitel 10 - nicht besonders relevant
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C. Sonntag Nacht
11. Das Spiel noch einmal, nur schärfer...
Blondy und Bully fläzten sich in ihrem Wohnzimmer, sich zu Tode langweilend. Geiselnahme kann ein zähes Geduldsspiel sein! Wer hätte das gedacht? Eine Blechdose mit Bier nach der anderen wurde geleert. Man türmte die leeren Dosen langsam zu einer Pyramide auf den Tisch auf, den man in der Mitte vom Kuddelmuddel befreit hatte.
Kein Wunder, dass sie so viel tranken. Schon am Vormittag des dritten Tags war die Spannung unerträglich. Wie würde diese Entführung wohl enden? Am besten, man betrank sich. Dosenbier war genug da. So saßen sie sich beide auf der Coach hier und dem weiten Sessel dort gegenüber und sahen die Pyramide Schub für Schub wachsen. Auch eine schöne Zeitvertreibung, oder? Schade nur, dass man deswegen und wegen der vielen anderen Sachen nicht gemütlich die Beine auf den Tisch hochlegen konnte.
Das war aber typisch, immer stimmte irgend etwas nicht. Genau wie bei dem Projekt Erpressung, bei der man auch nicht an alles gedacht hatte. Sie hätten doch die Geiseln mit einer Binde blind machen sollen. Damit sie nicht wissen, wo sie sich jetzt aufhalten.
„Überleg mal, wenn die wieder frei sind, dann führen sie die Polizei sofort hierher zum Entführungsort.“ Ja, diese Tatsache stand mit einmal in scharfer Klarheit vor ihnen, als hätte es ein Messer herausgeschnitten und als könnte man sich bei falscher Bewegung daran schneiden.
Die Frage, die da kam, war reine Abwehr und Vertuschungsversuch: „Was machen wir, wenn wir die Kohle haben?“
„Wie meinst? Es natürlich ausgeben!“
Bully brummte missmutig. Typisch für Blondy, der gerne den Kopf in den Sand steckte.
„Du weißt genau, was ich meine!“
„Ähm, ja. Lass mich mal raten.“
„Tu nicht so blöd!“ Und Bully war schon nahe dran, sich wieder zu erheben. Das wäre ungemütlich geworden, einerseits für ihn, da er den Oberkörper erheben musste und andererseits mehr noch für Blondy, der eine geballte Wut voll mit Speichel-Aerosole ins Gesicht abbekommen hätte.
„Okay, bleib ruhig. Ich weiß schon. Die Geiseln. Was machen wir mit ihnen? Hm?“
Das strapazierte eindeutig ihre Vorstellungskraft. Dann musste diese eben geölt werden: Schluck aus der Blech-Bulle. Bald war sie leer und stellte den nächsten Baustein der sich meterhoch erhebenden Pyramide auf dem Tisch dar. Sie war schon recht imponierend. Und diese Tatsache besänftigte wiederum, lenkte ab von den bohrenden Fragen und Unwägbarkeiten, die sich plötzlich aufgetan hatten, heute morgen, beim Bier, im Entführungstag Nummer drei.
„Freilassen!?“
„Mensch, die Freigelassenen wissen hundertprozentig, wo wir wohnen. Spätestens in einer Stunde würde die Polizei vor der Tür stehen.“
„Mensch, man hätte sie besser mit einer Augenbinde dort oben auf dem Parkplatz versehen sollen, als wir sie entführt haben.“
„Klugscheißer, hinter her weiß man es immer besser!“
„Halt halt. Mach mal halblang. Und du hast auch nicht dran gedacht.“
Was stimmt, das stimmt. Er hatte auch nicht daran gedacht! Bockmist!
„Du sagst es!“
So beruhigte sich wieder die Stimmung. Die aber nach wie vor angespannt blieb.
Jetzt war klar, sie hatten voreilig und unüberlegt gehandelt! Man hätte den Geiseln nicht nur die Augen, sondern auch die Ohren verstopfen müssen.
Aber jetzt war es zu spät!
Schluck aus der Bulle.
Die einzige Möglichkeit bestand darin, die Geiseln hier zu fixieren. Nach ner Wochen würde sie, die Entführer, rechtzeitig geflohen und sich nach Übersee abgesetzt haben, nach Amerika, in irgendein Land jenseits der Meere. Am besten nach Lateinamerika, oder ein paar Jahre am Strand von Goa in Indien verbringen oder in Thailand, wo die geilen Nutten nur auf solche wie sie warteten, kurzum, jeder Winkel der Welt stand ihnen offen. Geld genug würde in der Kasse sein.
Die Vorstellung, die Geiseln würde hier vermodern, war ihnen andererseits auch nicht geheuer. Mensch, nichts war geplant, vorbereitet, durchdacht worden. Wie Stümper hatten sie sich verhalten. Und jetzt stand die Frage übermächtig vor ihnen: Konnten sie überhaupt so holterdiepolter und unvorbereitet ins Ausland aufbrechen?
„Mal abgesehen von den Geiseln, meine ich“, meinte Bully. Dem schien deren Schicksal am wenigsten zu kümmern.
„Ach, die Pässe. Genau, ich habe sie mir mal angesehen. Sie sind noch gültig.“
Wenigstens etwas, was in Ordnung war. Was würde es aber helfen? Gültige Ausweise, in dieser Welt, wie hieß die wieder, in dieser globalisierten Welt. Es gibt zum Beispiel Interpol. Die sollen ziemlich fix sein. Und mittlerweile hängt ja alles mit allem zusammen, alles ist vernetzt und verdrahtet, verpeilt und verbunden. Da ist die Suche nach Flüchtenden wohl nur ein Kinderspiel. Nirgendwo konnte man sich heutzutage wirklich sicher fühlen.
„Ist doch wahr!“, bekräftigte Bully. Ein Schluck aus der Bulle tat Not.
Aber wozu sich über die Zukunft den Kopf zerbrechen?
Eines war jedenfalls klar: weg! Weg heißt weg. Koffer packen. Aber so schnell wie möglich, damit hier Schluss und Ende war.
Jetzt wurde ihnen aber noch mulmiger, wenn sie an die Zukunft dachten, an dieses Für-immer und ohne Heimat.
Ein bisschen unsicher schon, das alles.
Aber es ging nicht anders. Die Fliege machen und das sofort!
So-fort!
Keine Zeit, das Zelt in aller Ruhe abzubrechen. Man musste schnell handeln. Nicht ins Grübeln kommen. Nicht nachdenken.
Was für ein mühseliges Geschäft!
Waren sie deshalb nicht bedauernswert?
Aber es half nichts, dieses Selbstmitleid.
„Scheiß Bier! Das macht transelig!“
„Du sagst es, Kumpel. Du sagst es!“
Bully trank seine Dose aus und zerquetschte sie diesmal. Das war die Letzte und die die auf die Spitze gesetzt werden musste. Der Anblick der zerdrückten Dose obenauf aus Spitze der Pyramide war zum Umfallen komisch.
Sie lachten sich schier schief, bis einer wieder den Kater bekam.
Blondy: „Eigentlich Verschwendung!“
„Du meinst das Dosenpfand?“
„Genau!“
Dann brachen beider wieder in Lachen aus, schlugen sich auf die Schenkel, öffneten wieder eine Bulle, die in die Gegen spritzte, was noch mehr Lachen hervorrief undsoweiter. War alles klar, sie hatten es längst nicht mehr nötig, diese Dosenpfand. Doch das Lachen klang ziemlich künstlich. Denn die anderen Dinge blieben dennoch nicht liegen.
Nein, ab und weg, auf dem kürzesten Weg zum Flughafen. Von wegen überlegen, wohin, warum, womit - keine Verzögerung. Geht nicht. Sondern so schnell wie möglich in den nächsten Flieger. Egal wohin. Hauptsache weg, weit weg von hier.
Die Gedanken drehten sich wie bei einer Gebetsmühle.
Ohne Planung? Auch ohne. Das wird schon!
Aber wohin mit den Geiseln?
Hier zurücklassen oder irgendwo anders aussetzen, vielleicht im Tunnel?
Es durfte nicht geschehen, dass die Gefangenen etwa nicht rechtzeitig entdeckt werden, verhungern und das ganze Haus mit ihrem Leichengeruch verpesten. Obwohl es ihnen eigentlich egal sein könnte.
Außerdem würden sie eh früher oder später entlarvt werden und ihre Identität ans Licht geraten. Vielleicht sperrten sie sie lieber hier ein, ließen sie hier im Haus zurück? Die Polizei würde ihren Unterschlupf ohnehin nach ein paar Tagen entdecken, wenn die Lösegeld-Zahler Alarm schlagen würden.
Oder zumindest eine Geisel mitnehmen, falls die Bullen unerwartet an der nächsten Ecke lauerten. Dann hatten sie ein Faustpfand. In den Flieger konnten sie sich natürlich nicht mitnehmen.
An all das musste man denken. Musste man. War bestimmt nicht verkehrt.
„Du sagst es, Kumpel!“
„Yeah!“
„Prost!“
„Hau weg die Scheiße!“
Puh. Kidnapping war kein einfaches Geschäft!
So vieles müsste man bei einem Kidnapping berücksichtigen, mitdenken, die Für und Wider auf die Waage legen - wer hätte das gedacht? Dabei war man doch nur Entführer wider Willen. War sozusagen in diese Rolle hineingeschlittert. Was konnten sie dafür? Alles kam unvorbereitet und überraschend. Völlig unvorbereitet saßen sie jetzt in der Bredouille und mussten schauen, wie sie sie meisterten.
Plötzlich stürzte die Pyramide auf dem Tisch in sich zusammen.
Keine drei Meter von ihnen entfernt gibt es jemanden, den reale Sorgen plagen. Dieser Mensch sitzt wirklich in der Klemme. Nicht nur räumlich. Die drangvolle Enge, die sperrigen Gegenstände, das ständige Stehen sind schlimm genug.
Aber das ist nicht alles.
Er leidet an einem körperlichen Gebrechen, an einem Manko, über das er unter normalen Umständen kaum sprechen kann und unter den gegebenen treibt ihm allein der Gedanke daran, Schamesröte ins Gesicht. Das ist, ob man es glaubt oder nicht, schlimmer, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man sich mit erpresstem Lösegeld aus dem Staub machen kann.
Es drückt, neben dem, was ringsum drückt, etwas ganz und gar Unerbittliches: Zähne. Aber nicht einfach Zahnschmerzen, sondern etwas, das auf das Selbstbild einer Frau drückt, die etwas auf ihren Körper hält. Und welche Frau tut das nicht? Es drückt stark, sehr stark. In diesem Fall besonders.
Seit Jahren rächt sich die Vernachlässigung ihrer Zähne, die bis in ihre Kindheit zurückreicht. Ihre bäuerliche Herkunftsfamilie vertrat hartnäckig die Meinung, warum in Zahnvorsorge und damit in Schönheit investieren, wenn Frau doch nur zupacken und Kinder gebären müsse? Außerdem habe jedes Familienmitglied Zahnprobleme und müsse spätestens mit vierzig ein künstliches Gebiss tragen. Warum sollte es ihr besser ergehen? Auch wenn der zahnmedizinische Fortschritt Prophylaxe möglich macht.
Das Fatale ist, dass gute, ebenmäßige, weiße Zähne in der Stadt eine andere Rolle spielen als auf dem Land. Aber wer weiß schon, ob es sie eines Tages dorthin verschlägt? Im Falle doch, wäre sie doch lieber zu Hause geblieben!
Nun ja, ihr künstliches Gebiss braucht Pflege. Das Mindeste, was sie tun kann, ist, es jeden Abend in eine Schatulle mit einem speziellem Mittel zu legen.
Woher soll sie das nehmen? In ihrer Gefangenschaft. In dieser Abstellkammer? Sie hatte keine Tabletten. Natürlich wusste sie, dass ihre Gastgeber zu einer Tankstelle gingen, wo es bestimmt welche gab.
Sie warf einen Blick durch die Ritzen der Bretter, auf das ungewaschene Geschirr, den überquellenden Mülleimer in der Ecke und den Unrat, der hier und da auf Boden, Tisch und Schrank verstreut lag. Zur Idylle fehlten nur noch die quiekenden Ratten, die hier und da herumhüpften.
Und in diesem Haus sollte sie Verständnis für die Reinigung künstlicher Zähne finden?
Hoffentlich hatten sie wenigstens genug vom Sex. Wenn sie sich vorstellte, wie sie jetzt wieder über sie herfielen, nachdem sie ihre Zähne zum zweiten Mal in der Nacht nicht hatte putzen und reinigen können und bereits ein deutlich muffiger Geruch aus dem Mund entwich ...
Verzweifelt klammerte sie sich an die hölzernen Gitterstäbe und schloss die Augen wie zu einem Gebet.
Es erschien zwecklos und unvorstellbar angesichts dieser gewaltbereiten Entführer auf Verständnis zu stoßen, die selbst nichts auf die Reihe bekamen und jeglicher Sinn für Ordnung abhanden ging.
Blondy dachte an seine unglücklichen Erfahrungen mit den Sexportal-Miezen. Er sann nach Rache. Er sah dunkel eine Chance, sich an ihnen zu rächen.
„Komm, heute noch einmal!“
„Hä!“
„Die Hure!“
„Die Hure?“
„Du weißt schon!“
„Von mir aus!“
Der so nüchtern tat, hatte längst Blut geleckt.
„Sofort?“
Blondy gab die einleuchtendste Erklärung, davon abgesehen, hätte es aber keinerlei bedurft.
„Klar, eine Hure muss jeden Tag gut durchgefickt werden, sonst fühlt sie sich nicht wohl. Wird grantig, launisch, hysterisch! Wie eine Kuh, die nicht jeden Tag gemolken wird. Fängt an, rumzumuhen und zu brüllen.“
„Stimmt, stimmt. Wie recht du hast!“ So gesehen erfüllten sie einen Dienst am Tier.
„Das können wir uns nicht leisten. Wenn die ihren hysterischen Anfall kriegt, sich nicht mehr unter Gewalt hat, stößt sie mit den Füßen wild um sich, zerstört das Holzgitter, verlässt die Wohnung und rennt auf die Straße, wenn wir einmal nicht aufgepasst haben, weil du in der Küche bist und ich gerade auf dem Klo. Was weiß man schon, was der Teufel ausheckt! Kann ja alles sein!“
Genau, wie eine Kuh, die störrisch geworden ist und die niemand mehr halten kann.
Hier schnappt er nach Luft, um gestärkt wieder mit seinem Redeschwall weiterzufahren.
„Oder sie plärrt außer Rand und Band geraten, kreischt in den höchsten Tönen, dass es bis auf die Straße hinaus zu hören ist und dann haben wir den Salat. Schneller als wir denken, stehen die Bullen in der Wohnung. Nein, da müssen wir gegensteuern. Wir sind gezwungen, sie ruhigzustellen. Das muss uns gelingen!“
Genau, wenn Kühe schreien, sind die Bullen nicht mehr weit.
„Genau, sie will ein Stück von meinem Speck. Weil sie ihn braucht!“ Dazu lacht Bully gedrungen in sich hinein. Bully denkt wohl, sie verzehre sich in ihrer sexuellen Zwangslage schier nach ihm, seinen gestählten Körper, seiner Muskelmaschine eines bulligen Körpers …
Zumal jetzt, wo sie angestochen worden war!
Was sein muss, muss sein! Diese Hure herzunehmen, war ein Muss, das man nicht umgehen konnte. Es war ihre Pflicht und Schuldigkeit, die Schnalle ruhigzustellen, wenn sie nicht die Geiselnahme auf Spiel setzen wollten wegen einer ausrastenden wild gewordenen Kuh im Stall. Die Vorstellung des Scheiterns ihres Unternehmens ging aber total gegen ihr Männerbild.
Gegen sie selbst, diese erprobten harten Kerle.
Die es jeder Frau zeigten, wenn sie es brauchte.
Nein! Niemals!
Während Blondy an Rache und Vergeltung dachte, verhielt sich zumindest Bully entschieden wie ein Mann und bekam wahrhafte männlich Visionen, die ihn fest im Griff hielten und zwar sehr fest. Dagegen konnte er einfach nicht an: Zuerst stellte er sich vor, wie er sie auf die Knie zwang und sie ihm einen ... Und dann, ja dann ins Gesicht, aber voll … Und klar, dann drehen und von hinten... Aber richtig! Und hart! Hart!!!
So sollte es kommen. Und mehr. Ach, wäre es nur so geschehen, wie der Lauf der Dinge verhieß und der beißende Mundgeruch unentdeckt! Allen wäre viel Ärger, Verdruss und Misshandlung erspart geblieben.
Als Bully fertig war, trat er sein Opfer so heftig mit den Knien in den Hintern, dass es nach vorne auf die Hände fiel, sich zwar sofort auf dem Boden umdrehte, nur mit gespreizten Beinen und damit einen so verlockenden Anblick und Lockvogel anbietend, dass Blondy hinter der Tür hervortrat. Er hatte die Szene durch den Türspalt verfolgt. Das heimlich verfolgte Schauspiel hatte ihn plötzlich derartig geil und fickrig gemacht, dass er sich nicht mehr beherrschen konnte, an den schwer atmenden Bully herantrat, ihn grob beiseite schob und krächzte: „Jetzt lass mich mal ran!“ Er sei entschuldigt, denn in normalen Fällen wäre das unmöglich gewesen. Aber was wunder, nach diesen doofen Erfahrungen mit diesen Zimperlieschen im Portal ...
Die Krankenschwester wollte schon wieder die Beine einklappen, aber Blondy warf sich gerade noch rechtzeitig dazwischen und zwar mit voller Wucht und voll frontal. Seine Zähne gruben sich raubtierhaft in ihren Hals, in ihren Mund – oh, das hätte er nicht tun sollen - und bekam die versalzene Suppe voll in den Hals.
Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf, wischte sich angewidert den Mund und schrie, als hätte er sich mit Säure verätzt: „Igittigitt, die stinkt aus dem Maul wie die Pest! Päh.“ Und er lief eilig ins Bad, spülte sich schnell den Mund aus und putzte sich gründlich die Zähne.
Der Krankenschwester war das höchst peinlich.
„Ich muss mir nachts die Zähne putzen, in Chemie einweichen. Ich habe künstliche Zähne. Die müssen jeden Tag geputzt und gereinigt werden!“
Nach dieser Gruppenvergewaltigung war sie so beschämt, dass sie nicht einmal ihre Peiniger beschimpfen konnte, wie sie es verdient hätten. Aber die Scham war tatsächlich stärker.
„Und du willst eine Hure sein? Wäscht und putzt dich nicht einmal gründlich und stinkst zehn Meilen gegen den Wind aus dem Mund! Pah!“
Und er gab ihr eine.
„An der mach ich mir nicht die Hände schmutzig!“ Er wandte sich angewidert ab.
Wer weiß, welche Krankheiten sie mit sich herumschleppte. War sie aber nicht ein wirkliche Krankenschwester, eine ausgebildete? Dann sollte sie doch besonders reinlich sein! Hygiene war doch das oberste Gebot in diesem Bereich, oder?
Es war klar, dass mit der etwas nicht stimmte!
So durfte sich diese kontaminierte Person nach dieser Gruppenvergewaltigung nicht mehr im Wohnbereich aufhalten, zu dem auch die Rumpelkammer gehörte. Ab in Quarantäne, isoliert und weggesperrt, so weit weg wie möglich. Ab in Keller zum Illuministen und feigen Geldsack.
Leichter gesagt als getan.
Zuerst versuchten sie es auf die sanfte Tour. Doch als sie das dunkle Loch sah, in das die Kellertreppe führte, verlor sie die Nerven. Ein paar Schläge auf den Kopf sollten sie zur Vernunft bringen. Aber brachte sie völlig aus der Fassung.
„Ihr Idioten, geilen Säcke, Kanaillen! Ihr widerliches Pack, Abschaum, Gossenpisse, Ratten, Schmeißfliegen...“ So ließ sie ihrer Wut freien Lauf. Am meisten wunderte sie sich über sich selbst. Sich so gehen lassen, hätte sie nicht für möglich gehalten.
„Du Stinktier, wagst es, uns zu beleidigen!“
Bully zögerte nicht lange, packte sie grob am Arm, verdrehte ihn schmerzhaft auf den Rücken und forderte Blondy auf: „Los, mach schon. Pack die Schnepfe!“
Sie strampelte wie verrückt mit den Füßen, schlug wild mit den Händen um sich, aber es half nichts – die beiden kräftigen Kerle hatten sie sofort gepackt und zerrten mit aller Kraft an ihr. Sie musste buchstäblich wie ein Sack Kartoffeln in den dunklen Keller geschleift werden. Kantige Treppenstufen erschwerten den Weg. Das hinterließ natürlich körperliche Spuren.
Im Keller befand sich eine Zelle, die, wie die Rumpelkammer, aus einem Holzgitter bestand. In diese wurde die Renitente kurzerhand hineingeworfen.. Glücklicherweise befand sich am Ende des kleinen Raumes ein altes Sofa, auf dem sie unverletzt zum Liegen kam. Das Vorhängeschloss des Gitters schnappte hinter ihr zu, sie drehte sich um, warf sich gegen die Holztür, rüttelte wie verrückt, aber vergeblich.
„Gossenpisse, Abschaum, Dreck seid ihr, nichts weiter, ihr...“ Sie beschimpfte ihre Peiniger weiter, aber vergeblich. Ihre Flüche, Beschimpfungen und Drohungen waren schon beeindruckend, zumal von einem so schüchternen, unschuldigem Landmädchen.
Wenigstens blieben die Angesprochenen stehen.
Einer schaute dem anderen ins Gesicht.
Blondy pfiff anerkennend und sagte: "Hör dir das an. Nicht schlecht, was!“
Bully war weniger zum Scherzen aufgelegt und sagte nur kurz: „Was denkst du? Hast du etwas anderes von einer Hure erwartet?“ Das war ernst gemeint.
Blondy war erstaunt über seine Humorlosigkeit, nickte aber bedächtig und zuckte schließlich mit den Schultern: „Du hast Recht. Lassen wir der Hure ihren Spaß!“
Ungerührt, sie drehten sich nicht einmal um, stampften sie die enge Treppe wieder zurück.
Die Krankenschwester warf sich auf ein Sofa in der hintersten Ecke der Zelle und heulte jämmerlich auf, bis es nur noch gottserbärmlich wimmerte. Aber niemand hörte sie, außer dem, dem seine Haut wichtiger war und dem dies völlig kalt ließ.
12. Die Krankenschwester packt aus...
Man hatte ihr übel mitgespielt. Neben der seelischen Qual der zweimaligen Vergewaltigung waren auch die sichtbaren körperlichen Verletzungen beeindruckend. Als sie vom Boden hochgehoben, in den Schwitzkasten genommen und in den Keller gezerrt wurde, hatten die beiden Kerle kräftig zugelangt. Deutliche Schürfwunden, blaue Flecken und blutige Narben im Gesicht, an Händen und Beinen hatte sie davongetragen. Außerdem schmerzte ihr Ellenbogen fürchterlich, weil sie sich an Ecken und Kanten gestoßen haben musste.
Sie rafft sich auf und kommt endlich aus der hintersten Ecke des Raumes nach vorne an das Gitter, an die Holzlatten und greift mit ihren Händen nach zwei Latten und rüttelt daran. Der Riegel mit dem Vorhängeschloss am Gatter wird gerüttelt, aber die Tür öffnet sich nicht. Zum einen hält das Schloss, zum anderen sind die Bretter stabil genug. Verzweifelt langt sie durch das Gitter, zerrt am Eisen, aber vergebens. Es bewegt sich nicht. Das Schloss ist felsenfest verriegelt.
Einen langen, langen Moment steht sie wie versteinert da und starrt ins Leere.
Tränen stehen in ihren Augen, sie wollen nicht heraus. Ihre Augen sind nur feucht.
Jemand rasselt mit Ketten.
Plötzlich geht ein Ruck durch ihren Körper, ihre Gefühle überwältigen sie. Sie weint gegen ihren Willen. Obwohl sie weiß, wer zusieht und zuhört, das Geräusch weist auf den hin, den sie mittlerweile verachtet, durchbricht ein unbändiger Schmerz einen Damm. Wasser schießt ihr ins Gesicht und der Schmerz verzerrt es zu einer hässlichen, garstigen Fratze. Sie ist ihren Gefühlen machtlos ausgeliefert, kann sich aber noch abwenden vom Gitter, durch das man hierherein schauen kann.
Sie stößt sich ab, dreht sich um und verbirgt Gesicht mit den Händen.
„Ich musste immer verzichten. Mein ganzes Leben lang. Jetzt habe ich es satt. Zurückstecken, nachgeben, verzichten und wieder verzichten und jetzt ist mein Leben vorbei.“
Unwillkürlich rüttelt der Arzt an der Hundekette. Er kann diese Selbstmitleid nicht ertragen. Es ist ihm nicht unbekannt.
'Die kriegt sich jetzt nicht mehr ein! Die kriegt sich jetzt nicht mehr ein, verdammt!'
Es klingt ängstlich, aber seine Befürchtungen werden noch übertroffen, so schlimm sie jetzt ohnehin schon sind. Auch er ist vor Tränen und Wehklagen nicht gefeit, selbst seiner gewollten und notwendigen Distanz zu ihr. Dass sie sich so weit gehen lässt, hätte er ihr nicht zugetraut, hätte ihr einen härteren Charakter unterstellt, weil sie nach außen so unnahbar und hart wirkte, aber ihre Zurückhaltung war weniger ein Zeichen von Stärke als von Schwäche und nun bröckelt ihre Fassade.
„Nein, ich will nicht mehr, ich will nicht mehr! Ich will hier raus! Und du, sag doch was! Tu doch was!“ Sie dreht sich um, greift nach den Gittern und zwängt ihr Gesicht dazwischen, um ihn besser fixieren zu können.
'Mann, die fängt jetzt an zu spinnen, durchzudrehen.'
„Mach doch was! Steh nicht einfach so da. Sag doch was!“
Er merkt, er muss reagieren.
„Mal sehen! Es ist noch nicht aller Tage Abend!“, sagt er zu ihr, Worte, die hohler nicht klingen nicht sein könnten, wie er sofort merkt. Aber was soll er sonst schon sagen und tun? Nichts, er hat keinen Plan, er kann nur kuschen!
Natürlich hat er Mitleid. Er kennt ihre Biographie. Dass sie es als Tochter einer Bauernfamilie schwer hatte. Der große Bruder den Löwenanteil des Besitzes geerbt, Hof, Ställe, Felder, Wiesen, Wälder. Ihr blieben nur ein paar Tausender, um ihre Ausbildung zu finanzieren. Es war zwar ein helfender Beruf, auf dem Land hoch angesehen, aber sie hätte es besser verdient. Eine höhere Schule durfte sie nicht besuchen, obwohl ihr Lehrer ihre Eltern inständig darum bat. Sie hätte die Voraussetzung und die Intelligenz für ein Gymnasium.
Am härtesten traf sie jedoch die Einstellung ihrer Eltern zur zahnärztlichen Behandlung. Eine prophylaktische Korrektur der sich früh abzeichnenden kariösen Zahnbildung, wurde nicht für notwendig erachtet. Schon in jungen Jahren mit einem künstlichen Gebiss litt ihre Eitelkeit sehr. Der Gedanke an eigene Kinder wurde ihr von klein auf ausgeredet und als Schreckensbild an die Wand gemalt. Wer nichts hat, sollte keine Kinder in die Welt setzen. Es sei denn, das verstand sich von selbst: „Du angelst dir einen reichen Mann.“
Hatte sie in dem Arzt einen Anwärter gesehen, ihren Zukünftigen, trotz der Anderen, der Ehefrau, der Widersacherin, des Pendants, das ja früh sterben könnte? Aber nach allem, was jetzt noch kommen konnte, war es nicht ausgeschlossen, dass sie die Erste sein würde, die ins Gras biss.
„Und du kannst mich jetzt nicht heiraten. Nein, wir kommen nicht mehr zusammen. Da kommen wir nie heil raus. Die sind zu brutal. Die bringen uns um.“
„Leg dich hin!“, befahl er ihr. Verlegen blickte er in eine Ecke. Die Sache ging ihm zu nahe. Diese Gefühle, die ihm gezeigt wurden, machten ihn nur verlegen und verwirrten ihn.
'Schnell – wehr dich!'
Was er noch für diese Frau empfand, war Mitleid. Aber verächtliches Mitgefühl. Körperlich eine tolle Frau, entpuppte sie sich nun als geistiger Trottel. So hatte er sie noch gar nicht wahrgenommen, geschweige den geahnt, dass sie solche Seiten hatte. Aber um seine eigene Verlegenheit zu verbergen, konnte er sich nur in Phrasen flüchten, die ihn schützen sollten. Damit machte er sich vor sich selbst lächerlich.
'Was in so einer grauen Maus steckt, das schlägt dem Fass den Boden aus! Da schlummern Welten in den unscheinbarsten Menschen und man ahnt es nicht.'
Er schüttelte den Kopf.
Allein das vertrauliche Du.
Widerlich! Das hatte keinen Grund.
Natürlich duzten sie sich, aber so distanziert wie bei einem Sie. Gefühlsmäßig gab es keinen Unterschied. Geradezu unverschämt erschien ihm dieses neue Du, das eine Vertrautheit, eine Intimität, eine Nähe voraussetzte, die jeder Grundlage entbehrte. Die es nie gegeben hatte. Nie. Auch jetzt nicht. Was sie überhaupt verband, war letztlich und nur ein öffentliches Verhältnis.
Gerade jetzt!
Das war eindeutig unterqualifiziert, was sie da bot, dachte der Arzt. Man darf nie die sozialen Rollen und Abstände zwischen einem Chefarzt und einer Krankenschwester vergessen, egal in welcher Lage man sich befindet! Ja, dieses Theater, dieses Geschrei und dieser seelische Striptease riefen in ihm nicht das geringste Gefühl hervor, nur Abscheu vor ihrer Schwäche.
Am Ende hatte nur der Zufall zwei Fremde zu Entführungsopfern gemacht, deren Wege unabhängig voneinander hierher geführt hatten - von Geiselnehmern wahllos auf der Straße aufgegriffen oder von Kidnappern im Flugzeug, egal. Diese Entführung bedeutete nur eines: Jeder der Beteiligten musste unabhängig vom anderen schauen, wie er sich am besten aus der Affäre ziehen konnte. Schon aus Rücksicht auf die eigenen Familienbande.
'Mein Gott, ich habe eine Frau, vor allem Kinder, meine zwei jungen Hasen, Mensch, die brauchen einen Vater, ohne den geht es nicht. Und ich bin eingebunden in ein weit verzweigtes Netzwerk, Bekannte, Verwandte, Arbeitskollegen und so weiter – ha, und die hat das nicht, gerade mal ihre Herkunftsfamilie hat sie, von der sie sich entfremdet hat und die sie auf Abstand halten..'
Ihr Schluchzen ging ihr dennoch durch Mark und Bein.
'Aber nein, diese Person ist in keiner Weise mit mir vergleichbar, gleichzusetzen! - Warum heult die vor mir so hemmungslos? Lässt sich so schamlos gehen? Was geht mich ihr Wehwehchen an? Ich muss meine eigene nackte Haut retten, koste es, was es wolle. - Denk an deine Familie, verdammt! Familien brauchen Vater und ich bin ein Vater, hundsfotts!'
Wie er hier heraus – das war die einzig wichtige Frage. Es war ein Gebot! Eine Verpflichtung!
Der Krankenschwester Flennen schlug wieder an sein Ohr.
'Was, heiraten, diese Fremde da? Unvorstellbar! Eine einfache Krankenschwester, weit unter seinem Stand und Rang, niemals! Meine Damen und Herren, da böten sich hundert andere, bessere Möglichkeiten!'
Er dachte an eine junge Frau, die kürzlich in die Familie eingeheiratet hatte, eine Evangelische. Ja, aber mit reichem Besitz, Vermögen und bester Abstammung – wenn schon nicht die gleiche Konfession, so doch wenigstens viel Geld!
Und je mehr sie sich gehen ließ, je mehr sie schluchzte und gegen die Brettern schlug, desto mehr spürte er die dicken hohen Mauern, die zwischen ihnen standen. Seine verborgene Wut verwandelte sich nun in zerstörerisches Handeln und Reden: „Kannst du nicht endlich dein Maul halten!“, schrie er ins Gesicht.
„Aber ich will deine Frau werden!“
„Du spinnst! Reiß dich zusammen und überleg lieber, wie wir hier rauskommen, verdammt und zugenäht!“
Die Krankenschwester ließ sich in den Sessel in der dunklen Ecke fallen und verbirgt ihr Gesicht zwischen den Händen: „Was habe ich denn? Nichts. Gar nichts. Gar nichts!“
Heftiges Schluchzen schüttelt sie.
„Was habe ich denn? Nichts, gar nichts! Keine Jugend, keine richtige Familie, nichts, gar nichts!“ Und dann wimmert sie nur noch, ihre Schultern zucken dabei.
Der Arzt rümpft die Nase und zieht an der Halskrause.
„Davon habe ich nichts gesagt!“
Jetzt dachte sie nur noch, weil sie ihre Gedanken nicht mehr mit dem Arzt teilen konnte und weil sie zu schrecklich waren: 'So ein gemeiner Schuft. Jetzt so zu tun, als hätte ich nichts für ihn getan. So gemein! Meine Schuld! Wie konnte ich nur so dumm sein.“
Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.
'Und jetzt bin ich diesen Verbrechern ausgeliefert. - Niemand wird mir helfen', schluchzte sie fürchterlich:
In einem Akt der Verzweiflung lief sie zum Gatter, klammerte sich an die Streben und rüttelte daran: 'Ich bin verloren! - Ich werde nicht überleben. Wenn mich niemand rausholt!'
Aber woher sollte Rettung kommen?
Doch ans Sterben dachte sie nicht. Sterben war noch immer kein Gedanken, an den sie dachte oder den sie als Erlösung empfand. Sie war doch ein starker Mensch!
13. Einer muss es ja tun...
Die Nachricht von der Entführung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Onkel, Ehefrau, Bruder eins und zwei, Neffe (Polizist) Nichte (Gemeindeangestellte), selbst die steinalten dementen und gebrechlichen Tanten Hedwig und Charlotte eilten bestürzt zu ihr. Das Telefon der Mutter des Arztes klingelte ununterbrochen, natürlich riefen auch Verwandte dritten und vierten Grades an, Vettern, Basen, Großonkel und Großtanten.
„Bis wir Genaueres wissen, müssen wir euch leider vertrösten. Bitte, habt Verständnis! -
Was? - Ja, wir melden uns, wenn wir Genaueres wissen. - Was? - Ja, versprochen!"
Schon stürmt wieder jemand herein, hängt seine Oberbekleidung auf den Garderobenständer mit dem Hirschgeweih im Flur und eilt in den Ess- und Wohnbereich des großbürgerlichen Hauses am Rande einer dörflichen Kleinstadt. Hier wird es schnell eng, obwohl der Wohnraum großzügig bemessen ist. Wer keinen direkten Sitzplatz fand, setzte sich auf die breiten Handlehen der Sofas oder lehnte sich an ein freies Fensterbrett. Man drängte sich um den Essplatz, einen Tisch neben der Küche. Es war ein Anbau, ein Erker, der mit seiner gewölbten Decke eine sakrale Nische bildete. Durch die drei Erkerfenster blickte man auf einen weiten Wiesengrund mit einem Holzsteg über den Bach. Die bunten, lichtdurchfluteten Mosaikscheiben der Fenster erinnerten an eine Kirche. Hier war der Mittelpunkt des Hauses, der Thingplatz der Stammesversammlung.
Hier thronte an der Stirnseite die Mutter der Familie. Hier durften nur die Älteren sitzen, mit einer Ausnahme. Aber stehend führten hauptsächlich die Jüngeren das Gespräch, zum Tisch hin, zu den Älteren. Sie hielten sich zurück, hatten das letzte Wort und trafen die Entscheidungen.
Der Vater kam gerade aus dem Keller, wo eine Sau geschlachtet worden war, noch in voller Arbeitsmontur mit roten-weiß karierten Rautenmuster und einer Schürze, auf der noch das Schlachtblut frisch schimmerte. In der Hand hielt er noch Schlachtermesser und Wetzstein. Kein besonders gesellschaftsfähiger Anblick. Selbst seine Frau hielt sich mit Vorwürfen zurück, denn heute war alles anders.
Die Familie war mitten ins Mark getroffen worden.
Der Neffe von der Polizei, als er die Wohnung betrat, schrie: „Denen breche ich eigenhändig das Knack, wenn ich sie in die Finger krieg. Und glaubt mir, die derwisch ich!“ Dabei ballte er die Fäuste, die auf und ab zuckten. Alle im Kreis nickten beeindruckt und der Metzgermeister schärfte nervös seinen Wetzstein auf Stahl, während seine blutbefleckte Schürze verheißungsvoll im Takt wippte.
„Die häng ich an den höchsten Baum auf, kann ich Euch sagen!“
Alle nickten einträchtig.
Wie ein gefangener Tiger im Käfig lief Otto hin und her, riss an imaginären Gitterstäben und drehte Menschenhälse um, als wären es Hühner.
Sein Verhalten verschaffte ihm die Erleichterung, die er brauchte. Er war nicht unschuldig an der Entführung. Niemand wusste es, niemand ahnte es.
Aber als er an seinem Pistolenhalfter zog, wurde es richtig bedrohlich. Würde er jetzt mit der Waffe herumfuchteln und alle in Gefahr bringen? Nicht ungefährlich war auch das Verhalten des Vaters, der hektisch sein Schlachtmesser mit dem Wetzstein schärfte.
Zwei wild gewordene Kinder, die mit ihren Spielsachen um sich warfen, das scharfe Ecken und Kanten hatte. Damit brachten sie andere in Gefahr!
Der sonst so coole Polizist Otto verhielt sich besonders auffällig blutrünstig!
Wer dachte sich etwas dabei?
Niemand, das war nur durch die Umstände zu erklären.
Auch wenn jemand aus der Familie entführt worden war, ging Ottos Verhalten über das normale Maß hinaus und musste gestoppt werden. Das tat die Cousine aus der Stadtverwaltung, die schon lange die Stirn gerunzelt hatte und sich nun laut und vernehmlich räusperte, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten.
Alle Blicke richteten sich auf sie.
In den grotesk nach oben gerichteten Augen konnte man lesen: So etwas war heutzutage tabu. Der Staat war doch jetzt demokratisch, human, gegen die Todesstrafe und so.
Aber na ja!
Jetzt legte auch die Mutter den Finger auf den Mund.
Alle merkten es und zogen die Köpfe ein. Zum Glück waren diese hitzigen Worte von Otto nur im engsten Familienkreis gefallen. Aber alle wünschten sich natürlich, dass diese dreckigen Entführer jämmerlich verrecken würden.
Bevor sie das Thema wechselten, sagte Otto noch: „Leider darf man heutzutage solch niedere Subjekte nicht mehr so behandeln, wie sie es verdienen.“
Leider, leider.
Aber gut!
Sofort waren alle wieder konzentriert bei der Sache.
„Wir werden alle unseren Teil dazu beitragen.“
Mutter blickte in die Runde.
Sie fügte hinzu: „So gut es geht.“
Kopfnicken allenthalben. Gemurmel: „Natürlich! Selbstverständlich.“
„Unsere Arztfamilie kann das leider nicht alleine stemmen“, ergänzte eine Tante. Bei dem Wort „Arztfamilie“ schwang ein Ton mit, der Stolz verkündete.
„Wie viel Geld ist er eigentlich?“
Astronomisch. Obwohl man theoretisch auch das Doppelte zusammenkratzen könnte, wenn man tief in die Tasche greifen müsste. Aber auch so war die Geldsumme für jeden eine schwere Bürde.
Aber klar, die Sache war geritzt: In dieser Notsituation hielt man fest zusammen.
Es wurde noch geklärt, wann alle Mitglieder ihren Obolus beisammen haben würden, spätestens am Montagabend, nicht ohne den jeweiligen Anteil ausgerechnet zu haben. Damit war das Wichtigste geklärt.
Aber nun mussten natürlich noch die Umstände geklärt werden, erster Punkt: Sollte die Polizei eingeschaltet werden?
Der Neffe, ein Polizist, verneinte sofort lautstark: „Zu gefährlich!“ Erstaunlich, schließlich kannte er diesen Club in- und auswendig.
Oder war das der Grund für seine Haltung?
Er verlor kein Wort darüber, freilich fragte auch niemand danach. Die meisten dachten wohl, er halte den Polizeiapparat für zu schwerfällig. Natürlich dachte niemand, er er die Polizisten für zu schusselig hielt. Er hatte seine Gründe!
Das zwang die Familie zum Handeln. Denn es war klar, dass man nicht tatenlos zusehen würde, wie die Geiselnehmer das Geld in ihre Hände nahmen und sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedeten. Schließlich war sie immer schon eine tatkräftige Familie gewesen.
Also stellte sich die Frage: Inwieweit sollte man die Dinge selbst in die Hand nehmen?
Sich um den geparkten Mercedes Benz postieren, sich auf die Lauer legen, bis die Erpresser kommen, um das Lösegeld zu holen? Und wenn nur ein Täter auftauchte, wovon auszugehen ist, was ist mit dem zweiten, der die Geiseln gefangen hält? Wenn dann der gefangene Geiselnehmer wie ein Grab schweigt, wovon ebenfalls auszugehen ist, kann der zweite den Geiseln Gewalt antun.
Eine schreckliche Vorstellung!
Besser mit gezinkten Karten spielen, die Scheine des Lösegelds markieren oder noch besser deren Nummern aufschreiben, um die Gängster später zu überführen, wenn sie sie benutzen und sich damit entlarven würden.
„Das ist die effektivste Methode!“, behauptete der Polizistenneffe. So weit reichte sein Vertrauen in die Staatsmaschinerie, in der er selbst ein Rädchen war und arbeitete, der Herr Polizist.
„Dann ist es vielleicht schon zu spät!“, wandte einer ein.
„Trotzdem, das ist das professionellste Vorgehen!“
Alle nickten widerwillig.
„Aber wer soll das Geld in das Auto legen?
Man schaute sich betroffen an. Eine schwerwiegende Frage. Eine Entscheidung, die den Ausgang der Erpressung bestimmen konnte. Die durfte nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Eine Sache, die sehr sehr folgenschwer war …
Langsam richteten sich alle Blicke auf einen.
Auf einen Bruder des Entführten. Dieser saß arglos am Tisch der Ältesten, denn er war der einzige der Jünger, der dort Platz nehmen durfte. Er schluckte seinen Kaffee hinunter – hektisch wie immer. Er stand immer unter Druck, hatte immer keine Zeit, so dass er sein Getränk mehr hinunterkippte, als dass er es genoss.
Der Idiot der Familie, heute psychisch krank genannt. Denn es war ja nicht so, dass alle in dieser Sippe Karriere, Erfolg und Ansehen geerntet und erreicht hatten. Einer war auf der Strecke geblieben, einer war schwach, so, dass er nur mit Medikamenten, ärztliche und psychiatrische Versorgung einigermaßen seinen Mann stehen konnte. Was für ein Makel in einer Familie, die einen erfolgreichen Chefarzt vorweisen konnte! Er war der, auf dem man herumtrampelte, den man vor anderen blamierte, zum Beispiel in der elterlichen Wirtschaft beim Bedienen: „Du Trottel, hast dem Falschen das Falsche hingestellt. Wie kann man nur so blöd sein?“ Und der Stammtisch lacht herzlich darüber, dankbar für etwas Abwechslung.
Musterknabe, Ministrant, sogar katholischer Pfarranwärter – aber leider hörte er am ersten Tag eine Stimme: „Mach's nicht. du bist kein Pfarrer! Das ist nichts für dich!“
Für alle Verwandten im näheren oder weiteren Umkreis war er da. Gab es sperrige Möbel in den Keller hinuntertragen, oder in den zweiten Stock hinauftragen, oder jemanden ins Krankenhaus bringen. Das Mädchen für alles. Der Prügelknabe für alle. Der Hanswurst überhaupt.
Einen solchen brauchen alle, die Erfolg haben.
Und so wurde er für diese heikle Mission auserkoren, der älteste Bruder des Arztes, dieser Scheißhaus-Ausputzer im Dienste der Familie.
Als er merkte, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren und was sie bedeuteten, nickte er unterwürfig: „Ich mach's!“ Es klang, als hätte er sich selbst ins Spiel gebracht.
Einige seufzten. Jene, denen die Sache nicht geheuer war. Würde er nicht mit seiner trotteligen Art die Tour vermasseln?
Das durfte unter keinen Umständen passieren.
Aber es musste das sein.
Leider.
Einer musste den Kopf hinhalten.
Es gab leider keinen Besseren!
„Es geht um nichts weniger als um das Leben meines geliebten Bruders!“, erhob der Narr seine Stimme, der ein begnadeter Redner war. Wenn er etwas gut konnte, dann war es, in den ungewöhnlichsten Situationen die richtigen Worte zu finden. „Und ich werde es retten!“ Starke Worte, fürwahr!
Dem lieben Onkel. Neffen, Familienvater, Ehegatten, Parteifreund, Kegelbruder, Parteimitglied, Klassenkameraden, Fasnacht-Jecken und sehr erfolgreichen Arzt das Leben retten – ja! Mit solchen Exemplaren war man in der Familie nicht gerade gesegnet. Zwar waren alle in der Familie bei allem dabei, wo es sich lohnte, dabei zu sein, der Bauernonkel war inzwischen auf den einträglichen Öko-Zug aufgesprungen, aber im richtigen Licht besehen, war so ein Chefarzt in der Familie das Juwel, das Besondere, der Quantensprung, die Mutation in die richtige Richtung!
Solche Personen standen unter Artenschutz erster Ordnung.
Insofern kamen wieder der Zweifel auf, ob man Ernst diese vertrauensvolle Aufgabe anvertrauen könne: „Wir müssen wir tun, damit nichts, aber auch gar nichts schief läuft?“ Diese Frage stellte sich manche. Was können wir also von uns aus tun, damit Schussel nicht ins Fettnäpfchen tritt mit all seinen fatalen Folgen.
Nichts, kamen viele zum Schluss. Es gab so viel Möglichkeiten! Folgerichtig kam noch ein anderer Vorschlag.
„Aber vielleicht doch Otto!“
„Der kann das am besten händeln, falls unerwartet Probleme auftauchen!“
„Ich mach's sofort!“ Diese Aussage kam mich freudiger Sicher- und Entschlossenheit, wobei er darauf achtete, dass der Tonfall Entschlossenheit ausdrückte, sozusagen der Chef ergreift die Führung und stellt sich der Verantwortung. Um keinen Zweifel am Gelingen aufkommen lassen!
„Nein, Otto, du nicht!“ Die Mutter drückte den natürlichen Überlebenswillen des Clans aus. Sie war zwar nicht Ottos, sondern die Großmutter und Otto hatte genauso wenig Familie wie Ernst. Aber …“Ernst schafft das schon! Er muss nur Geld ins Auto legen und dann sofort verschwinden! Hörst du, Ernst!“, rief die Mutter. Es war erstaunlich, dass sie Ernst dem Otto vorzog, denn er war ihr eigen Fleisch und Blut.
„Ja, natürlich!“ Ernst antwortete gehorsam wie immer. Nur ein scheuer Blick, eine halbe Drehung nach links und rechts, zeigte, dass er nervös war. Doch er riss sich sofort zusammen.
'Endlich mal Tom Cruise sein! In „Mission impossible“, im Abenteuermodus voll durchstarten, wau-oh-wau – Ja, nachher werden alle auf mich stolz sein!', sagte sich Ernst.
Für seinen Stolz brauchte er keine Stimme hören. Er spürte ihn immer. Nichts war ihm zu schwer. Selbst wenn er tausendmal auf die Schnauze fiel und das tat er, stand er immer wieder auf und hatte für das nächste Unternehmen sein unerschütterliches Selbstvertrauen zurück.
Er blickte sich um und spürte, dass sich alle Augen auf ihn richteten. Das war aufregend. Ein bisschen schon scharrte er mit den Füßen unterm Tisch.
„Das mach ich! Das mach ich selbstverständlich!“ Weder der Klang seiner Stimme verriet, ob ein wenig Unsicherheit dahinter steckte, noch sein gerader Blick. Niemals zurückschauen, so hieß es schon in den alten Schriften, wenn man ans Ziel kommen will. Mit anderen Worten: Wer zurückblickt, scheitert.
Oder anders ausgedrückt: nur die, die zurückblickten, scheiterten.
Und er gehörte nicht dazu.
Also!
Seine Mutter seufzte. Sie kannte ihren Sohn zu gut, um ihn nicht zu durchschauen und fürchtete, dass er versagen und ihm etwas zustoßen könnte. Aber wenigstens würde die Erinnerung an ihn unauslöschlich in ihrem Herzen bleiben: Er war ein demütiger Sohn, der sofort da war, wenn m an ihn brauchte. Was konnte man von einem guten Sohn mehr erwarten?
Sie empfand jetzt starke Rührung. Ihre Augen trübten sich ein wenig mit Tränen. Unter dem Tisch falteten sich die Hände zum Gebet und sie warf einen Blick auf das Kruzifix an der Wand.
''Lieber Gott, hilf, dass er wenigstens dieses Mal keinen Mist baut!'
Eine Tante betete in die gleiche Richtung. 'Bitte, lass ihn nicht zum Opfer für die, wenn auch gute Sache werden!' Der 90jähigen alten Tante und ehemaligen Pfarrershaushälterin verschränkten die weißen, totblassen Hände in fromme Demutshaltung.
'Mein geliebter Neffe ist derjenige, der sich noch um mich kümmert. Alle Samstag nachmittag besucht er mich. Das tut kein anderer in der Familie. - Lass ihn heil aus der Sache herauskommen, bitte!' Sie hatte handfeste Gründe, ihn wieder unversehrt und heil in die Arme schließen zu können.
Dabei fiel ihr Blick liebevoll auf das große, bunte Poster mit dem Konterfei des amtierenden Papstes neben der Ausgangstür Jeder, der den Raum verließ, tauchte seine Finger über dem Papstbild in ein Kolymbion und das herabtropfende Weihwasser taufte den Pontifex Maximum immer wieder neu.
Jetzt kam Ernst Onkel militärisch mit weit ausholenden Schritten auf ihn zu. Ernst hatte sich schon vorzeitig vom Tisch erhoben und machte die demütigen Gesten eines Rekruten, der von einem höher gestellten Wesen die Weihen empfängt. Die Hand wurde ihm auf die linke Schulter gelegt, als vollzöge die Queen einen Ritterschlag: „Das schaffst das schon, Ernst! Da bin ich mir sicher!“
Zum ersten Mal, so schien es Ernst, richteten sich die Augen der großen, weitverzweigten Familie auf ihn. Dass sich darin bange Hoffnung, Ängstlichkeit Zweifel, ja Bestürzung spiegelten, nahm er nicht wahr.
Plötzlich setzte eine fast bauchrednerische, geistesabwesende, monotone Stimme ein: „In Anbetracht der großen Herausforderung werde ich alle Mühe, Kraft und Zeit aufwenden, die schwierigen Herausforderungen zu meistern. Ich bin mir sicher, ich werde den Erwartungen gerecht.“
Es war weniger der Inhalt, als die Art und Weise, der Tonfall der Rede, der ein allgemeines Seufzen hervorrief. Sie erinnerte an unbequeme, vergangene Zeiten, die heute selbst in diesen erzkonservativen Kreisen nur noch peinlich sein konnten.
Es war an Mutter zu sagen: „Ernst, jetzt mach mal einen Punkt. Du weißt, was du zu tun hast. Beeil dich und bereite dich gut, sehr gut vor!“
Ernst antwortete ergeben: „Ja, Mutter. Ja!“
Eifrig drehte er sich fast im Kreis, um einen Blick auf das zu bearbeitende Gelände zu werfen. Das imaginäre allerdings.
Ernst war nicht der unterwürfige Knabe, der er vorgab zu sein. Er dachte nach der Unterbrechung seiner Rede durch die Mutter: Leider entging der Welt gerade meine eloquente Rede ohne Punkt und Komma, aber ich schwöre nur dieses Mal und nicht für lange, denn dann wird sie reichlich davon hören dürfen.
Warum war sich Ernst dessen ach so sicher?
Er hatte einen Plan, eine Vision, ein Ziel!
Voller Stolz und nun um so sicherer, dass seine Mission und seine Aufgaben gelingen würden, verließ er den Raum, nicht ohne den jetzigen Papst mit Weihwasser zu besprengen.
13 a. Ein kleines schmutziges Geheimnis
Dieser Teil ist nicht besonders relevant für die Geschichte und ist im E-Book nachzulesen
https://www.neobooks.com/ebooks/werner- ... JQNBbdngtS
Blondy und Bully fläzten sich in ihrem Wohnzimmer, sich zu Tode langweilend. Geiselnahme kann ein zähes Geduldsspiel sein! Wer hätte das gedacht? Eine Blechdose mit Bier nach der anderen wurde geleert. Man türmte die leeren Dosen langsam zu einer Pyramide auf den Tisch auf, den man in der Mitte vom Kuddelmuddel befreit hatte.
Kein Wunder, dass sie so viel tranken. Schon am Vormittag des dritten Tags war die Spannung unerträglich. Wie würde diese Entführung wohl enden? Am besten, man betrank sich. Dosenbier war genug da. So saßen sie sich beide auf der Coach hier und dem weiten Sessel dort gegenüber und sahen die Pyramide Schub für Schub wachsen. Auch eine schöne Zeitvertreibung, oder? Schade nur, dass man deswegen und wegen der vielen anderen Sachen nicht gemütlich die Beine auf den Tisch hochlegen konnte.
Das war aber typisch, immer stimmte irgend etwas nicht. Genau wie bei dem Projekt Erpressung, bei der man auch nicht an alles gedacht hatte. Sie hätten doch die Geiseln mit einer Binde blind machen sollen. Damit sie nicht wissen, wo sie sich jetzt aufhalten.
„Überleg mal, wenn die wieder frei sind, dann führen sie die Polizei sofort hierher zum Entführungsort.“ Ja, diese Tatsache stand mit einmal in scharfer Klarheit vor ihnen, als hätte es ein Messer herausgeschnitten und als könnte man sich bei falscher Bewegung daran schneiden.
Die Frage, die da kam, war reine Abwehr und Vertuschungsversuch: „Was machen wir, wenn wir die Kohle haben?“
„Wie meinst? Es natürlich ausgeben!“
Bully brummte missmutig. Typisch für Blondy, der gerne den Kopf in den Sand steckte.
„Du weißt genau, was ich meine!“
„Ähm, ja. Lass mich mal raten.“
„Tu nicht so blöd!“ Und Bully war schon nahe dran, sich wieder zu erheben. Das wäre ungemütlich geworden, einerseits für ihn, da er den Oberkörper erheben musste und andererseits mehr noch für Blondy, der eine geballte Wut voll mit Speichel-Aerosole ins Gesicht abbekommen hätte.
„Okay, bleib ruhig. Ich weiß schon. Die Geiseln. Was machen wir mit ihnen? Hm?“
Das strapazierte eindeutig ihre Vorstellungskraft. Dann musste diese eben geölt werden: Schluck aus der Blech-Bulle. Bald war sie leer und stellte den nächsten Baustein der sich meterhoch erhebenden Pyramide auf dem Tisch dar. Sie war schon recht imponierend. Und diese Tatsache besänftigte wiederum, lenkte ab von den bohrenden Fragen und Unwägbarkeiten, die sich plötzlich aufgetan hatten, heute morgen, beim Bier, im Entführungstag Nummer drei.
„Freilassen!?“
„Mensch, die Freigelassenen wissen hundertprozentig, wo wir wohnen. Spätestens in einer Stunde würde die Polizei vor der Tür stehen.“
„Mensch, man hätte sie besser mit einer Augenbinde dort oben auf dem Parkplatz versehen sollen, als wir sie entführt haben.“
„Klugscheißer, hinter her weiß man es immer besser!“
„Halt halt. Mach mal halblang. Und du hast auch nicht dran gedacht.“
Was stimmt, das stimmt. Er hatte auch nicht daran gedacht! Bockmist!
„Du sagst es!“
So beruhigte sich wieder die Stimmung. Die aber nach wie vor angespannt blieb.
Jetzt war klar, sie hatten voreilig und unüberlegt gehandelt! Man hätte den Geiseln nicht nur die Augen, sondern auch die Ohren verstopfen müssen.
Aber jetzt war es zu spät!
Schluck aus der Bulle.
Die einzige Möglichkeit bestand darin, die Geiseln hier zu fixieren. Nach ner Wochen würde sie, die Entführer, rechtzeitig geflohen und sich nach Übersee abgesetzt haben, nach Amerika, in irgendein Land jenseits der Meere. Am besten nach Lateinamerika, oder ein paar Jahre am Strand von Goa in Indien verbringen oder in Thailand, wo die geilen Nutten nur auf solche wie sie warteten, kurzum, jeder Winkel der Welt stand ihnen offen. Geld genug würde in der Kasse sein.
Die Vorstellung, die Geiseln würde hier vermodern, war ihnen andererseits auch nicht geheuer. Mensch, nichts war geplant, vorbereitet, durchdacht worden. Wie Stümper hatten sie sich verhalten. Und jetzt stand die Frage übermächtig vor ihnen: Konnten sie überhaupt so holterdiepolter und unvorbereitet ins Ausland aufbrechen?
„Mal abgesehen von den Geiseln, meine ich“, meinte Bully. Dem schien deren Schicksal am wenigsten zu kümmern.
„Ach, die Pässe. Genau, ich habe sie mir mal angesehen. Sie sind noch gültig.“
Wenigstens etwas, was in Ordnung war. Was würde es aber helfen? Gültige Ausweise, in dieser Welt, wie hieß die wieder, in dieser globalisierten Welt. Es gibt zum Beispiel Interpol. Die sollen ziemlich fix sein. Und mittlerweile hängt ja alles mit allem zusammen, alles ist vernetzt und verdrahtet, verpeilt und verbunden. Da ist die Suche nach Flüchtenden wohl nur ein Kinderspiel. Nirgendwo konnte man sich heutzutage wirklich sicher fühlen.
„Ist doch wahr!“, bekräftigte Bully. Ein Schluck aus der Bulle tat Not.
Aber wozu sich über die Zukunft den Kopf zerbrechen?
Eines war jedenfalls klar: weg! Weg heißt weg. Koffer packen. Aber so schnell wie möglich, damit hier Schluss und Ende war.
Jetzt wurde ihnen aber noch mulmiger, wenn sie an die Zukunft dachten, an dieses Für-immer und ohne Heimat.
Ein bisschen unsicher schon, das alles.
Aber es ging nicht anders. Die Fliege machen und das sofort!
So-fort!
Keine Zeit, das Zelt in aller Ruhe abzubrechen. Man musste schnell handeln. Nicht ins Grübeln kommen. Nicht nachdenken.
Was für ein mühseliges Geschäft!
Waren sie deshalb nicht bedauernswert?
Aber es half nichts, dieses Selbstmitleid.
„Scheiß Bier! Das macht transelig!“
„Du sagst es, Kumpel. Du sagst es!“
Bully trank seine Dose aus und zerquetschte sie diesmal. Das war die Letzte und die die auf die Spitze gesetzt werden musste. Der Anblick der zerdrückten Dose obenauf aus Spitze der Pyramide war zum Umfallen komisch.
Sie lachten sich schier schief, bis einer wieder den Kater bekam.
Blondy: „Eigentlich Verschwendung!“
„Du meinst das Dosenpfand?“
„Genau!“
Dann brachen beider wieder in Lachen aus, schlugen sich auf die Schenkel, öffneten wieder eine Bulle, die in die Gegen spritzte, was noch mehr Lachen hervorrief undsoweiter. War alles klar, sie hatten es längst nicht mehr nötig, diese Dosenpfand. Doch das Lachen klang ziemlich künstlich. Denn die anderen Dinge blieben dennoch nicht liegen.
Nein, ab und weg, auf dem kürzesten Weg zum Flughafen. Von wegen überlegen, wohin, warum, womit - keine Verzögerung. Geht nicht. Sondern so schnell wie möglich in den nächsten Flieger. Egal wohin. Hauptsache weg, weit weg von hier.
Die Gedanken drehten sich wie bei einer Gebetsmühle.
Ohne Planung? Auch ohne. Das wird schon!
Aber wohin mit den Geiseln?
Hier zurücklassen oder irgendwo anders aussetzen, vielleicht im Tunnel?
Es durfte nicht geschehen, dass die Gefangenen etwa nicht rechtzeitig entdeckt werden, verhungern und das ganze Haus mit ihrem Leichengeruch verpesten. Obwohl es ihnen eigentlich egal sein könnte.
Außerdem würden sie eh früher oder später entlarvt werden und ihre Identität ans Licht geraten. Vielleicht sperrten sie sie lieber hier ein, ließen sie hier im Haus zurück? Die Polizei würde ihren Unterschlupf ohnehin nach ein paar Tagen entdecken, wenn die Lösegeld-Zahler Alarm schlagen würden.
Oder zumindest eine Geisel mitnehmen, falls die Bullen unerwartet an der nächsten Ecke lauerten. Dann hatten sie ein Faustpfand. In den Flieger konnten sie sich natürlich nicht mitnehmen.
An all das musste man denken. Musste man. War bestimmt nicht verkehrt.
„Du sagst es, Kumpel!“
„Yeah!“
„Prost!“
„Hau weg die Scheiße!“
Puh. Kidnapping war kein einfaches Geschäft!
So vieles müsste man bei einem Kidnapping berücksichtigen, mitdenken, die Für und Wider auf die Waage legen - wer hätte das gedacht? Dabei war man doch nur Entführer wider Willen. War sozusagen in diese Rolle hineingeschlittert. Was konnten sie dafür? Alles kam unvorbereitet und überraschend. Völlig unvorbereitet saßen sie jetzt in der Bredouille und mussten schauen, wie sie sie meisterten.
Plötzlich stürzte die Pyramide auf dem Tisch in sich zusammen.
Keine drei Meter von ihnen entfernt gibt es jemanden, den reale Sorgen plagen. Dieser Mensch sitzt wirklich in der Klemme. Nicht nur räumlich. Die drangvolle Enge, die sperrigen Gegenstände, das ständige Stehen sind schlimm genug.
Aber das ist nicht alles.
Er leidet an einem körperlichen Gebrechen, an einem Manko, über das er unter normalen Umständen kaum sprechen kann und unter den gegebenen treibt ihm allein der Gedanke daran, Schamesröte ins Gesicht. Das ist, ob man es glaubt oder nicht, schlimmer, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man sich mit erpresstem Lösegeld aus dem Staub machen kann.
Es drückt, neben dem, was ringsum drückt, etwas ganz und gar Unerbittliches: Zähne. Aber nicht einfach Zahnschmerzen, sondern etwas, das auf das Selbstbild einer Frau drückt, die etwas auf ihren Körper hält. Und welche Frau tut das nicht? Es drückt stark, sehr stark. In diesem Fall besonders.
Seit Jahren rächt sich die Vernachlässigung ihrer Zähne, die bis in ihre Kindheit zurückreicht. Ihre bäuerliche Herkunftsfamilie vertrat hartnäckig die Meinung, warum in Zahnvorsorge und damit in Schönheit investieren, wenn Frau doch nur zupacken und Kinder gebären müsse? Außerdem habe jedes Familienmitglied Zahnprobleme und müsse spätestens mit vierzig ein künstliches Gebiss tragen. Warum sollte es ihr besser ergehen? Auch wenn der zahnmedizinische Fortschritt Prophylaxe möglich macht.
Das Fatale ist, dass gute, ebenmäßige, weiße Zähne in der Stadt eine andere Rolle spielen als auf dem Land. Aber wer weiß schon, ob es sie eines Tages dorthin verschlägt? Im Falle doch, wäre sie doch lieber zu Hause geblieben!
Nun ja, ihr künstliches Gebiss braucht Pflege. Das Mindeste, was sie tun kann, ist, es jeden Abend in eine Schatulle mit einem speziellem Mittel zu legen.
Woher soll sie das nehmen? In ihrer Gefangenschaft. In dieser Abstellkammer? Sie hatte keine Tabletten. Natürlich wusste sie, dass ihre Gastgeber zu einer Tankstelle gingen, wo es bestimmt welche gab.
Sie warf einen Blick durch die Ritzen der Bretter, auf das ungewaschene Geschirr, den überquellenden Mülleimer in der Ecke und den Unrat, der hier und da auf Boden, Tisch und Schrank verstreut lag. Zur Idylle fehlten nur noch die quiekenden Ratten, die hier und da herumhüpften.
Und in diesem Haus sollte sie Verständnis für die Reinigung künstlicher Zähne finden?
Hoffentlich hatten sie wenigstens genug vom Sex. Wenn sie sich vorstellte, wie sie jetzt wieder über sie herfielen, nachdem sie ihre Zähne zum zweiten Mal in der Nacht nicht hatte putzen und reinigen können und bereits ein deutlich muffiger Geruch aus dem Mund entwich ...
Verzweifelt klammerte sie sich an die hölzernen Gitterstäbe und schloss die Augen wie zu einem Gebet.
Es erschien zwecklos und unvorstellbar angesichts dieser gewaltbereiten Entführer auf Verständnis zu stoßen, die selbst nichts auf die Reihe bekamen und jeglicher Sinn für Ordnung abhanden ging.
Blondy dachte an seine unglücklichen Erfahrungen mit den Sexportal-Miezen. Er sann nach Rache. Er sah dunkel eine Chance, sich an ihnen zu rächen.
„Komm, heute noch einmal!“
„Hä!“
„Die Hure!“
„Die Hure?“
„Du weißt schon!“
„Von mir aus!“
Der so nüchtern tat, hatte längst Blut geleckt.
„Sofort?“
Blondy gab die einleuchtendste Erklärung, davon abgesehen, hätte es aber keinerlei bedurft.
„Klar, eine Hure muss jeden Tag gut durchgefickt werden, sonst fühlt sie sich nicht wohl. Wird grantig, launisch, hysterisch! Wie eine Kuh, die nicht jeden Tag gemolken wird. Fängt an, rumzumuhen und zu brüllen.“
„Stimmt, stimmt. Wie recht du hast!“ So gesehen erfüllten sie einen Dienst am Tier.
„Das können wir uns nicht leisten. Wenn die ihren hysterischen Anfall kriegt, sich nicht mehr unter Gewalt hat, stößt sie mit den Füßen wild um sich, zerstört das Holzgitter, verlässt die Wohnung und rennt auf die Straße, wenn wir einmal nicht aufgepasst haben, weil du in der Küche bist und ich gerade auf dem Klo. Was weiß man schon, was der Teufel ausheckt! Kann ja alles sein!“
Genau, wie eine Kuh, die störrisch geworden ist und die niemand mehr halten kann.
Hier schnappt er nach Luft, um gestärkt wieder mit seinem Redeschwall weiterzufahren.
„Oder sie plärrt außer Rand und Band geraten, kreischt in den höchsten Tönen, dass es bis auf die Straße hinaus zu hören ist und dann haben wir den Salat. Schneller als wir denken, stehen die Bullen in der Wohnung. Nein, da müssen wir gegensteuern. Wir sind gezwungen, sie ruhigzustellen. Das muss uns gelingen!“
Genau, wenn Kühe schreien, sind die Bullen nicht mehr weit.
„Genau, sie will ein Stück von meinem Speck. Weil sie ihn braucht!“ Dazu lacht Bully gedrungen in sich hinein. Bully denkt wohl, sie verzehre sich in ihrer sexuellen Zwangslage schier nach ihm, seinen gestählten Körper, seiner Muskelmaschine eines bulligen Körpers …
Zumal jetzt, wo sie angestochen worden war!
Was sein muss, muss sein! Diese Hure herzunehmen, war ein Muss, das man nicht umgehen konnte. Es war ihre Pflicht und Schuldigkeit, die Schnalle ruhigzustellen, wenn sie nicht die Geiselnahme auf Spiel setzen wollten wegen einer ausrastenden wild gewordenen Kuh im Stall. Die Vorstellung des Scheiterns ihres Unternehmens ging aber total gegen ihr Männerbild.
Gegen sie selbst, diese erprobten harten Kerle.
Die es jeder Frau zeigten, wenn sie es brauchte.
Nein! Niemals!
Während Blondy an Rache und Vergeltung dachte, verhielt sich zumindest Bully entschieden wie ein Mann und bekam wahrhafte männlich Visionen, die ihn fest im Griff hielten und zwar sehr fest. Dagegen konnte er einfach nicht an: Zuerst stellte er sich vor, wie er sie auf die Knie zwang und sie ihm einen ... Und dann, ja dann ins Gesicht, aber voll … Und klar, dann drehen und von hinten... Aber richtig! Und hart! Hart!!!
So sollte es kommen. Und mehr. Ach, wäre es nur so geschehen, wie der Lauf der Dinge verhieß und der beißende Mundgeruch unentdeckt! Allen wäre viel Ärger, Verdruss und Misshandlung erspart geblieben.
Als Bully fertig war, trat er sein Opfer so heftig mit den Knien in den Hintern, dass es nach vorne auf die Hände fiel, sich zwar sofort auf dem Boden umdrehte, nur mit gespreizten Beinen und damit einen so verlockenden Anblick und Lockvogel anbietend, dass Blondy hinter der Tür hervortrat. Er hatte die Szene durch den Türspalt verfolgt. Das heimlich verfolgte Schauspiel hatte ihn plötzlich derartig geil und fickrig gemacht, dass er sich nicht mehr beherrschen konnte, an den schwer atmenden Bully herantrat, ihn grob beiseite schob und krächzte: „Jetzt lass mich mal ran!“ Er sei entschuldigt, denn in normalen Fällen wäre das unmöglich gewesen. Aber was wunder, nach diesen doofen Erfahrungen mit diesen Zimperlieschen im Portal ...
Die Krankenschwester wollte schon wieder die Beine einklappen, aber Blondy warf sich gerade noch rechtzeitig dazwischen und zwar mit voller Wucht und voll frontal. Seine Zähne gruben sich raubtierhaft in ihren Hals, in ihren Mund – oh, das hätte er nicht tun sollen - und bekam die versalzene Suppe voll in den Hals.
Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf, wischte sich angewidert den Mund und schrie, als hätte er sich mit Säure verätzt: „Igittigitt, die stinkt aus dem Maul wie die Pest! Päh.“ Und er lief eilig ins Bad, spülte sich schnell den Mund aus und putzte sich gründlich die Zähne.
Der Krankenschwester war das höchst peinlich.
„Ich muss mir nachts die Zähne putzen, in Chemie einweichen. Ich habe künstliche Zähne. Die müssen jeden Tag geputzt und gereinigt werden!“
Nach dieser Gruppenvergewaltigung war sie so beschämt, dass sie nicht einmal ihre Peiniger beschimpfen konnte, wie sie es verdient hätten. Aber die Scham war tatsächlich stärker.
„Und du willst eine Hure sein? Wäscht und putzt dich nicht einmal gründlich und stinkst zehn Meilen gegen den Wind aus dem Mund! Pah!“
Und er gab ihr eine.
„An der mach ich mir nicht die Hände schmutzig!“ Er wandte sich angewidert ab.
Wer weiß, welche Krankheiten sie mit sich herumschleppte. War sie aber nicht ein wirkliche Krankenschwester, eine ausgebildete? Dann sollte sie doch besonders reinlich sein! Hygiene war doch das oberste Gebot in diesem Bereich, oder?
Es war klar, dass mit der etwas nicht stimmte!
So durfte sich diese kontaminierte Person nach dieser Gruppenvergewaltigung nicht mehr im Wohnbereich aufhalten, zu dem auch die Rumpelkammer gehörte. Ab in Quarantäne, isoliert und weggesperrt, so weit weg wie möglich. Ab in Keller zum Illuministen und feigen Geldsack.
Leichter gesagt als getan.
Zuerst versuchten sie es auf die sanfte Tour. Doch als sie das dunkle Loch sah, in das die Kellertreppe führte, verlor sie die Nerven. Ein paar Schläge auf den Kopf sollten sie zur Vernunft bringen. Aber brachte sie völlig aus der Fassung.
„Ihr Idioten, geilen Säcke, Kanaillen! Ihr widerliches Pack, Abschaum, Gossenpisse, Ratten, Schmeißfliegen...“ So ließ sie ihrer Wut freien Lauf. Am meisten wunderte sie sich über sich selbst. Sich so gehen lassen, hätte sie nicht für möglich gehalten.
„Du Stinktier, wagst es, uns zu beleidigen!“
Bully zögerte nicht lange, packte sie grob am Arm, verdrehte ihn schmerzhaft auf den Rücken und forderte Blondy auf: „Los, mach schon. Pack die Schnepfe!“
Sie strampelte wie verrückt mit den Füßen, schlug wild mit den Händen um sich, aber es half nichts – die beiden kräftigen Kerle hatten sie sofort gepackt und zerrten mit aller Kraft an ihr. Sie musste buchstäblich wie ein Sack Kartoffeln in den dunklen Keller geschleift werden. Kantige Treppenstufen erschwerten den Weg. Das hinterließ natürlich körperliche Spuren.
Im Keller befand sich eine Zelle, die, wie die Rumpelkammer, aus einem Holzgitter bestand. In diese wurde die Renitente kurzerhand hineingeworfen.. Glücklicherweise befand sich am Ende des kleinen Raumes ein altes Sofa, auf dem sie unverletzt zum Liegen kam. Das Vorhängeschloss des Gitters schnappte hinter ihr zu, sie drehte sich um, warf sich gegen die Holztür, rüttelte wie verrückt, aber vergeblich.
„Gossenpisse, Abschaum, Dreck seid ihr, nichts weiter, ihr...“ Sie beschimpfte ihre Peiniger weiter, aber vergeblich. Ihre Flüche, Beschimpfungen und Drohungen waren schon beeindruckend, zumal von einem so schüchternen, unschuldigem Landmädchen.
Wenigstens blieben die Angesprochenen stehen.
Einer schaute dem anderen ins Gesicht.
Blondy pfiff anerkennend und sagte: "Hör dir das an. Nicht schlecht, was!“
Bully war weniger zum Scherzen aufgelegt und sagte nur kurz: „Was denkst du? Hast du etwas anderes von einer Hure erwartet?“ Das war ernst gemeint.
Blondy war erstaunt über seine Humorlosigkeit, nickte aber bedächtig und zuckte schließlich mit den Schultern: „Du hast Recht. Lassen wir der Hure ihren Spaß!“
Ungerührt, sie drehten sich nicht einmal um, stampften sie die enge Treppe wieder zurück.
Die Krankenschwester warf sich auf ein Sofa in der hintersten Ecke der Zelle und heulte jämmerlich auf, bis es nur noch gottserbärmlich wimmerte. Aber niemand hörte sie, außer dem, dem seine Haut wichtiger war und dem dies völlig kalt ließ.
12. Die Krankenschwester packt aus...
Man hatte ihr übel mitgespielt. Neben der seelischen Qual der zweimaligen Vergewaltigung waren auch die sichtbaren körperlichen Verletzungen beeindruckend. Als sie vom Boden hochgehoben, in den Schwitzkasten genommen und in den Keller gezerrt wurde, hatten die beiden Kerle kräftig zugelangt. Deutliche Schürfwunden, blaue Flecken und blutige Narben im Gesicht, an Händen und Beinen hatte sie davongetragen. Außerdem schmerzte ihr Ellenbogen fürchterlich, weil sie sich an Ecken und Kanten gestoßen haben musste.
Sie rafft sich auf und kommt endlich aus der hintersten Ecke des Raumes nach vorne an das Gitter, an die Holzlatten und greift mit ihren Händen nach zwei Latten und rüttelt daran. Der Riegel mit dem Vorhängeschloss am Gatter wird gerüttelt, aber die Tür öffnet sich nicht. Zum einen hält das Schloss, zum anderen sind die Bretter stabil genug. Verzweifelt langt sie durch das Gitter, zerrt am Eisen, aber vergebens. Es bewegt sich nicht. Das Schloss ist felsenfest verriegelt.
Einen langen, langen Moment steht sie wie versteinert da und starrt ins Leere.
Tränen stehen in ihren Augen, sie wollen nicht heraus. Ihre Augen sind nur feucht.
Jemand rasselt mit Ketten.
Plötzlich geht ein Ruck durch ihren Körper, ihre Gefühle überwältigen sie. Sie weint gegen ihren Willen. Obwohl sie weiß, wer zusieht und zuhört, das Geräusch weist auf den hin, den sie mittlerweile verachtet, durchbricht ein unbändiger Schmerz einen Damm. Wasser schießt ihr ins Gesicht und der Schmerz verzerrt es zu einer hässlichen, garstigen Fratze. Sie ist ihren Gefühlen machtlos ausgeliefert, kann sich aber noch abwenden vom Gitter, durch das man hierherein schauen kann.
Sie stößt sich ab, dreht sich um und verbirgt Gesicht mit den Händen.
„Ich musste immer verzichten. Mein ganzes Leben lang. Jetzt habe ich es satt. Zurückstecken, nachgeben, verzichten und wieder verzichten und jetzt ist mein Leben vorbei.“
Unwillkürlich rüttelt der Arzt an der Hundekette. Er kann diese Selbstmitleid nicht ertragen. Es ist ihm nicht unbekannt.
'Die kriegt sich jetzt nicht mehr ein! Die kriegt sich jetzt nicht mehr ein, verdammt!'
Es klingt ängstlich, aber seine Befürchtungen werden noch übertroffen, so schlimm sie jetzt ohnehin schon sind. Auch er ist vor Tränen und Wehklagen nicht gefeit, selbst seiner gewollten und notwendigen Distanz zu ihr. Dass sie sich so weit gehen lässt, hätte er ihr nicht zugetraut, hätte ihr einen härteren Charakter unterstellt, weil sie nach außen so unnahbar und hart wirkte, aber ihre Zurückhaltung war weniger ein Zeichen von Stärke als von Schwäche und nun bröckelt ihre Fassade.
„Nein, ich will nicht mehr, ich will nicht mehr! Ich will hier raus! Und du, sag doch was! Tu doch was!“ Sie dreht sich um, greift nach den Gittern und zwängt ihr Gesicht dazwischen, um ihn besser fixieren zu können.
'Mann, die fängt jetzt an zu spinnen, durchzudrehen.'
„Mach doch was! Steh nicht einfach so da. Sag doch was!“
Er merkt, er muss reagieren.
„Mal sehen! Es ist noch nicht aller Tage Abend!“, sagt er zu ihr, Worte, die hohler nicht klingen nicht sein könnten, wie er sofort merkt. Aber was soll er sonst schon sagen und tun? Nichts, er hat keinen Plan, er kann nur kuschen!
Natürlich hat er Mitleid. Er kennt ihre Biographie. Dass sie es als Tochter einer Bauernfamilie schwer hatte. Der große Bruder den Löwenanteil des Besitzes geerbt, Hof, Ställe, Felder, Wiesen, Wälder. Ihr blieben nur ein paar Tausender, um ihre Ausbildung zu finanzieren. Es war zwar ein helfender Beruf, auf dem Land hoch angesehen, aber sie hätte es besser verdient. Eine höhere Schule durfte sie nicht besuchen, obwohl ihr Lehrer ihre Eltern inständig darum bat. Sie hätte die Voraussetzung und die Intelligenz für ein Gymnasium.
Am härtesten traf sie jedoch die Einstellung ihrer Eltern zur zahnärztlichen Behandlung. Eine prophylaktische Korrektur der sich früh abzeichnenden kariösen Zahnbildung, wurde nicht für notwendig erachtet. Schon in jungen Jahren mit einem künstlichen Gebiss litt ihre Eitelkeit sehr. Der Gedanke an eigene Kinder wurde ihr von klein auf ausgeredet und als Schreckensbild an die Wand gemalt. Wer nichts hat, sollte keine Kinder in die Welt setzen. Es sei denn, das verstand sich von selbst: „Du angelst dir einen reichen Mann.“
Hatte sie in dem Arzt einen Anwärter gesehen, ihren Zukünftigen, trotz der Anderen, der Ehefrau, der Widersacherin, des Pendants, das ja früh sterben könnte? Aber nach allem, was jetzt noch kommen konnte, war es nicht ausgeschlossen, dass sie die Erste sein würde, die ins Gras biss.
„Und du kannst mich jetzt nicht heiraten. Nein, wir kommen nicht mehr zusammen. Da kommen wir nie heil raus. Die sind zu brutal. Die bringen uns um.“
„Leg dich hin!“, befahl er ihr. Verlegen blickte er in eine Ecke. Die Sache ging ihm zu nahe. Diese Gefühle, die ihm gezeigt wurden, machten ihn nur verlegen und verwirrten ihn.
'Schnell – wehr dich!'
Was er noch für diese Frau empfand, war Mitleid. Aber verächtliches Mitgefühl. Körperlich eine tolle Frau, entpuppte sie sich nun als geistiger Trottel. So hatte er sie noch gar nicht wahrgenommen, geschweige den geahnt, dass sie solche Seiten hatte. Aber um seine eigene Verlegenheit zu verbergen, konnte er sich nur in Phrasen flüchten, die ihn schützen sollten. Damit machte er sich vor sich selbst lächerlich.
'Was in so einer grauen Maus steckt, das schlägt dem Fass den Boden aus! Da schlummern Welten in den unscheinbarsten Menschen und man ahnt es nicht.'
Er schüttelte den Kopf.
Allein das vertrauliche Du.
Widerlich! Das hatte keinen Grund.
Natürlich duzten sie sich, aber so distanziert wie bei einem Sie. Gefühlsmäßig gab es keinen Unterschied. Geradezu unverschämt erschien ihm dieses neue Du, das eine Vertrautheit, eine Intimität, eine Nähe voraussetzte, die jeder Grundlage entbehrte. Die es nie gegeben hatte. Nie. Auch jetzt nicht. Was sie überhaupt verband, war letztlich und nur ein öffentliches Verhältnis.
Gerade jetzt!
Das war eindeutig unterqualifiziert, was sie da bot, dachte der Arzt. Man darf nie die sozialen Rollen und Abstände zwischen einem Chefarzt und einer Krankenschwester vergessen, egal in welcher Lage man sich befindet! Ja, dieses Theater, dieses Geschrei und dieser seelische Striptease riefen in ihm nicht das geringste Gefühl hervor, nur Abscheu vor ihrer Schwäche.
Am Ende hatte nur der Zufall zwei Fremde zu Entführungsopfern gemacht, deren Wege unabhängig voneinander hierher geführt hatten - von Geiselnehmern wahllos auf der Straße aufgegriffen oder von Kidnappern im Flugzeug, egal. Diese Entführung bedeutete nur eines: Jeder der Beteiligten musste unabhängig vom anderen schauen, wie er sich am besten aus der Affäre ziehen konnte. Schon aus Rücksicht auf die eigenen Familienbande.
'Mein Gott, ich habe eine Frau, vor allem Kinder, meine zwei jungen Hasen, Mensch, die brauchen einen Vater, ohne den geht es nicht. Und ich bin eingebunden in ein weit verzweigtes Netzwerk, Bekannte, Verwandte, Arbeitskollegen und so weiter – ha, und die hat das nicht, gerade mal ihre Herkunftsfamilie hat sie, von der sie sich entfremdet hat und die sie auf Abstand halten..'
Ihr Schluchzen ging ihr dennoch durch Mark und Bein.
'Aber nein, diese Person ist in keiner Weise mit mir vergleichbar, gleichzusetzen! - Warum heult die vor mir so hemmungslos? Lässt sich so schamlos gehen? Was geht mich ihr Wehwehchen an? Ich muss meine eigene nackte Haut retten, koste es, was es wolle. - Denk an deine Familie, verdammt! Familien brauchen Vater und ich bin ein Vater, hundsfotts!'
Wie er hier heraus – das war die einzig wichtige Frage. Es war ein Gebot! Eine Verpflichtung!
Der Krankenschwester Flennen schlug wieder an sein Ohr.
'Was, heiraten, diese Fremde da? Unvorstellbar! Eine einfache Krankenschwester, weit unter seinem Stand und Rang, niemals! Meine Damen und Herren, da böten sich hundert andere, bessere Möglichkeiten!'
Er dachte an eine junge Frau, die kürzlich in die Familie eingeheiratet hatte, eine Evangelische. Ja, aber mit reichem Besitz, Vermögen und bester Abstammung – wenn schon nicht die gleiche Konfession, so doch wenigstens viel Geld!
Und je mehr sie sich gehen ließ, je mehr sie schluchzte und gegen die Brettern schlug, desto mehr spürte er die dicken hohen Mauern, die zwischen ihnen standen. Seine verborgene Wut verwandelte sich nun in zerstörerisches Handeln und Reden: „Kannst du nicht endlich dein Maul halten!“, schrie er ins Gesicht.
„Aber ich will deine Frau werden!“
„Du spinnst! Reiß dich zusammen und überleg lieber, wie wir hier rauskommen, verdammt und zugenäht!“
Die Krankenschwester ließ sich in den Sessel in der dunklen Ecke fallen und verbirgt ihr Gesicht zwischen den Händen: „Was habe ich denn? Nichts. Gar nichts. Gar nichts!“
Heftiges Schluchzen schüttelt sie.
„Was habe ich denn? Nichts, gar nichts! Keine Jugend, keine richtige Familie, nichts, gar nichts!“ Und dann wimmert sie nur noch, ihre Schultern zucken dabei.
Der Arzt rümpft die Nase und zieht an der Halskrause.
„Davon habe ich nichts gesagt!“
Jetzt dachte sie nur noch, weil sie ihre Gedanken nicht mehr mit dem Arzt teilen konnte und weil sie zu schrecklich waren: 'So ein gemeiner Schuft. Jetzt so zu tun, als hätte ich nichts für ihn getan. So gemein! Meine Schuld! Wie konnte ich nur so dumm sein.“
Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.
'Und jetzt bin ich diesen Verbrechern ausgeliefert. - Niemand wird mir helfen', schluchzte sie fürchterlich:
In einem Akt der Verzweiflung lief sie zum Gatter, klammerte sich an die Streben und rüttelte daran: 'Ich bin verloren! - Ich werde nicht überleben. Wenn mich niemand rausholt!'
Aber woher sollte Rettung kommen?
Doch ans Sterben dachte sie nicht. Sterben war noch immer kein Gedanken, an den sie dachte oder den sie als Erlösung empfand. Sie war doch ein starker Mensch!
13. Einer muss es ja tun...
Die Nachricht von der Entführung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Onkel, Ehefrau, Bruder eins und zwei, Neffe (Polizist) Nichte (Gemeindeangestellte), selbst die steinalten dementen und gebrechlichen Tanten Hedwig und Charlotte eilten bestürzt zu ihr. Das Telefon der Mutter des Arztes klingelte ununterbrochen, natürlich riefen auch Verwandte dritten und vierten Grades an, Vettern, Basen, Großonkel und Großtanten.
„Bis wir Genaueres wissen, müssen wir euch leider vertrösten. Bitte, habt Verständnis! -
Was? - Ja, wir melden uns, wenn wir Genaueres wissen. - Was? - Ja, versprochen!"
Schon stürmt wieder jemand herein, hängt seine Oberbekleidung auf den Garderobenständer mit dem Hirschgeweih im Flur und eilt in den Ess- und Wohnbereich des großbürgerlichen Hauses am Rande einer dörflichen Kleinstadt. Hier wird es schnell eng, obwohl der Wohnraum großzügig bemessen ist. Wer keinen direkten Sitzplatz fand, setzte sich auf die breiten Handlehen der Sofas oder lehnte sich an ein freies Fensterbrett. Man drängte sich um den Essplatz, einen Tisch neben der Küche. Es war ein Anbau, ein Erker, der mit seiner gewölbten Decke eine sakrale Nische bildete. Durch die drei Erkerfenster blickte man auf einen weiten Wiesengrund mit einem Holzsteg über den Bach. Die bunten, lichtdurchfluteten Mosaikscheiben der Fenster erinnerten an eine Kirche. Hier war der Mittelpunkt des Hauses, der Thingplatz der Stammesversammlung.
Hier thronte an der Stirnseite die Mutter der Familie. Hier durften nur die Älteren sitzen, mit einer Ausnahme. Aber stehend führten hauptsächlich die Jüngeren das Gespräch, zum Tisch hin, zu den Älteren. Sie hielten sich zurück, hatten das letzte Wort und trafen die Entscheidungen.
Der Vater kam gerade aus dem Keller, wo eine Sau geschlachtet worden war, noch in voller Arbeitsmontur mit roten-weiß karierten Rautenmuster und einer Schürze, auf der noch das Schlachtblut frisch schimmerte. In der Hand hielt er noch Schlachtermesser und Wetzstein. Kein besonders gesellschaftsfähiger Anblick. Selbst seine Frau hielt sich mit Vorwürfen zurück, denn heute war alles anders.
Die Familie war mitten ins Mark getroffen worden.
Der Neffe von der Polizei, als er die Wohnung betrat, schrie: „Denen breche ich eigenhändig das Knack, wenn ich sie in die Finger krieg. Und glaubt mir, die derwisch ich!“ Dabei ballte er die Fäuste, die auf und ab zuckten. Alle im Kreis nickten beeindruckt und der Metzgermeister schärfte nervös seinen Wetzstein auf Stahl, während seine blutbefleckte Schürze verheißungsvoll im Takt wippte.
„Die häng ich an den höchsten Baum auf, kann ich Euch sagen!“
Alle nickten einträchtig.
Wie ein gefangener Tiger im Käfig lief Otto hin und her, riss an imaginären Gitterstäben und drehte Menschenhälse um, als wären es Hühner.
Sein Verhalten verschaffte ihm die Erleichterung, die er brauchte. Er war nicht unschuldig an der Entführung. Niemand wusste es, niemand ahnte es.
Aber als er an seinem Pistolenhalfter zog, wurde es richtig bedrohlich. Würde er jetzt mit der Waffe herumfuchteln und alle in Gefahr bringen? Nicht ungefährlich war auch das Verhalten des Vaters, der hektisch sein Schlachtmesser mit dem Wetzstein schärfte.
Zwei wild gewordene Kinder, die mit ihren Spielsachen um sich warfen, das scharfe Ecken und Kanten hatte. Damit brachten sie andere in Gefahr!
Der sonst so coole Polizist Otto verhielt sich besonders auffällig blutrünstig!
Wer dachte sich etwas dabei?
Niemand, das war nur durch die Umstände zu erklären.
Auch wenn jemand aus der Familie entführt worden war, ging Ottos Verhalten über das normale Maß hinaus und musste gestoppt werden. Das tat die Cousine aus der Stadtverwaltung, die schon lange die Stirn gerunzelt hatte und sich nun laut und vernehmlich räusperte, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten.
Alle Blicke richteten sich auf sie.
In den grotesk nach oben gerichteten Augen konnte man lesen: So etwas war heutzutage tabu. Der Staat war doch jetzt demokratisch, human, gegen die Todesstrafe und so.
Aber na ja!
Jetzt legte auch die Mutter den Finger auf den Mund.
Alle merkten es und zogen die Köpfe ein. Zum Glück waren diese hitzigen Worte von Otto nur im engsten Familienkreis gefallen. Aber alle wünschten sich natürlich, dass diese dreckigen Entführer jämmerlich verrecken würden.
Bevor sie das Thema wechselten, sagte Otto noch: „Leider darf man heutzutage solch niedere Subjekte nicht mehr so behandeln, wie sie es verdienen.“
Leider, leider.
Aber gut!
Sofort waren alle wieder konzentriert bei der Sache.
„Wir werden alle unseren Teil dazu beitragen.“
Mutter blickte in die Runde.
Sie fügte hinzu: „So gut es geht.“
Kopfnicken allenthalben. Gemurmel: „Natürlich! Selbstverständlich.“
„Unsere Arztfamilie kann das leider nicht alleine stemmen“, ergänzte eine Tante. Bei dem Wort „Arztfamilie“ schwang ein Ton mit, der Stolz verkündete.
„Wie viel Geld ist er eigentlich?“
Astronomisch. Obwohl man theoretisch auch das Doppelte zusammenkratzen könnte, wenn man tief in die Tasche greifen müsste. Aber auch so war die Geldsumme für jeden eine schwere Bürde.
Aber klar, die Sache war geritzt: In dieser Notsituation hielt man fest zusammen.
Es wurde noch geklärt, wann alle Mitglieder ihren Obolus beisammen haben würden, spätestens am Montagabend, nicht ohne den jeweiligen Anteil ausgerechnet zu haben. Damit war das Wichtigste geklärt.
Aber nun mussten natürlich noch die Umstände geklärt werden, erster Punkt: Sollte die Polizei eingeschaltet werden?
Der Neffe, ein Polizist, verneinte sofort lautstark: „Zu gefährlich!“ Erstaunlich, schließlich kannte er diesen Club in- und auswendig.
Oder war das der Grund für seine Haltung?
Er verlor kein Wort darüber, freilich fragte auch niemand danach. Die meisten dachten wohl, er halte den Polizeiapparat für zu schwerfällig. Natürlich dachte niemand, er er die Polizisten für zu schusselig hielt. Er hatte seine Gründe!
Das zwang die Familie zum Handeln. Denn es war klar, dass man nicht tatenlos zusehen würde, wie die Geiselnehmer das Geld in ihre Hände nahmen und sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedeten. Schließlich war sie immer schon eine tatkräftige Familie gewesen.
Also stellte sich die Frage: Inwieweit sollte man die Dinge selbst in die Hand nehmen?
Sich um den geparkten Mercedes Benz postieren, sich auf die Lauer legen, bis die Erpresser kommen, um das Lösegeld zu holen? Und wenn nur ein Täter auftauchte, wovon auszugehen ist, was ist mit dem zweiten, der die Geiseln gefangen hält? Wenn dann der gefangene Geiselnehmer wie ein Grab schweigt, wovon ebenfalls auszugehen ist, kann der zweite den Geiseln Gewalt antun.
Eine schreckliche Vorstellung!
Besser mit gezinkten Karten spielen, die Scheine des Lösegelds markieren oder noch besser deren Nummern aufschreiben, um die Gängster später zu überführen, wenn sie sie benutzen und sich damit entlarven würden.
„Das ist die effektivste Methode!“, behauptete der Polizistenneffe. So weit reichte sein Vertrauen in die Staatsmaschinerie, in der er selbst ein Rädchen war und arbeitete, der Herr Polizist.
„Dann ist es vielleicht schon zu spät!“, wandte einer ein.
„Trotzdem, das ist das professionellste Vorgehen!“
Alle nickten widerwillig.
„Aber wer soll das Geld in das Auto legen?
Man schaute sich betroffen an. Eine schwerwiegende Frage. Eine Entscheidung, die den Ausgang der Erpressung bestimmen konnte. Die durfte nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Eine Sache, die sehr sehr folgenschwer war …
Langsam richteten sich alle Blicke auf einen.
Auf einen Bruder des Entführten. Dieser saß arglos am Tisch der Ältesten, denn er war der einzige der Jünger, der dort Platz nehmen durfte. Er schluckte seinen Kaffee hinunter – hektisch wie immer. Er stand immer unter Druck, hatte immer keine Zeit, so dass er sein Getränk mehr hinunterkippte, als dass er es genoss.
Der Idiot der Familie, heute psychisch krank genannt. Denn es war ja nicht so, dass alle in dieser Sippe Karriere, Erfolg und Ansehen geerntet und erreicht hatten. Einer war auf der Strecke geblieben, einer war schwach, so, dass er nur mit Medikamenten, ärztliche und psychiatrische Versorgung einigermaßen seinen Mann stehen konnte. Was für ein Makel in einer Familie, die einen erfolgreichen Chefarzt vorweisen konnte! Er war der, auf dem man herumtrampelte, den man vor anderen blamierte, zum Beispiel in der elterlichen Wirtschaft beim Bedienen: „Du Trottel, hast dem Falschen das Falsche hingestellt. Wie kann man nur so blöd sein?“ Und der Stammtisch lacht herzlich darüber, dankbar für etwas Abwechslung.
Musterknabe, Ministrant, sogar katholischer Pfarranwärter – aber leider hörte er am ersten Tag eine Stimme: „Mach's nicht. du bist kein Pfarrer! Das ist nichts für dich!“
Für alle Verwandten im näheren oder weiteren Umkreis war er da. Gab es sperrige Möbel in den Keller hinuntertragen, oder in den zweiten Stock hinauftragen, oder jemanden ins Krankenhaus bringen. Das Mädchen für alles. Der Prügelknabe für alle. Der Hanswurst überhaupt.
Einen solchen brauchen alle, die Erfolg haben.
Und so wurde er für diese heikle Mission auserkoren, der älteste Bruder des Arztes, dieser Scheißhaus-Ausputzer im Dienste der Familie.
Als er merkte, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren und was sie bedeuteten, nickte er unterwürfig: „Ich mach's!“ Es klang, als hätte er sich selbst ins Spiel gebracht.
Einige seufzten. Jene, denen die Sache nicht geheuer war. Würde er nicht mit seiner trotteligen Art die Tour vermasseln?
Das durfte unter keinen Umständen passieren.
Aber es musste das sein.
Leider.
Einer musste den Kopf hinhalten.
Es gab leider keinen Besseren!
„Es geht um nichts weniger als um das Leben meines geliebten Bruders!“, erhob der Narr seine Stimme, der ein begnadeter Redner war. Wenn er etwas gut konnte, dann war es, in den ungewöhnlichsten Situationen die richtigen Worte zu finden. „Und ich werde es retten!“ Starke Worte, fürwahr!
Dem lieben Onkel. Neffen, Familienvater, Ehegatten, Parteifreund, Kegelbruder, Parteimitglied, Klassenkameraden, Fasnacht-Jecken und sehr erfolgreichen Arzt das Leben retten – ja! Mit solchen Exemplaren war man in der Familie nicht gerade gesegnet. Zwar waren alle in der Familie bei allem dabei, wo es sich lohnte, dabei zu sein, der Bauernonkel war inzwischen auf den einträglichen Öko-Zug aufgesprungen, aber im richtigen Licht besehen, war so ein Chefarzt in der Familie das Juwel, das Besondere, der Quantensprung, die Mutation in die richtige Richtung!
Solche Personen standen unter Artenschutz erster Ordnung.
Insofern kamen wieder der Zweifel auf, ob man Ernst diese vertrauensvolle Aufgabe anvertrauen könne: „Wir müssen wir tun, damit nichts, aber auch gar nichts schief läuft?“ Diese Frage stellte sich manche. Was können wir also von uns aus tun, damit Schussel nicht ins Fettnäpfchen tritt mit all seinen fatalen Folgen.
Nichts, kamen viele zum Schluss. Es gab so viel Möglichkeiten! Folgerichtig kam noch ein anderer Vorschlag.
„Aber vielleicht doch Otto!“
„Der kann das am besten händeln, falls unerwartet Probleme auftauchen!“
„Ich mach's sofort!“ Diese Aussage kam mich freudiger Sicher- und Entschlossenheit, wobei er darauf achtete, dass der Tonfall Entschlossenheit ausdrückte, sozusagen der Chef ergreift die Führung und stellt sich der Verantwortung. Um keinen Zweifel am Gelingen aufkommen lassen!
„Nein, Otto, du nicht!“ Die Mutter drückte den natürlichen Überlebenswillen des Clans aus. Sie war zwar nicht Ottos, sondern die Großmutter und Otto hatte genauso wenig Familie wie Ernst. Aber …“Ernst schafft das schon! Er muss nur Geld ins Auto legen und dann sofort verschwinden! Hörst du, Ernst!“, rief die Mutter. Es war erstaunlich, dass sie Ernst dem Otto vorzog, denn er war ihr eigen Fleisch und Blut.
„Ja, natürlich!“ Ernst antwortete gehorsam wie immer. Nur ein scheuer Blick, eine halbe Drehung nach links und rechts, zeigte, dass er nervös war. Doch er riss sich sofort zusammen.
'Endlich mal Tom Cruise sein! In „Mission impossible“, im Abenteuermodus voll durchstarten, wau-oh-wau – Ja, nachher werden alle auf mich stolz sein!', sagte sich Ernst.
Für seinen Stolz brauchte er keine Stimme hören. Er spürte ihn immer. Nichts war ihm zu schwer. Selbst wenn er tausendmal auf die Schnauze fiel und das tat er, stand er immer wieder auf und hatte für das nächste Unternehmen sein unerschütterliches Selbstvertrauen zurück.
Er blickte sich um und spürte, dass sich alle Augen auf ihn richteten. Das war aufregend. Ein bisschen schon scharrte er mit den Füßen unterm Tisch.
„Das mach ich! Das mach ich selbstverständlich!“ Weder der Klang seiner Stimme verriet, ob ein wenig Unsicherheit dahinter steckte, noch sein gerader Blick. Niemals zurückschauen, so hieß es schon in den alten Schriften, wenn man ans Ziel kommen will. Mit anderen Worten: Wer zurückblickt, scheitert.
Oder anders ausgedrückt: nur die, die zurückblickten, scheiterten.
Und er gehörte nicht dazu.
Also!
Seine Mutter seufzte. Sie kannte ihren Sohn zu gut, um ihn nicht zu durchschauen und fürchtete, dass er versagen und ihm etwas zustoßen könnte. Aber wenigstens würde die Erinnerung an ihn unauslöschlich in ihrem Herzen bleiben: Er war ein demütiger Sohn, der sofort da war, wenn m an ihn brauchte. Was konnte man von einem guten Sohn mehr erwarten?
Sie empfand jetzt starke Rührung. Ihre Augen trübten sich ein wenig mit Tränen. Unter dem Tisch falteten sich die Hände zum Gebet und sie warf einen Blick auf das Kruzifix an der Wand.
''Lieber Gott, hilf, dass er wenigstens dieses Mal keinen Mist baut!'
Eine Tante betete in die gleiche Richtung. 'Bitte, lass ihn nicht zum Opfer für die, wenn auch gute Sache werden!' Der 90jähigen alten Tante und ehemaligen Pfarrershaushälterin verschränkten die weißen, totblassen Hände in fromme Demutshaltung.
'Mein geliebter Neffe ist derjenige, der sich noch um mich kümmert. Alle Samstag nachmittag besucht er mich. Das tut kein anderer in der Familie. - Lass ihn heil aus der Sache herauskommen, bitte!' Sie hatte handfeste Gründe, ihn wieder unversehrt und heil in die Arme schließen zu können.
Dabei fiel ihr Blick liebevoll auf das große, bunte Poster mit dem Konterfei des amtierenden Papstes neben der Ausgangstür Jeder, der den Raum verließ, tauchte seine Finger über dem Papstbild in ein Kolymbion und das herabtropfende Weihwasser taufte den Pontifex Maximum immer wieder neu.
Jetzt kam Ernst Onkel militärisch mit weit ausholenden Schritten auf ihn zu. Ernst hatte sich schon vorzeitig vom Tisch erhoben und machte die demütigen Gesten eines Rekruten, der von einem höher gestellten Wesen die Weihen empfängt. Die Hand wurde ihm auf die linke Schulter gelegt, als vollzöge die Queen einen Ritterschlag: „Das schaffst das schon, Ernst! Da bin ich mir sicher!“
Zum ersten Mal, so schien es Ernst, richteten sich die Augen der großen, weitverzweigten Familie auf ihn. Dass sich darin bange Hoffnung, Ängstlichkeit Zweifel, ja Bestürzung spiegelten, nahm er nicht wahr.
Plötzlich setzte eine fast bauchrednerische, geistesabwesende, monotone Stimme ein: „In Anbetracht der großen Herausforderung werde ich alle Mühe, Kraft und Zeit aufwenden, die schwierigen Herausforderungen zu meistern. Ich bin mir sicher, ich werde den Erwartungen gerecht.“
Es war weniger der Inhalt, als die Art und Weise, der Tonfall der Rede, der ein allgemeines Seufzen hervorrief. Sie erinnerte an unbequeme, vergangene Zeiten, die heute selbst in diesen erzkonservativen Kreisen nur noch peinlich sein konnten.
Es war an Mutter zu sagen: „Ernst, jetzt mach mal einen Punkt. Du weißt, was du zu tun hast. Beeil dich und bereite dich gut, sehr gut vor!“
Ernst antwortete ergeben: „Ja, Mutter. Ja!“
Eifrig drehte er sich fast im Kreis, um einen Blick auf das zu bearbeitende Gelände zu werfen. Das imaginäre allerdings.
Ernst war nicht der unterwürfige Knabe, der er vorgab zu sein. Er dachte nach der Unterbrechung seiner Rede durch die Mutter: Leider entging der Welt gerade meine eloquente Rede ohne Punkt und Komma, aber ich schwöre nur dieses Mal und nicht für lange, denn dann wird sie reichlich davon hören dürfen.
Warum war sich Ernst dessen ach so sicher?
Er hatte einen Plan, eine Vision, ein Ziel!
Voller Stolz und nun um so sicherer, dass seine Mission und seine Aufgaben gelingen würden, verließ er den Raum, nicht ohne den jetzigen Papst mit Weihwasser zu besprengen.
13 a. Ein kleines schmutziges Geheimnis
Dieser Teil ist nicht besonders relevant für die Geschichte und ist im E-Book nachzulesen
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D. Montag
14. Der Traum von einer Pistole
Unterdessen andernorts.
„Zisch!“
Das lauwarme Bier aus der Blechdose des Sechserpacks, weil der Kühlschrank nicht mehr richtig kühlt, ist heimtückisch. Macht man sie schnell auf, sprudelt es leicht über.
„Schwein!“
„Das lag nicht in der Absicht des Künstlers!“
Der Getroffene steht auf, streckt angeekelt die offenen Hände von sich, um nicht mit der stinkenden Soße in Kontakt zu kommen und schaut angewidert auf seinen Bauch herunter.
„Schau mal, wie du mein neues Polohemd versaut hast!“
„Äh, nicht so schlimm. Ist ja keine Säure, oder so.“
„Du hast leicht reden.“
„Ich kauf dir hundert davon. Nächste Woche in Honolulu oder so!“
Der andere zieht das Hemd über sich, dabei so streckend und dehnend, dass es seinen Körper nicht mehr berührt und wirft es mit einer angeekelten Geste in eine Ecke, in der ein anderthalber Meter hoher Plastikeimer steht, in dem sich bereits ein Berg schmutziger Wäsche türmt und quillt. Insofern beweist er Ordnungssinn.
Immer wieder wirft er seinem Freund ärgerliche Blicke zu. Der merkt das und fühlt sich genötigt, sich so zu verteidigen: „Denk an die Kohle, die uns winkt. Dann kannst dir hundert neue kaufen.“
„Jau! Stimmt auch wieder!“ Dass er jetzt angesichts des zu erwartenden Geldrausches einlenkt, beweist seinen Sinn für Geld. Da man für Geld fast alles bekommt und fast alles machen kann, was man will, beweist er gesunden Menschenverstand.
Er setzt sich wieder auf seinen Platz. Der Anblick seines weißen Unterhemdes stört hier niemanden, am wenigsten den Träger, der gerne seine durchtrainierten Muskel zur Schau stellt. Interessiert es jemanden? Der Krankenschwester vielleicht? Nicht daran denken, das gebiert Ungeheuer, ungute Gefühle, lieber sich mit einem Schluck Alkohol beruhigen und zudröhnen.
Also, weg damit, die lauwarmen Brühe! Igitt!
„Genau, da brauchst du dich nicht mehr zu waschen. Einmal angezogen und ab in die Mülltonne!“
„Jau! Wie gerade jetzt!“
Begeisterung klingt anders.
Was soll man schon machen, beide lehnen sich wieder in ihre Sitzgelegenheiten zurück, der eine auf sein Sofa, der andere in seinem Sessel, die Beine über einen kleinen Hocker hier und über die ganze Länge dort gelegt, vertilgen Chips, Salzletten, Drops, Bonbons. Jeder hält eine geöffnete Bierdose in der Hand und zudem Rat darüber, was man am besten mit dem vielen Geld anfangen könnte.
„Wohin fahren wir?“
„Gute Frage. Sehr gute Frage! Äh, da fallen mir im Moment zwei Länder ein. Entweder in den asiatischen Raum, Thailand etwa, oder in die Karibik, Dominikanische Republik, oder gleich nach Afrika.“
„Das sind aber drei?“
„Was?“
„Du hast jetzt drei Möglichkeiten genannt, nicht zwei !“
„Wie meinst?“ Der Dunkle richtete sich schon wieder auf, weil er sich herausgefordert fühlte und sich nicht mehr an seinen vorletzten Satz mit den zwei Optionen erinnern konnte.
„Schon gut. Vergiss es!“
Er ließ sich wieder auf das Sofa fallen, sich in seiner ganzen Länge ausbreitend. Blondy saß dagegen aufrecht in dem Ohrensessel. Allerdings hatte er seine Füße auf den alten Korbsessel vor sich gelegt. Die einigermaßen aufrechte Haltung passte zu der Rolle, die er gerade spielte: der Planer, der Träumer, der Visionär. Er hatte seinen Hosengürtel und Gürtelknopf geöffnet und sein stattlicher Bauch quoll hervor.
„Na ja, Afrika wäre mir fast lieber.“
„Warum Afrika, he?“
„Ganz einfach. Da war ich noch nicht. Und außerdem soll's da richtig geil sein, Frauen ohne Ende. Und das Beste: billig bis umsonst!“
„Wau!“
„Ein Mann hat dort das Recht, mindesten vier Frauen zu haben, mindestens.“
„Mann o Mann!“
„Und das Beste: Sie liegen dir nicht den ganzen Tag in den Ohren mit: Liebst du mich überhaupt? Und: Bin ich dir überhaupt etwas wert? - Ja, doch, Schätzchen. - Dann beweise es. - Wie?- Kauf mir einen neuen BH! Oder ein Paar neue Schuhe!“
„Mann, wäre das schön, das nicht mehr hören zu müssen.“
„Friedlich ist das, friedlich. Ja, und die Frauen reden nur, wirklich nur dann, wenn sie gefragt werden. Ansonsten halten sie die Goschen.“
„Kuhl!“
„Am besten sind die Asiatinnen, oder Polynesierinnen, egal. Die vögelst du abends und dann nachts: husch-husch aus dem Bettchen und auf dem Boden geschlafen!“
„Himmlische Ruhe!“
„Die Tropen sollen zwar mittlerweile nicht mehr so billig sein, aber Sonnenschein ohne Ende, kein Winter, ewiger Sommer und Sonne.“
„Oh ja! Überall, überall strahlt die blendende Sonne auf die elegant gekleideten und perfekt Männer und Frauen. Wir fahren in einem Bullmann. Hinten ist eine Bar, ein Fernseher, die Scheiben sind dunkel getönt, das Auto gleitet geschmeidig wie eine Schlange und lautlos wie ein heranpirschender Panther durch die Straßen. Ich kann uns schon sehen, wie wir jeden Morgen nach dem Aufstehen unsere schweren Bademäntel über unsere gestählten Bauchmuskeln, eisernen Oberarmbizeps und herausragenden Oberschenkelmuskeln werfen, bewehrt mit dunklen Sonnenbrillen zum riesigen Swimmingpool des Hotels wanken, langsam, gemächlich.“
„Träumer!“, gibt sein Zuhörer dazu. „Du mit deinem Waschbrettbauch, deinem stinkigen Käsegesicht und verlotterten Haarbüscheln, tzt.“
Aber der Phantast hat es nicht gehört, zu verwoben ist er in seinem Traumgespinst.
„Dann am Beckenrand unsere seidenen Mäntel abwerfen und in das warme Wasser steigen, nicht zu schnell, nicht zu hastig, nicht eilig, damit sich unser Körper vom abendlichen Alkoholrausch nicht zu viel zumutet und uns schwindlig wird.“
Dann murmelt er etwas von Bloody Mary, Cuba Libre, Tequila Sunrise, Margarita, Irish Coffee, Sex on the beach.
„Aha, vor allem Sex, immer wieder!“, kommentiert Bully versonnen oder äfft wie ein Papagei die sprachlichen Visionen seines Freundes nach. Dabei lullt er sich mit diesen Worten selbst ein, räkelt sich und bringt seinen Körper in eine andere, bequemere Position. Er schließt die Augen.
Der andere fährt fort.
„Wir werden tröge am Beckenrand hängen wie die Alligatoren.“
„Tröge oder träge?“, fragte sich Bully, wusste aber momentan nicht, welches Wort hier wohl am besten passte. Solche Fragen flogen unbeachtet an Blondy vorbei wie Saharastaub. Er befand sich in anderen Gefilden als Wortklauberei.
„Neben uns ein kühl-rauchender Sektkübel. Wir füllen uns die stilvollen Sektgläser, die überschäumen. Der erste Schluck Alkohol in aller Herrgottsfrühe ist der Beste!“
„Oh ja!“, ergänzte Bully aus tiefster Brust. Dabei schnappte er nach Luft, so entzückt war er von der Vorstellung. Doch seine Träumerei wurde jäh unterbrochen.
„Das geht nicht. Weil wir auf unseren Kreditrahmen achten müssen.“
„Hä! Was redest du da? Kreditrahmen? Was ist das denn?“ Er richtete sich drohend auf. Er hatte es nicht gerne, wenn er aus Träumen gerissen wurde.
Blondy lachte. „Ha, ha. Ich gewöhn mich an die Sprache, die in den Kreisen gesprochen wird, in denen wir bald verkehren werden.“
„Red kein Blech, red Deutsch, Mann.“ Bully hatte seinen Oberkörper schon erhoben, bereit, dem Widerspenstigen zu zeigen, was eine Harke ist.
„Okay, Mann. Ich meine Geld. Unser Geld, Lösegeld. Das hält auch nicht ewig. Eine halbe Million ist schneller weg als wir denken können, weißt!“
„Stimmt, Mann!“ Bully lehnte sich mit seinem Oberkörper zurück auf die Kopfstütze des Sofas und trank in dieser Haltung die Bierbrühe. Eine beachtliche Meisterleistung!
„Wenigstens die Frauen werden uns nichts kosten. Für die sind wir Hollywood-Sonnyboys, das kann ich dir sagen! Wir mit unseren blonden Haaren...“, und Blondy strich sich selbstverliebt über Schädel und das, was daran blond war, nämlich nach der Halbglatze das strähnige, schmierige, klebrige Gestrüpp von Haaren. Dabei richtete er den Blick wie ein Seher in die Ferne, in ein Land, das Vergangenheit heißt.
„Das war vielleicht ein Erlebnis, kann ich dir sagen. Als wir in Indonesien waren ...“
„Die Geschichte kenn ich schon! Erspar sie mir!“
Da Blondy nur ein einziges Mal über die Grenzen seines Landes, immerhin Indonesien, hinausgekommen war, wenn auch nur für zwei Wochen, hatte er etwas zu erzählen; wenn auch nicht viel; aber interessant; wenn auch nach so vielen Wiederholungen immer uninteressanter.
Doch das merkte er gar nicht.
Im Gegensatz zu Bully, der seine Schwänke längst satt hatte.
Blondy ließ nicht locker, denn er hielt es für wichtig, diese Dinge in diesem Zusammenhang zu erzählen. Da Bully gerade einen Schluck nahm, witterte er seine Chance , weiter zu erzählen.
„Ja, ich weiß, du kennst die Story, als wir das erste Mal in Indonesien am Strand aufgetaucht sind. Da haben sich die braunen, roten und schwarzen Frauen nicht mehr einkriegen können. - Die haben gequiekt, gekichert, gelacht, das kann ich dir sagen! - Die haben gedacht, wir sind Brett Sprite.“
„Brat Shit!“
„Wie bitte? Brat Shit! Guter Witz. Der heißt Bret Sprit. Oder vielleicht Tom Crash ...“
„Tom Crack!“
„Wie bitte? Tom Crack? Nein.“
Bully räusperte sich.
„Okay, dann halt Tom Crack. Oder Leonardo Da Vinci ...“!“
„Wer soll das sein?“
„Ha, ha. Reingefallen. Das ist natürlich Latto Macchiato!“
„Willst Du mich verarschen. Meinst, ich weiß nicht, was ein Latte Macchiato ...“
Diesen zungenbrecherischen Ausdruck konnte er natürlich nicht richtig aussprechen.
„oder so ähnlich ...“
„Okay, beruh Dich. Ich meinte natürlich Leonardo DiCappucchino!“
Bully rührte jetzt seinen Oberkörper. Dieses Zeichen verstand Blondy sehr gut. Er überspielte seine Unwissenheit.
„Na halt, irgend so eine Hollywood-Fritze ...“
Er meinte natürlich Leonardo DiCaprio, was weder Bully noch Blondy zu unterscheiden wusste. Ist auch wirklich nicht wichtig, welcher Hollywoodstar.
Wenn er aus Erfahrung sprach, waren diese schönen Zeiten angesichts der Halbglatze, des ungepflegten Struppelhaare und des Schmerbauchs längst passé. Aber das merkte er natürlich nicht.
Das „wir“ kam bei Bully gar nicht gut an. Sein Haar an Kopf, Brust und Beinen war nämlich nur tiefschwarz. Zappelig und mürrisch wandte er sich Blondy zu, um ihn mit Blicken in die Schranken zu weisen.
„Und die einheimischen Schönheiten dachten, ihr wärt Brat Shit, Leonardo DaVinci oder Tom Crack, ja?“
„Natürlich!“
„Woher weißt du das, he!“
„Mann, die sind zu uns hinterhergedackelt gekommen, haben uns an den Haaren gezupft und gefragt: „You are Brat Shite!“
„Ja, haben die gefragt? Und die konnten Englisch, oder?“
„Wenn ich es dir sage!“
„In Indonesien?“
Wenn Bully etwas nicht passte, zweifelte er so lange an einer Sache, bis Blondy es selbst nicht mehr glaubte und mürrisch schwieg. Er tröstete sich mit Alkohol, was auch eine Lösung war und dem lieben Frieden diente. Außerdem kam er, einfallsreich wie er war, schnell auf ein anderes Thema. Er schmückte seine neue Idee wieder so barock aus, dass es Bully bald wieder übel aufstieß. So begann das Spiel von neuem. Blondys Worte wurden so lange durch den Kakao gezogen, bis die Erzählungen, Vorstellungen und Ideen nur noch lächerlich erschienen.
Das ging stundenlang so.
Trotzdem träumten sie gern - Bully war nicht anders, nur war er weit weniger findig und redselig. Mochte man mit Geld so viel anfangen können, mochte es noch so sehr aufbauen, ergötzen, erfreuen und sich vom ganzen grauen Alltag entfliehen lassen, die vielen Wiederholungen machte es doch hohl und schal. Da konnte so viel laues Bier durch die Kehle rinnen.
Abwechslung musste her.
Und so kam Blondie auf eine Schnapsidee.
Da stand doch dieser Mercedes Benz auf dem Parkplatz, nicht? Und der Schlüssel lag vor seiner Nase auf dem Tisch.
Hm.
Verdammt, wann hat man schon mal so eine Gelegenheit, he?
Wie schön wäre es doch, mit so einem tollen Schlitten ein die Gegend ein bisschen unsicher zu machen. „Oder, was meinst du?“
„Ich weiß nicht“, brummte der Dunkle. Dazu nahm er einen kräftigen Schluck aus der Bierdose.
„Vielleicht wird der Wagen schon bewacht? Und wenn du dort auftauchst, schnappen sie dich. Dann erpressen sie den Aufenthaltsort der Geiseln und futschikato ist unser Lösegeld verschwunden.“
Blondy zog verbissen an der Zigarette. Düstere Aussichten!
„Ich gebe zu, da ist etwas Wahres dran. - Aber wenn ich ganz vorsichtig bin. Also, wenn ich mich erst mal eine halbe Stunde oder sagen wir ganze auf die Lauer lege, die Szene beobachte, ob da Leute sind, du weißt schon! Ich kenne die Gegend ja wie meine Westentasche...“
„Hm. Die andere Seite wahrscheinlich genauso. Die lauern auch auf jemanden. Dann lauert ihr beide gleichzeitig. Und der erste, der aus dem Busch kommt, ist der Verlierer, so ist das!“
„Dann muss er mich zuerst einmal überwältigen, so sieht's aus!“
Der Dunkle zeigte ihm den Vogel: „Du Dummkopf! Überleg mal! Was zeichnet die Polizei besonders aus?“
„Keine Ahnung!“
Bully reckte ihm wieder bedrohlich den Oberkörper entgegen und schaute ihn böse an: „He, was haben die Bullen, was wir nicht haben, hä!?“
Blondy kleinlaut: „Ne Knarre!“
„Eben!“ Damit ließ er sich wieder zurückfallen.
Scheiße, keine Knarre. Er hatte verdammt recht. Keine Pistole!
Blondy zog verbissen an seiner Zigarette.
„Okay, ich geb mich geschlagen.“
Wieder Zug an der Zigarette. „Ich geh trotzdem zum Auto! Weil, Mann, du hast vergessen – das Fahrzeug muss auf sein, wenn die das Lösegeld reinlegen wollen.“
„Stimmt! - Hm, und ich geh inzwischen zum Discounter um die Ecke, ein bisschen Fleisch kaufen. Alles andere, Nudeln, Reis, Brot haben wir genug!“
„Genau, Mann. Mach das!“
Blondy war begeistert, dass er sich um das Auto kümmern durfte. Er sprang freudig auf, wurde aber von Bully am Ärmel wieder nach unten gezogen, bis dicht vor des anderen Gesicht: „Dass du mir aber nicht übers Ziel hinausschießt, gell! Du weißt, was ich meine.“
Blondy tat einen Moment unwissend und unschuldig, verbesserte aber seine Haltung schnell. Man kann ja viel sagen, wenn der Tag lang war: „Aber natürlich. Hältst du mich für so dumm, dass ich mir jetzt noch einen Schnitzer erlaub, kurz bevor unser Traum in Erfüllung geht?“
„Bei dir weiß man nie!“ Und Bully schuppste ihn weg.
Blondy verdrehte den Hals in Normallage, rückte sein Hemd zurecht, meckerte aber nicht im gefährlich echauffierten Ton, sondern sagte leichthin: „Manchmal weiß ich wirklich nicht, für wen du mich hältst!“
„Mann, frag nicht! Verschwinde!“
Blondy tat nichts lieber als das.
„Okay! Bis gleich!“
Blondy musste den Wagen aufschließen, musste ja sein. Damit die Lösegeldübergabe stattfinden konnte. Gleichzeitig wollte er das Gelände sondieren, zur Sicherheit. Sich umschauen. Es war immer gut, zu wissen, wie es am Parkplatz und in der Umgebung aussah. Wo man sich auf die Lauer legen konnte. Wo und wie auch immer, man wusste ja nichts Genaueres und ein guter Gauner ist immer auf alles vorbereitet.
Dass er vielleicht auch eine kleine Spritztour mit dem Cabrio machen würde, wer weiß, war nicht auszuschließen, auch wenn das seinem Kumpel gar nicht gefiel, denn darauf bezog sich seine rüde Warnung, nicht über die Stränge zu schlagen und sich etwa das Cabrio zu schnappen und tollkühn durch die Gegend zu rasen, wenn's dumm kommt, auch noch von der Verkehrspolizei geschnappt zu werden und so weiter.
Nein, das wäre nicht gut. Trotzdem schwang er sich besonders schwungvoll aufs Rad und wenn er an den Mercedes Benz dachte, fuhr er wie ein Engel mit Flügeln.
Leichter Nieselregen setzte ein, dazu ein kühler Abendwind. Zum Glück war es noch nicht ganz dunkel. Und wenn für den Fall, dass es bald dunkel sein würde, war er vorbereitet: Sein Fahrrad hatte ein intaktes Licht. Das war wichtig,
Ein paar hundert Meter vor dem Parkplatz stellte er sein Rad ab, schloss es ab und schlich sich über Umwege zu seinem Ziel, wo er prompt jemanden am Parkplatz sichtete. Zum Glück war es kein Polizist, sondern ein Zivilist, wahrscheinlich nur ein Spaziergänger. Sie durften nicht ins Gehege kommen, damit sich jener nicht unnötig sein Gesicht einprägen konnte. Außerdem, man wusste ja nie, um wen es sich dort handelte. So ging Blondy erst einmal in Deckung. Er tat gut daran.
Der Mann verhielt sich sehr verdächtig.
Er umkreiste zunächst den Mercedes Benz wie der sprichwörtliche Katze den heißen Brei. Legte sich dann aber sogar auf den Boden, um den Unterbodenschutz zu untersuchen, sprang wieder auf wie ein Fitnessweltmeister, um dann den Kofferraum zu überprüfen, der allerdings versperrt war.
Wenn das nicht alles sagte!
Es sei denn, es war Zufall.
Unterdessen andernorts.
„Zisch!“
Das lauwarme Bier aus der Blechdose des Sechserpacks, weil der Kühlschrank nicht mehr richtig kühlt, ist heimtückisch. Macht man sie schnell auf, sprudelt es leicht über.
„Schwein!“
„Das lag nicht in der Absicht des Künstlers!“
Der Getroffene steht auf, streckt angeekelt die offenen Hände von sich, um nicht mit der stinkenden Soße in Kontakt zu kommen und schaut angewidert auf seinen Bauch herunter.
„Schau mal, wie du mein neues Polohemd versaut hast!“
„Äh, nicht so schlimm. Ist ja keine Säure, oder so.“
„Du hast leicht reden.“
„Ich kauf dir hundert davon. Nächste Woche in Honolulu oder so!“
Der andere zieht das Hemd über sich, dabei so streckend und dehnend, dass es seinen Körper nicht mehr berührt und wirft es mit einer angeekelten Geste in eine Ecke, in der ein anderthalber Meter hoher Plastikeimer steht, in dem sich bereits ein Berg schmutziger Wäsche türmt und quillt. Insofern beweist er Ordnungssinn.
Immer wieder wirft er seinem Freund ärgerliche Blicke zu. Der merkt das und fühlt sich genötigt, sich so zu verteidigen: „Denk an die Kohle, die uns winkt. Dann kannst dir hundert neue kaufen.“
„Jau! Stimmt auch wieder!“ Dass er jetzt angesichts des zu erwartenden Geldrausches einlenkt, beweist seinen Sinn für Geld. Da man für Geld fast alles bekommt und fast alles machen kann, was man will, beweist er gesunden Menschenverstand.
Er setzt sich wieder auf seinen Platz. Der Anblick seines weißen Unterhemdes stört hier niemanden, am wenigsten den Träger, der gerne seine durchtrainierten Muskel zur Schau stellt. Interessiert es jemanden? Der Krankenschwester vielleicht? Nicht daran denken, das gebiert Ungeheuer, ungute Gefühle, lieber sich mit einem Schluck Alkohol beruhigen und zudröhnen.
Also, weg damit, die lauwarmen Brühe! Igitt!
„Genau, da brauchst du dich nicht mehr zu waschen. Einmal angezogen und ab in die Mülltonne!“
„Jau! Wie gerade jetzt!“
Begeisterung klingt anders.
Was soll man schon machen, beide lehnen sich wieder in ihre Sitzgelegenheiten zurück, der eine auf sein Sofa, der andere in seinem Sessel, die Beine über einen kleinen Hocker hier und über die ganze Länge dort gelegt, vertilgen Chips, Salzletten, Drops, Bonbons. Jeder hält eine geöffnete Bierdose in der Hand und zudem Rat darüber, was man am besten mit dem vielen Geld anfangen könnte.
„Wohin fahren wir?“
„Gute Frage. Sehr gute Frage! Äh, da fallen mir im Moment zwei Länder ein. Entweder in den asiatischen Raum, Thailand etwa, oder in die Karibik, Dominikanische Republik, oder gleich nach Afrika.“
„Das sind aber drei?“
„Was?“
„Du hast jetzt drei Möglichkeiten genannt, nicht zwei !“
„Wie meinst?“ Der Dunkle richtete sich schon wieder auf, weil er sich herausgefordert fühlte und sich nicht mehr an seinen vorletzten Satz mit den zwei Optionen erinnern konnte.
„Schon gut. Vergiss es!“
Er ließ sich wieder auf das Sofa fallen, sich in seiner ganzen Länge ausbreitend. Blondy saß dagegen aufrecht in dem Ohrensessel. Allerdings hatte er seine Füße auf den alten Korbsessel vor sich gelegt. Die einigermaßen aufrechte Haltung passte zu der Rolle, die er gerade spielte: der Planer, der Träumer, der Visionär. Er hatte seinen Hosengürtel und Gürtelknopf geöffnet und sein stattlicher Bauch quoll hervor.
„Na ja, Afrika wäre mir fast lieber.“
„Warum Afrika, he?“
„Ganz einfach. Da war ich noch nicht. Und außerdem soll's da richtig geil sein, Frauen ohne Ende. Und das Beste: billig bis umsonst!“
„Wau!“
„Ein Mann hat dort das Recht, mindesten vier Frauen zu haben, mindestens.“
„Mann o Mann!“
„Und das Beste: Sie liegen dir nicht den ganzen Tag in den Ohren mit: Liebst du mich überhaupt? Und: Bin ich dir überhaupt etwas wert? - Ja, doch, Schätzchen. - Dann beweise es. - Wie?- Kauf mir einen neuen BH! Oder ein Paar neue Schuhe!“
„Mann, wäre das schön, das nicht mehr hören zu müssen.“
„Friedlich ist das, friedlich. Ja, und die Frauen reden nur, wirklich nur dann, wenn sie gefragt werden. Ansonsten halten sie die Goschen.“
„Kuhl!“
„Am besten sind die Asiatinnen, oder Polynesierinnen, egal. Die vögelst du abends und dann nachts: husch-husch aus dem Bettchen und auf dem Boden geschlafen!“
„Himmlische Ruhe!“
„Die Tropen sollen zwar mittlerweile nicht mehr so billig sein, aber Sonnenschein ohne Ende, kein Winter, ewiger Sommer und Sonne.“
„Oh ja! Überall, überall strahlt die blendende Sonne auf die elegant gekleideten und perfekt Männer und Frauen. Wir fahren in einem Bullmann. Hinten ist eine Bar, ein Fernseher, die Scheiben sind dunkel getönt, das Auto gleitet geschmeidig wie eine Schlange und lautlos wie ein heranpirschender Panther durch die Straßen. Ich kann uns schon sehen, wie wir jeden Morgen nach dem Aufstehen unsere schweren Bademäntel über unsere gestählten Bauchmuskeln, eisernen Oberarmbizeps und herausragenden Oberschenkelmuskeln werfen, bewehrt mit dunklen Sonnenbrillen zum riesigen Swimmingpool des Hotels wanken, langsam, gemächlich.“
„Träumer!“, gibt sein Zuhörer dazu. „Du mit deinem Waschbrettbauch, deinem stinkigen Käsegesicht und verlotterten Haarbüscheln, tzt.“
Aber der Phantast hat es nicht gehört, zu verwoben ist er in seinem Traumgespinst.
„Dann am Beckenrand unsere seidenen Mäntel abwerfen und in das warme Wasser steigen, nicht zu schnell, nicht zu hastig, nicht eilig, damit sich unser Körper vom abendlichen Alkoholrausch nicht zu viel zumutet und uns schwindlig wird.“
Dann murmelt er etwas von Bloody Mary, Cuba Libre, Tequila Sunrise, Margarita, Irish Coffee, Sex on the beach.
„Aha, vor allem Sex, immer wieder!“, kommentiert Bully versonnen oder äfft wie ein Papagei die sprachlichen Visionen seines Freundes nach. Dabei lullt er sich mit diesen Worten selbst ein, räkelt sich und bringt seinen Körper in eine andere, bequemere Position. Er schließt die Augen.
Der andere fährt fort.
„Wir werden tröge am Beckenrand hängen wie die Alligatoren.“
„Tröge oder träge?“, fragte sich Bully, wusste aber momentan nicht, welches Wort hier wohl am besten passte. Solche Fragen flogen unbeachtet an Blondy vorbei wie Saharastaub. Er befand sich in anderen Gefilden als Wortklauberei.
„Neben uns ein kühl-rauchender Sektkübel. Wir füllen uns die stilvollen Sektgläser, die überschäumen. Der erste Schluck Alkohol in aller Herrgottsfrühe ist der Beste!“
„Oh ja!“, ergänzte Bully aus tiefster Brust. Dabei schnappte er nach Luft, so entzückt war er von der Vorstellung. Doch seine Träumerei wurde jäh unterbrochen.
„Das geht nicht. Weil wir auf unseren Kreditrahmen achten müssen.“
„Hä! Was redest du da? Kreditrahmen? Was ist das denn?“ Er richtete sich drohend auf. Er hatte es nicht gerne, wenn er aus Träumen gerissen wurde.
Blondy lachte. „Ha, ha. Ich gewöhn mich an die Sprache, die in den Kreisen gesprochen wird, in denen wir bald verkehren werden.“
„Red kein Blech, red Deutsch, Mann.“ Bully hatte seinen Oberkörper schon erhoben, bereit, dem Widerspenstigen zu zeigen, was eine Harke ist.
„Okay, Mann. Ich meine Geld. Unser Geld, Lösegeld. Das hält auch nicht ewig. Eine halbe Million ist schneller weg als wir denken können, weißt!“
„Stimmt, Mann!“ Bully lehnte sich mit seinem Oberkörper zurück auf die Kopfstütze des Sofas und trank in dieser Haltung die Bierbrühe. Eine beachtliche Meisterleistung!
„Wenigstens die Frauen werden uns nichts kosten. Für die sind wir Hollywood-Sonnyboys, das kann ich dir sagen! Wir mit unseren blonden Haaren...“, und Blondy strich sich selbstverliebt über Schädel und das, was daran blond war, nämlich nach der Halbglatze das strähnige, schmierige, klebrige Gestrüpp von Haaren. Dabei richtete er den Blick wie ein Seher in die Ferne, in ein Land, das Vergangenheit heißt.
„Das war vielleicht ein Erlebnis, kann ich dir sagen. Als wir in Indonesien waren ...“
„Die Geschichte kenn ich schon! Erspar sie mir!“
Da Blondy nur ein einziges Mal über die Grenzen seines Landes, immerhin Indonesien, hinausgekommen war, wenn auch nur für zwei Wochen, hatte er etwas zu erzählen; wenn auch nicht viel; aber interessant; wenn auch nach so vielen Wiederholungen immer uninteressanter.
Doch das merkte er gar nicht.
Im Gegensatz zu Bully, der seine Schwänke längst satt hatte.
Blondy ließ nicht locker, denn er hielt es für wichtig, diese Dinge in diesem Zusammenhang zu erzählen. Da Bully gerade einen Schluck nahm, witterte er seine Chance , weiter zu erzählen.
„Ja, ich weiß, du kennst die Story, als wir das erste Mal in Indonesien am Strand aufgetaucht sind. Da haben sich die braunen, roten und schwarzen Frauen nicht mehr einkriegen können. - Die haben gequiekt, gekichert, gelacht, das kann ich dir sagen! - Die haben gedacht, wir sind Brett Sprite.“
„Brat Shit!“
„Wie bitte? Brat Shit! Guter Witz. Der heißt Bret Sprit. Oder vielleicht Tom Crash ...“
„Tom Crack!“
„Wie bitte? Tom Crack? Nein.“
Bully räusperte sich.
„Okay, dann halt Tom Crack. Oder Leonardo Da Vinci ...“!“
„Wer soll das sein?“
„Ha, ha. Reingefallen. Das ist natürlich Latto Macchiato!“
„Willst Du mich verarschen. Meinst, ich weiß nicht, was ein Latte Macchiato ...“
Diesen zungenbrecherischen Ausdruck konnte er natürlich nicht richtig aussprechen.
„oder so ähnlich ...“
„Okay, beruh Dich. Ich meinte natürlich Leonardo DiCappucchino!“
Bully rührte jetzt seinen Oberkörper. Dieses Zeichen verstand Blondy sehr gut. Er überspielte seine Unwissenheit.
„Na halt, irgend so eine Hollywood-Fritze ...“
Er meinte natürlich Leonardo DiCaprio, was weder Bully noch Blondy zu unterscheiden wusste. Ist auch wirklich nicht wichtig, welcher Hollywoodstar.
Wenn er aus Erfahrung sprach, waren diese schönen Zeiten angesichts der Halbglatze, des ungepflegten Struppelhaare und des Schmerbauchs längst passé. Aber das merkte er natürlich nicht.
Das „wir“ kam bei Bully gar nicht gut an. Sein Haar an Kopf, Brust und Beinen war nämlich nur tiefschwarz. Zappelig und mürrisch wandte er sich Blondy zu, um ihn mit Blicken in die Schranken zu weisen.
„Und die einheimischen Schönheiten dachten, ihr wärt Brat Shit, Leonardo DaVinci oder Tom Crack, ja?“
„Natürlich!“
„Woher weißt du das, he!“
„Mann, die sind zu uns hinterhergedackelt gekommen, haben uns an den Haaren gezupft und gefragt: „You are Brat Shite!“
„Ja, haben die gefragt? Und die konnten Englisch, oder?“
„Wenn ich es dir sage!“
„In Indonesien?“
Wenn Bully etwas nicht passte, zweifelte er so lange an einer Sache, bis Blondy es selbst nicht mehr glaubte und mürrisch schwieg. Er tröstete sich mit Alkohol, was auch eine Lösung war und dem lieben Frieden diente. Außerdem kam er, einfallsreich wie er war, schnell auf ein anderes Thema. Er schmückte seine neue Idee wieder so barock aus, dass es Bully bald wieder übel aufstieß. So begann das Spiel von neuem. Blondys Worte wurden so lange durch den Kakao gezogen, bis die Erzählungen, Vorstellungen und Ideen nur noch lächerlich erschienen.
Das ging stundenlang so.
Trotzdem träumten sie gern - Bully war nicht anders, nur war er weit weniger findig und redselig. Mochte man mit Geld so viel anfangen können, mochte es noch so sehr aufbauen, ergötzen, erfreuen und sich vom ganzen grauen Alltag entfliehen lassen, die vielen Wiederholungen machte es doch hohl und schal. Da konnte so viel laues Bier durch die Kehle rinnen.
Abwechslung musste her.
Und so kam Blondie auf eine Schnapsidee.
Da stand doch dieser Mercedes Benz auf dem Parkplatz, nicht? Und der Schlüssel lag vor seiner Nase auf dem Tisch.
Hm.
Verdammt, wann hat man schon mal so eine Gelegenheit, he?
Wie schön wäre es doch, mit so einem tollen Schlitten ein die Gegend ein bisschen unsicher zu machen. „Oder, was meinst du?“
„Ich weiß nicht“, brummte der Dunkle. Dazu nahm er einen kräftigen Schluck aus der Bierdose.
„Vielleicht wird der Wagen schon bewacht? Und wenn du dort auftauchst, schnappen sie dich. Dann erpressen sie den Aufenthaltsort der Geiseln und futschikato ist unser Lösegeld verschwunden.“
Blondy zog verbissen an der Zigarette. Düstere Aussichten!
„Ich gebe zu, da ist etwas Wahres dran. - Aber wenn ich ganz vorsichtig bin. Also, wenn ich mich erst mal eine halbe Stunde oder sagen wir ganze auf die Lauer lege, die Szene beobachte, ob da Leute sind, du weißt schon! Ich kenne die Gegend ja wie meine Westentasche...“
„Hm. Die andere Seite wahrscheinlich genauso. Die lauern auch auf jemanden. Dann lauert ihr beide gleichzeitig. Und der erste, der aus dem Busch kommt, ist der Verlierer, so ist das!“
„Dann muss er mich zuerst einmal überwältigen, so sieht's aus!“
Der Dunkle zeigte ihm den Vogel: „Du Dummkopf! Überleg mal! Was zeichnet die Polizei besonders aus?“
„Keine Ahnung!“
Bully reckte ihm wieder bedrohlich den Oberkörper entgegen und schaute ihn böse an: „He, was haben die Bullen, was wir nicht haben, hä!?“
Blondy kleinlaut: „Ne Knarre!“
„Eben!“ Damit ließ er sich wieder zurückfallen.
Scheiße, keine Knarre. Er hatte verdammt recht. Keine Pistole!
Blondy zog verbissen an seiner Zigarette.
„Okay, ich geb mich geschlagen.“
Wieder Zug an der Zigarette. „Ich geh trotzdem zum Auto! Weil, Mann, du hast vergessen – das Fahrzeug muss auf sein, wenn die das Lösegeld reinlegen wollen.“
„Stimmt! - Hm, und ich geh inzwischen zum Discounter um die Ecke, ein bisschen Fleisch kaufen. Alles andere, Nudeln, Reis, Brot haben wir genug!“
„Genau, Mann. Mach das!“
Blondy war begeistert, dass er sich um das Auto kümmern durfte. Er sprang freudig auf, wurde aber von Bully am Ärmel wieder nach unten gezogen, bis dicht vor des anderen Gesicht: „Dass du mir aber nicht übers Ziel hinausschießt, gell! Du weißt, was ich meine.“
Blondy tat einen Moment unwissend und unschuldig, verbesserte aber seine Haltung schnell. Man kann ja viel sagen, wenn der Tag lang war: „Aber natürlich. Hältst du mich für so dumm, dass ich mir jetzt noch einen Schnitzer erlaub, kurz bevor unser Traum in Erfüllung geht?“
„Bei dir weiß man nie!“ Und Bully schuppste ihn weg.
Blondy verdrehte den Hals in Normallage, rückte sein Hemd zurecht, meckerte aber nicht im gefährlich echauffierten Ton, sondern sagte leichthin: „Manchmal weiß ich wirklich nicht, für wen du mich hältst!“
„Mann, frag nicht! Verschwinde!“
Blondy tat nichts lieber als das.
„Okay! Bis gleich!“
Blondy musste den Wagen aufschließen, musste ja sein. Damit die Lösegeldübergabe stattfinden konnte. Gleichzeitig wollte er das Gelände sondieren, zur Sicherheit. Sich umschauen. Es war immer gut, zu wissen, wie es am Parkplatz und in der Umgebung aussah. Wo man sich auf die Lauer legen konnte. Wo und wie auch immer, man wusste ja nichts Genaueres und ein guter Gauner ist immer auf alles vorbereitet.
Dass er vielleicht auch eine kleine Spritztour mit dem Cabrio machen würde, wer weiß, war nicht auszuschließen, auch wenn das seinem Kumpel gar nicht gefiel, denn darauf bezog sich seine rüde Warnung, nicht über die Stränge zu schlagen und sich etwa das Cabrio zu schnappen und tollkühn durch die Gegend zu rasen, wenn's dumm kommt, auch noch von der Verkehrspolizei geschnappt zu werden und so weiter.
Nein, das wäre nicht gut. Trotzdem schwang er sich besonders schwungvoll aufs Rad und wenn er an den Mercedes Benz dachte, fuhr er wie ein Engel mit Flügeln.
Leichter Nieselregen setzte ein, dazu ein kühler Abendwind. Zum Glück war es noch nicht ganz dunkel. Und wenn für den Fall, dass es bald dunkel sein würde, war er vorbereitet: Sein Fahrrad hatte ein intaktes Licht. Das war wichtig,
Ein paar hundert Meter vor dem Parkplatz stellte er sein Rad ab, schloss es ab und schlich sich über Umwege zu seinem Ziel, wo er prompt jemanden am Parkplatz sichtete. Zum Glück war es kein Polizist, sondern ein Zivilist, wahrscheinlich nur ein Spaziergänger. Sie durften nicht ins Gehege kommen, damit sich jener nicht unnötig sein Gesicht einprägen konnte. Außerdem, man wusste ja nie, um wen es sich dort handelte. So ging Blondy erst einmal in Deckung. Er tat gut daran.
Der Mann verhielt sich sehr verdächtig.
Er umkreiste zunächst den Mercedes Benz wie der sprichwörtliche Katze den heißen Brei. Legte sich dann aber sogar auf den Boden, um den Unterbodenschutz zu untersuchen, sprang wieder auf wie ein Fitnessweltmeister, um dann den Kofferraum zu überprüfen, der allerdings versperrt war.
Wenn das nicht alles sagte!
Es sei denn, es war Zufall.
15. Ein Traum wird Wirklichkeit
Der Neffe des Polizisten musste einen Tag vor der Geldübergabe, am Sonntag, nach dem Rechten schauen. Ihn leitete kein berufliches Interesse, zwar war er Polizist und das nur Verkehrspolizist, aber er hatte seine Gründe an dem gefährlichen Ort der Geldübernahme nach dem Rechten zu sehen. Handfeste. Sie zwangen ihn, zu handeln.
Also hatte er seinen Wagen so vorsichtig weit genug wie Blondy geparkt. Schlich erst einmal um den heißen Brei herum, bis er sich nach gut zehn Minuten dem Mercedes Benz näherte. Aber wollte sich ein Bild von dem Auto verschaffen, in dem das Lösegeld abgelegt werden sollte.
Dass das Krankenhaus nicht in seinem Dienstbezirk lag, spielte keine Rolle. Er war ohnehin nicht auf kriminalistische Spurensuche spezialisiert, sondern auf den Verkehr. Er befand sich ausschließlich in privater Mission hier. Dienstrechtlich war das sehr gefährlich. Was würde er antworten, wenn ihn ein Kollege zur Rede stellen würde? Also musste er sehr vorsichtig sein. Bevor er sich an die Arbeit machte, blickte er sich immer wieder um, bis er tatsächlich jemanden sah. Er sprang auf die Seite des Wagens, die dem Fremden abgewandt war.
Es war nur ein Angestellter des Krankenhauses, der mit einem Rollwagen zum Eingang des Parkplatzes fuhr, um den Inhalt zu entleeren. Dann kehrte er pfeifend zum Krankenhauskomplex zurück.
Nun war es für den Polizisten an der Zeit, sich das Objekt etwas genauer anzusehen, wenn auch immer noch sehr oberflächlich, aber er fand nichts Auffälliges am und im Auto, was er auch nicht erwartet hatte.
Er drehte sich so langsam wie möglich um sich selbst, um eventuell einen Beobachter in der Nähe zu entdecken, bevor er das verräterische Verhalten der Autokontrolle zeigte, nämlich den Versuch, den Kofferraum zu öffnen. Bis dahin schien er nur ein neugieriger Spaziergänger zu sein, der sich von einem schnittigen Mercedes Benz Caprio angezogen fühlte. Aber das war eine Grenzüberschreitung, die ihn verdächtig machte.
Aber er war sich sicher, dass ihn niemand gesehen hatte und ihn beobachtete.
Oder doch?
Jetzt machte er eine verlegene Geste. Er steckte die Hände in die Jackentaschen und schob nervös das Pistolenholster ein wenig nach oben. Von außen war nichts zu erkennen, aber für einen Kleinkriminellen war klar, dass dies ein Geheimnistuer war, der etwas Wichtiges verbarg. Blondy erinnerte sich an die Geste, mit der der Arzt sein Geld berührt hatte.
Sein Misstrauen und sein Interesse waren geweckt.
Der Deckel erwies sich als verschlossen. Seine Suche war damit beendet. Der Polizist wandte sich sofort einem günstigen Versteck im Gebüsch zu, dort, wo Sträucher den Rand des Parkplatzes markierten.
Blondy wusste, dass er dem Fremden auf Schritt und Tritt folgen würde, um ihm sein Kleinod abzunehmen.
'Boa, so eine Pistole kommt gerade recht. Die gehört eigentlich zu professionellen Entführern, wie wir es sind... Erst das Geld - haben's gar nicht geplant. Und jetzt die Waffe - damit wir gewappnet sind! Was für ein Glück!'
Blondy war kurz davor, sich selbst zu verraten, so überschwenglich vor Glück war er.
Die Umstände spielten ihnen einfach in die Hände, als hätte ein höheres Wesen sie geführt.
'Vielleicht gibt es doch einen Gott?', fragte sich Blondy.
Ob es ihn gab oder nicht, das hier war ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Denn worüber hatte er sich noch vor einer Stunde mit seinem Begleiter unterhalten? Richtig, über die Notwendigkeit einer Waffe für professionelle Entführer, wie sie es beide sind! Jawohl!
Jetzt konnten sie sich die Mühe sparen, eine Pistole zu besorgen, um die Erpressung abzusichern. Schließlich wurde hier ein wertvolles Stück auf dem Präsentierteller präsentiert. Jetzt mussten sie nur noch den Pistolenbesitzer überwältigen und schon waren sie im Besitz eines professionellen Werkzeugs, einer Knarre.
Damit wäre ihre Rolle perfekt.
Blondy hatte eine Idee. Er eilte zu seinem Fahrrad zurück und fischte drei Dinge aus seiner Fahrradwerkzeugtasche: eine Taschenlampe gegen die einbrechende Dunkelheit, Kabelbinder und einen zylinderförmigen Schraubenschlüssel zum – für was, werden wir ja sehen.
Als er zum Parkplatz zurückkam, war der Fremde verschwunden.
Oh Gott, er war ihm entwischt. Aber er musste in der Nähe sein, schließlich war der Parkplatz der Ort seines Interesses.
Entwarung!
Zum Glück stellte sich der seltsame Vogel auch noch dumm an. Er war nicht sehr geschickt im Verstecken, denn offensichtlich konnte er nicht still sitzen: Ständig bewegte sich ein Busch.
Blondy vermochte sein unverschämtes Glück kaum zu fassen, dass es der Heini von Hobbydetektiv nicht schaffte, sich schnell und richtig im Unterholz auf die Lauer zu legen. Dass dort noch, wo die Bewegungen zu sehen waren, auch junge Birken standen, war ebenfalls ein Wink des Schicksals. Es war ein deutlich zu erkennendes Merkmal.
Warum war Otto so nervös?
Folgende Gedanken quälten ihn: 'Hätt ich mich nur nicht darauf eingelassen. Hätt ich mich nur nicht auf diese leichtsinnige Spiel eingelassen.'
So zu denken, war gelinde gesagt übertrieben. Es war zudem falsch. Derjenige, der sich dieses Spiel ausgedacht und angestoßen hatte, war nämlich Otto, der Verkehrspolizist und Neffe des entführten Chefarztes. Punkt.
„Filmt die beiden ein bisschen. Und dann verschwindet!“
'Ja, die Rechnung ohne den Wirt gemacht, du Idiot!'
Er war sehr wütend, sehr verärgert auf sich selbst.
Er meinte damit nicht, dass er hierher gekommen war, sondern dass er sich auf den Deal mit den Süchtigen eingelassen hatte. Mussten sich diese auch als Kleinkriminelle und Erpresser der übelsten Sorte entpuppen? Wer konnte das ahnen? Er hatte es nur auf den Neffen abgesehen. Er wollte dem überheblichen Verwandten nur bisschen ans Bein pinkeln, mehr nicht.
Unerkannt. Heimlich. Hm!
Von Entführung und Erpressung hatte er nichts gesagt.
Aber jetzt saß er ganz schön in der Klemme. Nicht auszudenken, wenn herauskam, dass er es mit denen zu tun hatte. Dann konnte er einpacken. Aber in mehrfacher Hinsicht.
Der Verfolger Blondy jubelte derweil insgeheim.
'Umso besser, dass dieser aufgescheuchte Vogel hier herumschwirrt. Den muss ich nicht lange suchen, dem schleiche ich einfach hinterher.'
Doch das war schwieriger als gedacht.
Blondy, dessen Gegner sich gerade auf der anderen Seite postiert hatte, zog sich einige Meter zurück und ging dann hinter den Büschen und etwa fünfzig Meter hinter dem dichten Wald einen kleinen Pfad entlang. Dann bog er rechtwinklig in Richtung Gebüsch und Wald ab, der hier mit dichtem Unterholz noch unpassierbar schien. Dies änderte sich allerdings nach einigen zwanzig Metern, als nur noch Unterholz auftauchte, ein Zeichen dafür, dass er sich dem Gebüsch und der zu verfolgenden Person näherte.
Als Blondy sich anschlich, was bedeutete, dass er sich langsam bewegen musste, begann es zu regnen. Er hielt einen Moment inne und lauschte dem langsamen, gleichmäßigen Tropfen des Regens.
Stille trat ein.
Eine Minute verging.
Dann fuhr ihm der Schrei eines Eichelhähers durch alle Glieder.
Der Verfolger jubelte. Er kannte das Verhalten der Tiere des Waldes. Er wusste, dass dies der Schrei des Eichelhäher war, ein Wächter, ein Warner. In der Nähe musste der Verborgene sein. Also stellte er sich vor, dass dem Ruf des Eichelhähers folgen brauchte, um an sein Ziel zu gelangen.
Doch das war schwieriger als gedacht.
Denn der Ruf war nicht zu orten.
Somit musste er sich entscheiden, wohin er gehen sollte.
Er sah ein dichtes Gebüsch. Dazwischen standen junge Birken. Das war es, dort hatte er vorhin den Zappelphilipp gesehen. Er beschloss, seinen Fuß dorthin zu setzen.
Er bewegte sich auf eine Buschgruppe zu, die noch weit entfernt war.
Als spürte, dass er nahe genug heran war, um gehört zu werden, blieb er stehen.
Es war unvermeidlich, er musste auf allen Vieren kriechen. Es war erniedrigend wie eine Echse zu kriechen, besonders bei diesem regnerischen Wetter.
Die nassen Blätter und Zweige und bald auch seine Füße fühlten sich schwammig an, natürlich, es hatte die ganze Woche geregnet. Der Boden mit seinen Blättern, Zweigen und Moosen hatte das Wasser wie einen Schwamm aufgesogen. Daher roch es nach dem beißenden Modergeruch – direkt vor seiner Nase. Zudem tröpfelte es und tropfte es von allen Seiten und ein Windstoß ließ zu allem Überfluss noch einen Schwall Wasser von den Ästen herab.
Er bemühte sich, den Kopf auf dem Boden zu halten. Er atmete den würzigen Geruch von feuchtem Laub und moderndem Holz ein. Der Geruch von Kiefernholz hier und Fichtenharz dort brachte ihn fast um den Verstand. Und der Schweiß begann in seinem geröteten Gesicht zu brennen.
Er verfluchte die Tatsache, dass er nicht daran gedacht hatte, einen Anorak mit Kapuze anzuziehen. Hätte er nicht damit rechnen müssen, jemanden zu verfolgen, anzupirschen, aufzulauern – so wie jetzt? Hinterher zu jammern half nicht.
Er hustete.
Um jeden Preis zu vermeiden.
Also hustete er noch einmal, noch heftiger. Er hielt den Atem an, bis er laut ausplusterte. Verfluchtes Rauchen.
So ging das nicht.
Was er einmal in einer langen Entwöhnungstherapie gelernt hatte: Yoga. Yoga bedeutete unter allen Umständen gleichmäßig zu atmen. Er drehte sich auf den Rücken und starrte durch die Baumwipfel in den grauen Himmel. Aber nein, er wurde nur nasser, obwohl der gleichmäßige Blick der Meditation alles um ihn herum vergessen ließ. Er drehte sich wieder um und starrte auf den Boden direkt vor seiner Nase.
Tatsächlich half es ihm jetzt. Nach einiger Zeit ging sein Atem gleichmäßiger, der Hustenreiz war verschwunden.
Wer hätte das gedacht! Insofern hatte diese behördliche Entwöhnungsmaßnahme heute Sinn gemacht. Aber sonst nicht, er rauchte und trank wie immer
Als er zwischen den Zweigen, Bäumen und Sträuchern etwas zu entdecken meinte, das sich farblich von der Umgebung abhob, drückte er sich näher an den Boden und begann, wie man es beim Militär lernt, wie ein Reptil über den Boden zu kriechen. Es war fast unmöglich, sich geräuschlos zu bewegen. Alle paar Meter hielt er inne, hustete ein wenig, atmete bewusst gleichmäßig und lauschte den Vögeln, dem Gewürm und dem Getier, das sich über und um ihn herum tummelte.
Ein Vogel piepte laut.
Aber halt, verriet er ihn? Machte das schrille Piepsen auf aufmerksam, auf die Kreatur da unten im Unterholz?
Von wegen!
Blödsinn!
Irgendwo über den Bäumen im grauen Himmel dröhnte ein Flugzeug.
Er schob einen tropfenden Kiefernzweig beiseite. Zu dem stechendem Gefühl kam die Nässe.
In den nassen Socken begannen seine Füße zu jucken und die durchnässte Hose scheuerte klebte an seinen Beinen, scheuerte schließlich, wenn er sie wieder bewegte, bis er vielleicht wund wurde, alles Empfindungen, die ihn daran hinderten, sich lautlos und unhörbar fortzubewegen.
Unter den ausladenden Ästen einer Fichte sah er ihn endlich stehen, ihm den Rücken zugewandt.
Jetzt musste er besonders vorsichtig sein.
Doch unwillkürlich kam ihm seine Unbeholfenheit in den entscheidenden Momenten zugute. .
Er hatte keine Kapuze. Der Verfolgte aber schon, was für Blondy von Vorteil war, denn er hatte sich durch das Überziehen der Kapuze fast taub gemacht. Aber natürlich rechnete er nicht einem Indianer, der von hinten anschlich und ihn überwältigen würde. Er bildete sich ein, er müsse nur ein paar Meter weiter dem Parkplatz mit dem Auto im Blickfeld haben.
Falsch gedacht: Lautes Knacken, heftiges Scharren, ruckartiges Husten und kehliges Hüsteln waren für ihn unhörbar geworden.
Aha, deswegen wurde er nicht entdeckt.
Das war gut so, sehr gut sogar.
Wieder einmal war ihm das Glück, der Zufall, der liebe Gott zu Hilfe gekommen.
Vor lauter Freude hatte Blonde Mühe, ruhig zu bleiben. Seine Raucherlunge regte sich wieder. Er versuchte sich zu beruhigen, indem er immer wieder die Körperhaltung wechselte: auf den Rücken, auf den Bauch.
Aber die Lunge keuchte wie ein Reibeisen. Und immer wieder musste er husten.
Doch der Kapuzenmann war wie eine taube Nuss.
Blondy bildete sich plötzlich ein, dass der Wind plötzlich drehte. Das konnte gut oder schlecht sein, je nachdem, wohin er die Geräusche trug, auf den Fremden zu oder von ihm weg. Da Blondy das nicht einschätzen konnte, beeilte er sich. Jetzt merkte er, dass es sehr dunkel geworden war. Er spürte auch, dass der Regen stärker geworden war.
Sollte seine Glückssträhne nun reißen?
Trotz der Düsternis und des Regens war die Sicht nicht so schlecht, dass Blondy nicht nahe genug an den Polizisten herankommen konnte, um abzuschätzen, wann er seine Mordwaffe einsetzen musste. Diese befand sich in einer übergezogenen Weste, die er erst öffnen musste. Dazu hatte er einen Kabelbinder mitgebracht.
Endlich konnte er dem komischen Kauz vor ihm den kalten Schraubzylinder in den Rücken drücken. Es musste sich anfühlen wie ein Pistolenhals.
„Bleib, wo du bist und rühr dich nicht, dann passiert dir nichts“, raunte er ihm gefährlich ins Ohr. Schweigen war eigentlich völlig überflüssig, aber es entsprach dem Ernst und der Dringlichkeit der Situation.
Der Polizist hatte kurz den Kopf über die Schulter nach hinten geworfen und seinen Gegner mit einem Ah angesehen. Es half nichts. Das gefährliche Rohr des Schraubenschlüssels sprach für sich. Es spielte keine Rolle, dass er ihn erkannt hatte. Dass er derjenige war, den er vor ein paar Wochen mit seinem Kumpel bei einer Verkehrskontrolle getroffen hatte und sie dann diesen Deal vereinbart hatten. Es war auch nicht wichtig, dass Blondy wusste, mit wem er es hier zu tun hatte.
Alles, alles egal.
Kein Denken, nur Handeln war jetzt angesagt, schnell, präzise und unerbittlich.
Und der Polizist gehorchte.
„Jetzt Hände auf den Rücken!“
Der Polizist tat wie ihm geheißen.
Dann fesselte Blondy ihn mit einem Kabelbinder.
„Rühr dich nicht, dreh dich nicht um, bleib wo du bist!“
„Ich rühr mich nicht, dreh mich nicht um, bleib wo ich bin!“
„So ist gut!“
„Ja, das ist gut!“
„Alles?“
„Ja, alles ist gut!“
„Wunderbar!“
Von hinten fischte er die Pistole aus der Pargatasche des Gefangenen. Schließlich, als Blondy die Waffe an sich genommen hatte, verabschiedete er sich mit eindringlichen Worten: „Bleib eine Viertelstunde hier liegen. Äh, oder besser, zähl bis tausend, bevor du aufstehst! Verstanden!“
Der Polizist nickte ergeben.
„Bis Tausend zählen!“
„Mindestens!“
„Mindestens und höchstens eine Stunde liegen bleiben.“
„Sehr guuut! Du kapierst schnell!“
„Ja, ich hab verstanden!“
„Ja, dann haben wir uns verstanden.“
„Wir verstehen uns!“
„Wenn du mich verfolgst, dann schieß ich! Verstanden!“
„Natürlich nicht. Nicht verfolgen. Ich hab's ja verstanden!“
„Guut!“
Er drückte etwas fester zu. Konnte ja nicht schaden. Auch wenn der Polizist wie ein Papagei alles nachplapperte, was man ihm sagte, hieß das noch lange nicht, dass er verstanden hatte. Das versteht sich von selbst, wenn man wie Blondy etwas von Psychologie versteht.
Jedenfalls nickte er und drückte nun den Übertölpelten mit dem Gesicht tiefer ins Unterholz, der sich nicht mehr rührte und sich unendlich schämte.
Blondy stellte seinen Fuß auf den Rücken des mit dem Gesicht auf dem Boden Liegenden und betrachtete die Pistole mit liebevollen Augen. Plötzlich fühlte er sich tausendmal besser als je. Er hielt die Pistole an seine Nase, schnupperte an ihr, ob sie nach Schmauch roch, betrachtete den Lauf von außen und sah, dass er schwarz war. Er wischte dieses Rohr nicht etwa an der Hose, wo seine Oberschenkel waren, oder am Ärmel seiner Jacke, nein, sondern, so merkwürdig es klingen mag, er putzte den Lauf tatsächlich hinten ab. ja wirklich, mitten dort, wo sein Hintern war. Vielleicht nicht genau in der Mitte, vielleicht etwas mehr seitlich, an einer Arschbacke entlang, so abstrus es klingen mag.
Dann lugte er in den Lauf der Pistole, kniff das Auge zu, um besser fokussieren zu können, war zufrieden. Er konnte wohl keine Metallstücke, verirrte Kiesel oder dicke Schmauchspuren entdecken, die Funktionsfähigkeit der Pistole beeinträchtigt und blockiert hätte.
Dann hielt die Waffe hoch, den Arm fast senkrecht ausgestreckt.
Schießen?
Nein! So dumm war er nicht.
Aber er hielt die Pistole lange so in die Luft gestreckt. Er spürte, dass sich etwas unter ihm regte und drückte mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Liegenden unten. Der schrie natürlich vor Schmerz auf.
„Halt's Maul!“
„Ja!“
„Halt's Maul!“
Endlich verstand er und tat es.
Die Pistole da! Sie kam ihm vor wie ein Glied seines eigenen Körpers. Es keimten Phantasien auf, was man mit einem solchen Glied alles anstellen könnte. Es sei so viel verraten, dass er dabei an die Krankenschwester im Keller dachte. Erstaunlich, dass für Blondy ein Fremdkörper wie diese Frau plötzlich ein lustvoller, erregender und freudiger Gegenstand sein konnte.
Aber diese Pistole war für ihn wie eines seiner wichtigen Körperteile.
Dann machte sich Blondy langsam auf den Weg und dachte: 'So ein Ding in der Hand, an der Hüfte, am Körper gibt Halt und Sicherheit und macht einen zu einem aufrechten Menschen. Super!'
Schritt für Schritt ging er weiter, über Gebüsch, Steine, Moos, Flechten, Efeu, Gestrüpp, einfach über die ganze Welt schwebte er.
Er vergaß alles um sich herum, gar sein Opfer, dass nur wenige Meter hinter ihm lag. Fast wie ein stolzes Pferd mit aufrechtem Hals und angewinkelten Knien ritt er aus dem Gebüsch und dem Wald heraus als absolvierte er eine Kür. Es fehlte nur noch, dass er vor Freude wieherte.
Als er aus dem Wald auf den Parkplatz trat, sozusagen wieder ins Licht der Öffentlichkeit, spürte er, wie sich seine Gedanken eintrübten und er sich sehr beklommen fühlte. Irgendetwas musste er übersehen und vergessen haben bei alldem. Das musste so sein, denn alles war ein bisschen zu schnell gegangen. Zu glatt und reibungslos. Kurzum, er konnte sein Glück nicht fassen und es wurde ihm unheimlich!
Stolz, beschwingt und aufrecht wie noch nie in seinem Leben lief er zu seinem Fahrrad, öffnete den Werkzeughalter am Sattel und steckte die Pistole hinein. Aufgeregt und beschwingt schwang er sich darauf.
Hatte er einen Fehler gemacht?
Hätte er den Polizisten besser niedergeschlagen?
Jetzt würde er ihm bestimmt heimlich folgen. Vielleicht! Schnell, schnell.
Er warf sich in die Pedale und kämpfte sich mit seinem Fahrrad durch das Gebüsch über schmale Waldwege zum Tunnel unter den Bahngleisen, der der kürzeste Weg nach Hause war.
Kurz davor hatte er die zündende Idee.
Er schob sein Fahrrad durch den kleinen Tunnel, stellte es zur Seite und öffnete das Fahrradschloss.
Die Unterführung hatte auf beiden Seiten schmiedeeiserne Türen, die offen standen. Manchmal musste der Durchgang aus irgendwelchem Grund geschlossen werden. Er brauchte sie nur abzuschließen, nämlich mit dem Fahrradschloss, dann würden keine zehn Pferde das Eisentor aufbrechen und sein Fluchtweg wäre gesichert.
Das tat er.
Dann eilte er davon.
Der Fremde mag ihm in gebührendem Abstand gefolgt sein, aber vor dem Tunnel war Ende Gelände! Bei Regen und Dunkelheit die Gleise zu überqueren, ist glatter Selbstmord.
In dem Moment, als Blondy das Haus betrat, wurde ihm schrecklich klar: Die Geiseln mussten erschossen werden.
Unbedingt!
Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu. Das war eine Dimension, in der ihm die Luft wegblieb. Die Sache nahm jetzt Ausmaße an, die sein Fassungsvermögen überstiegen. Er fühlte sich wie in der Luft hängend, ohne Boden unter den Füßen, während er gleichzeitig mit Lichtgeschwindigkeit in eine Zukunft geschleudert wurde, die er sich nicht vorstellen konnte.
Wo würde er mit den Füßen landen?
Ihm wurde schwindelig, sein Puls raste.
Aber kein Problem. Kein Problem? Sagte er sich. Dabei wog und streichelte er die schöne, schwere Waffe in seinen Händen liebevoll wie einen Goldbarren. Oder er klammerte sich verkrampft wie ein Kind an die Handgelenke der Mutter?
E-Book:
https://www.neobooks.com/ebooks/werner- ... JQNBbdngtS
Also hatte er seinen Wagen so vorsichtig weit genug wie Blondy geparkt. Schlich erst einmal um den heißen Brei herum, bis er sich nach gut zehn Minuten dem Mercedes Benz näherte. Aber wollte sich ein Bild von dem Auto verschaffen, in dem das Lösegeld abgelegt werden sollte.
Dass das Krankenhaus nicht in seinem Dienstbezirk lag, spielte keine Rolle. Er war ohnehin nicht auf kriminalistische Spurensuche spezialisiert, sondern auf den Verkehr. Er befand sich ausschließlich in privater Mission hier. Dienstrechtlich war das sehr gefährlich. Was würde er antworten, wenn ihn ein Kollege zur Rede stellen würde? Also musste er sehr vorsichtig sein. Bevor er sich an die Arbeit machte, blickte er sich immer wieder um, bis er tatsächlich jemanden sah. Er sprang auf die Seite des Wagens, die dem Fremden abgewandt war.
Es war nur ein Angestellter des Krankenhauses, der mit einem Rollwagen zum Eingang des Parkplatzes fuhr, um den Inhalt zu entleeren. Dann kehrte er pfeifend zum Krankenhauskomplex zurück.
Nun war es für den Polizisten an der Zeit, sich das Objekt etwas genauer anzusehen, wenn auch immer noch sehr oberflächlich, aber er fand nichts Auffälliges am und im Auto, was er auch nicht erwartet hatte.
Er drehte sich so langsam wie möglich um sich selbst, um eventuell einen Beobachter in der Nähe zu entdecken, bevor er das verräterische Verhalten der Autokontrolle zeigte, nämlich den Versuch, den Kofferraum zu öffnen. Bis dahin schien er nur ein neugieriger Spaziergänger zu sein, der sich von einem schnittigen Mercedes Benz Caprio angezogen fühlte. Aber das war eine Grenzüberschreitung, die ihn verdächtig machte.
Aber er war sich sicher, dass ihn niemand gesehen hatte und ihn beobachtete.
Oder doch?
Jetzt machte er eine verlegene Geste. Er steckte die Hände in die Jackentaschen und schob nervös das Pistolenholster ein wenig nach oben. Von außen war nichts zu erkennen, aber für einen Kleinkriminellen war klar, dass dies ein Geheimnistuer war, der etwas Wichtiges verbarg. Blondy erinnerte sich an die Geste, mit der der Arzt sein Geld berührt hatte.
Sein Misstrauen und sein Interesse waren geweckt.
Der Deckel erwies sich als verschlossen. Seine Suche war damit beendet. Der Polizist wandte sich sofort einem günstigen Versteck im Gebüsch zu, dort, wo Sträucher den Rand des Parkplatzes markierten.
Blondy wusste, dass er dem Fremden auf Schritt und Tritt folgen würde, um ihm sein Kleinod abzunehmen.
'Boa, so eine Pistole kommt gerade recht. Die gehört eigentlich zu professionellen Entführern, wie wir es sind... Erst das Geld - haben's gar nicht geplant. Und jetzt die Waffe - damit wir gewappnet sind! Was für ein Glück!'
Blondy war kurz davor, sich selbst zu verraten, so überschwenglich vor Glück war er.
Die Umstände spielten ihnen einfach in die Hände, als hätte ein höheres Wesen sie geführt.
'Vielleicht gibt es doch einen Gott?', fragte sich Blondy.
Ob es ihn gab oder nicht, das hier war ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Denn worüber hatte er sich noch vor einer Stunde mit seinem Begleiter unterhalten? Richtig, über die Notwendigkeit einer Waffe für professionelle Entführer, wie sie es beide sind! Jawohl!
Jetzt konnten sie sich die Mühe sparen, eine Pistole zu besorgen, um die Erpressung abzusichern. Schließlich wurde hier ein wertvolles Stück auf dem Präsentierteller präsentiert. Jetzt mussten sie nur noch den Pistolenbesitzer überwältigen und schon waren sie im Besitz eines professionellen Werkzeugs, einer Knarre.
Damit wäre ihre Rolle perfekt.
Blondy hatte eine Idee. Er eilte zu seinem Fahrrad zurück und fischte drei Dinge aus seiner Fahrradwerkzeugtasche: eine Taschenlampe gegen die einbrechende Dunkelheit, Kabelbinder und einen zylinderförmigen Schraubenschlüssel zum – für was, werden wir ja sehen.
Als er zum Parkplatz zurückkam, war der Fremde verschwunden.
Oh Gott, er war ihm entwischt. Aber er musste in der Nähe sein, schließlich war der Parkplatz der Ort seines Interesses.
Entwarung!
Zum Glück stellte sich der seltsame Vogel auch noch dumm an. Er war nicht sehr geschickt im Verstecken, denn offensichtlich konnte er nicht still sitzen: Ständig bewegte sich ein Busch.
Blondy vermochte sein unverschämtes Glück kaum zu fassen, dass es der Heini von Hobbydetektiv nicht schaffte, sich schnell und richtig im Unterholz auf die Lauer zu legen. Dass dort noch, wo die Bewegungen zu sehen waren, auch junge Birken standen, war ebenfalls ein Wink des Schicksals. Es war ein deutlich zu erkennendes Merkmal.
Warum war Otto so nervös?
Folgende Gedanken quälten ihn: 'Hätt ich mich nur nicht darauf eingelassen. Hätt ich mich nur nicht auf diese leichtsinnige Spiel eingelassen.'
So zu denken, war gelinde gesagt übertrieben. Es war zudem falsch. Derjenige, der sich dieses Spiel ausgedacht und angestoßen hatte, war nämlich Otto, der Verkehrspolizist und Neffe des entführten Chefarztes. Punkt.
„Filmt die beiden ein bisschen. Und dann verschwindet!“
'Ja, die Rechnung ohne den Wirt gemacht, du Idiot!'
Er war sehr wütend, sehr verärgert auf sich selbst.
Er meinte damit nicht, dass er hierher gekommen war, sondern dass er sich auf den Deal mit den Süchtigen eingelassen hatte. Mussten sich diese auch als Kleinkriminelle und Erpresser der übelsten Sorte entpuppen? Wer konnte das ahnen? Er hatte es nur auf den Neffen abgesehen. Er wollte dem überheblichen Verwandten nur bisschen ans Bein pinkeln, mehr nicht.
Unerkannt. Heimlich. Hm!
Von Entführung und Erpressung hatte er nichts gesagt.
Aber jetzt saß er ganz schön in der Klemme. Nicht auszudenken, wenn herauskam, dass er es mit denen zu tun hatte. Dann konnte er einpacken. Aber in mehrfacher Hinsicht.
Der Verfolger Blondy jubelte derweil insgeheim.
'Umso besser, dass dieser aufgescheuchte Vogel hier herumschwirrt. Den muss ich nicht lange suchen, dem schleiche ich einfach hinterher.'
Doch das war schwieriger als gedacht.
Blondy, dessen Gegner sich gerade auf der anderen Seite postiert hatte, zog sich einige Meter zurück und ging dann hinter den Büschen und etwa fünfzig Meter hinter dem dichten Wald einen kleinen Pfad entlang. Dann bog er rechtwinklig in Richtung Gebüsch und Wald ab, der hier mit dichtem Unterholz noch unpassierbar schien. Dies änderte sich allerdings nach einigen zwanzig Metern, als nur noch Unterholz auftauchte, ein Zeichen dafür, dass er sich dem Gebüsch und der zu verfolgenden Person näherte.
Als Blondy sich anschlich, was bedeutete, dass er sich langsam bewegen musste, begann es zu regnen. Er hielt einen Moment inne und lauschte dem langsamen, gleichmäßigen Tropfen des Regens.
Stille trat ein.
Eine Minute verging.
Dann fuhr ihm der Schrei eines Eichelhähers durch alle Glieder.
Der Verfolger jubelte. Er kannte das Verhalten der Tiere des Waldes. Er wusste, dass dies der Schrei des Eichelhäher war, ein Wächter, ein Warner. In der Nähe musste der Verborgene sein. Also stellte er sich vor, dass dem Ruf des Eichelhähers folgen brauchte, um an sein Ziel zu gelangen.
Doch das war schwieriger als gedacht.
Denn der Ruf war nicht zu orten.
Somit musste er sich entscheiden, wohin er gehen sollte.
Er sah ein dichtes Gebüsch. Dazwischen standen junge Birken. Das war es, dort hatte er vorhin den Zappelphilipp gesehen. Er beschloss, seinen Fuß dorthin zu setzen.
Er bewegte sich auf eine Buschgruppe zu, die noch weit entfernt war.
Als spürte, dass er nahe genug heran war, um gehört zu werden, blieb er stehen.
Es war unvermeidlich, er musste auf allen Vieren kriechen. Es war erniedrigend wie eine Echse zu kriechen, besonders bei diesem regnerischen Wetter.
Die nassen Blätter und Zweige und bald auch seine Füße fühlten sich schwammig an, natürlich, es hatte die ganze Woche geregnet. Der Boden mit seinen Blättern, Zweigen und Moosen hatte das Wasser wie einen Schwamm aufgesogen. Daher roch es nach dem beißenden Modergeruch – direkt vor seiner Nase. Zudem tröpfelte es und tropfte es von allen Seiten und ein Windstoß ließ zu allem Überfluss noch einen Schwall Wasser von den Ästen herab.
Er bemühte sich, den Kopf auf dem Boden zu halten. Er atmete den würzigen Geruch von feuchtem Laub und moderndem Holz ein. Der Geruch von Kiefernholz hier und Fichtenharz dort brachte ihn fast um den Verstand. Und der Schweiß begann in seinem geröteten Gesicht zu brennen.
Er verfluchte die Tatsache, dass er nicht daran gedacht hatte, einen Anorak mit Kapuze anzuziehen. Hätte er nicht damit rechnen müssen, jemanden zu verfolgen, anzupirschen, aufzulauern – so wie jetzt? Hinterher zu jammern half nicht.
Er hustete.
Um jeden Preis zu vermeiden.
Also hustete er noch einmal, noch heftiger. Er hielt den Atem an, bis er laut ausplusterte. Verfluchtes Rauchen.
So ging das nicht.
Was er einmal in einer langen Entwöhnungstherapie gelernt hatte: Yoga. Yoga bedeutete unter allen Umständen gleichmäßig zu atmen. Er drehte sich auf den Rücken und starrte durch die Baumwipfel in den grauen Himmel. Aber nein, er wurde nur nasser, obwohl der gleichmäßige Blick der Meditation alles um ihn herum vergessen ließ. Er drehte sich wieder um und starrte auf den Boden direkt vor seiner Nase.
Tatsächlich half es ihm jetzt. Nach einiger Zeit ging sein Atem gleichmäßiger, der Hustenreiz war verschwunden.
Wer hätte das gedacht! Insofern hatte diese behördliche Entwöhnungsmaßnahme heute Sinn gemacht. Aber sonst nicht, er rauchte und trank wie immer
Als er zwischen den Zweigen, Bäumen und Sträuchern etwas zu entdecken meinte, das sich farblich von der Umgebung abhob, drückte er sich näher an den Boden und begann, wie man es beim Militär lernt, wie ein Reptil über den Boden zu kriechen. Es war fast unmöglich, sich geräuschlos zu bewegen. Alle paar Meter hielt er inne, hustete ein wenig, atmete bewusst gleichmäßig und lauschte den Vögeln, dem Gewürm und dem Getier, das sich über und um ihn herum tummelte.
Ein Vogel piepte laut.
Aber halt, verriet er ihn? Machte das schrille Piepsen auf aufmerksam, auf die Kreatur da unten im Unterholz?
Von wegen!
Blödsinn!
Irgendwo über den Bäumen im grauen Himmel dröhnte ein Flugzeug.
Er schob einen tropfenden Kiefernzweig beiseite. Zu dem stechendem Gefühl kam die Nässe.
In den nassen Socken begannen seine Füße zu jucken und die durchnässte Hose scheuerte klebte an seinen Beinen, scheuerte schließlich, wenn er sie wieder bewegte, bis er vielleicht wund wurde, alles Empfindungen, die ihn daran hinderten, sich lautlos und unhörbar fortzubewegen.
Unter den ausladenden Ästen einer Fichte sah er ihn endlich stehen, ihm den Rücken zugewandt.
Jetzt musste er besonders vorsichtig sein.
Doch unwillkürlich kam ihm seine Unbeholfenheit in den entscheidenden Momenten zugute. .
Er hatte keine Kapuze. Der Verfolgte aber schon, was für Blondy von Vorteil war, denn er hatte sich durch das Überziehen der Kapuze fast taub gemacht. Aber natürlich rechnete er nicht einem Indianer, der von hinten anschlich und ihn überwältigen würde. Er bildete sich ein, er müsse nur ein paar Meter weiter dem Parkplatz mit dem Auto im Blickfeld haben.
Falsch gedacht: Lautes Knacken, heftiges Scharren, ruckartiges Husten und kehliges Hüsteln waren für ihn unhörbar geworden.
Aha, deswegen wurde er nicht entdeckt.
Das war gut so, sehr gut sogar.
Wieder einmal war ihm das Glück, der Zufall, der liebe Gott zu Hilfe gekommen.
Vor lauter Freude hatte Blonde Mühe, ruhig zu bleiben. Seine Raucherlunge regte sich wieder. Er versuchte sich zu beruhigen, indem er immer wieder die Körperhaltung wechselte: auf den Rücken, auf den Bauch.
Aber die Lunge keuchte wie ein Reibeisen. Und immer wieder musste er husten.
Doch der Kapuzenmann war wie eine taube Nuss.
Blondy bildete sich plötzlich ein, dass der Wind plötzlich drehte. Das konnte gut oder schlecht sein, je nachdem, wohin er die Geräusche trug, auf den Fremden zu oder von ihm weg. Da Blondy das nicht einschätzen konnte, beeilte er sich. Jetzt merkte er, dass es sehr dunkel geworden war. Er spürte auch, dass der Regen stärker geworden war.
Sollte seine Glückssträhne nun reißen?
Trotz der Düsternis und des Regens war die Sicht nicht so schlecht, dass Blondy nicht nahe genug an den Polizisten herankommen konnte, um abzuschätzen, wann er seine Mordwaffe einsetzen musste. Diese befand sich in einer übergezogenen Weste, die er erst öffnen musste. Dazu hatte er einen Kabelbinder mitgebracht.
Endlich konnte er dem komischen Kauz vor ihm den kalten Schraubzylinder in den Rücken drücken. Es musste sich anfühlen wie ein Pistolenhals.
„Bleib, wo du bist und rühr dich nicht, dann passiert dir nichts“, raunte er ihm gefährlich ins Ohr. Schweigen war eigentlich völlig überflüssig, aber es entsprach dem Ernst und der Dringlichkeit der Situation.
Der Polizist hatte kurz den Kopf über die Schulter nach hinten geworfen und seinen Gegner mit einem Ah angesehen. Es half nichts. Das gefährliche Rohr des Schraubenschlüssels sprach für sich. Es spielte keine Rolle, dass er ihn erkannt hatte. Dass er derjenige war, den er vor ein paar Wochen mit seinem Kumpel bei einer Verkehrskontrolle getroffen hatte und sie dann diesen Deal vereinbart hatten. Es war auch nicht wichtig, dass Blondy wusste, mit wem er es hier zu tun hatte.
Alles, alles egal.
Kein Denken, nur Handeln war jetzt angesagt, schnell, präzise und unerbittlich.
Und der Polizist gehorchte.
„Jetzt Hände auf den Rücken!“
Der Polizist tat wie ihm geheißen.
Dann fesselte Blondy ihn mit einem Kabelbinder.
„Rühr dich nicht, dreh dich nicht um, bleib wo du bist!“
„Ich rühr mich nicht, dreh mich nicht um, bleib wo ich bin!“
„So ist gut!“
„Ja, das ist gut!“
„Alles?“
„Ja, alles ist gut!“
„Wunderbar!“
Von hinten fischte er die Pistole aus der Pargatasche des Gefangenen. Schließlich, als Blondy die Waffe an sich genommen hatte, verabschiedete er sich mit eindringlichen Worten: „Bleib eine Viertelstunde hier liegen. Äh, oder besser, zähl bis tausend, bevor du aufstehst! Verstanden!“
Der Polizist nickte ergeben.
„Bis Tausend zählen!“
„Mindestens!“
„Mindestens und höchstens eine Stunde liegen bleiben.“
„Sehr guuut! Du kapierst schnell!“
„Ja, ich hab verstanden!“
„Ja, dann haben wir uns verstanden.“
„Wir verstehen uns!“
„Wenn du mich verfolgst, dann schieß ich! Verstanden!“
„Natürlich nicht. Nicht verfolgen. Ich hab's ja verstanden!“
„Guut!“
Er drückte etwas fester zu. Konnte ja nicht schaden. Auch wenn der Polizist wie ein Papagei alles nachplapperte, was man ihm sagte, hieß das noch lange nicht, dass er verstanden hatte. Das versteht sich von selbst, wenn man wie Blondy etwas von Psychologie versteht.
Jedenfalls nickte er und drückte nun den Übertölpelten mit dem Gesicht tiefer ins Unterholz, der sich nicht mehr rührte und sich unendlich schämte.
Blondy stellte seinen Fuß auf den Rücken des mit dem Gesicht auf dem Boden Liegenden und betrachtete die Pistole mit liebevollen Augen. Plötzlich fühlte er sich tausendmal besser als je. Er hielt die Pistole an seine Nase, schnupperte an ihr, ob sie nach Schmauch roch, betrachtete den Lauf von außen und sah, dass er schwarz war. Er wischte dieses Rohr nicht etwa an der Hose, wo seine Oberschenkel waren, oder am Ärmel seiner Jacke, nein, sondern, so merkwürdig es klingen mag, er putzte den Lauf tatsächlich hinten ab. ja wirklich, mitten dort, wo sein Hintern war. Vielleicht nicht genau in der Mitte, vielleicht etwas mehr seitlich, an einer Arschbacke entlang, so abstrus es klingen mag.
Dann lugte er in den Lauf der Pistole, kniff das Auge zu, um besser fokussieren zu können, war zufrieden. Er konnte wohl keine Metallstücke, verirrte Kiesel oder dicke Schmauchspuren entdecken, die Funktionsfähigkeit der Pistole beeinträchtigt und blockiert hätte.
Dann hielt die Waffe hoch, den Arm fast senkrecht ausgestreckt.
Schießen?
Nein! So dumm war er nicht.
Aber er hielt die Pistole lange so in die Luft gestreckt. Er spürte, dass sich etwas unter ihm regte und drückte mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Liegenden unten. Der schrie natürlich vor Schmerz auf.
„Halt's Maul!“
„Ja!“
„Halt's Maul!“
Endlich verstand er und tat es.
Die Pistole da! Sie kam ihm vor wie ein Glied seines eigenen Körpers. Es keimten Phantasien auf, was man mit einem solchen Glied alles anstellen könnte. Es sei so viel verraten, dass er dabei an die Krankenschwester im Keller dachte. Erstaunlich, dass für Blondy ein Fremdkörper wie diese Frau plötzlich ein lustvoller, erregender und freudiger Gegenstand sein konnte.
Aber diese Pistole war für ihn wie eines seiner wichtigen Körperteile.
Dann machte sich Blondy langsam auf den Weg und dachte: 'So ein Ding in der Hand, an der Hüfte, am Körper gibt Halt und Sicherheit und macht einen zu einem aufrechten Menschen. Super!'
Schritt für Schritt ging er weiter, über Gebüsch, Steine, Moos, Flechten, Efeu, Gestrüpp, einfach über die ganze Welt schwebte er.
Er vergaß alles um sich herum, gar sein Opfer, dass nur wenige Meter hinter ihm lag. Fast wie ein stolzes Pferd mit aufrechtem Hals und angewinkelten Knien ritt er aus dem Gebüsch und dem Wald heraus als absolvierte er eine Kür. Es fehlte nur noch, dass er vor Freude wieherte.
Als er aus dem Wald auf den Parkplatz trat, sozusagen wieder ins Licht der Öffentlichkeit, spürte er, wie sich seine Gedanken eintrübten und er sich sehr beklommen fühlte. Irgendetwas musste er übersehen und vergessen haben bei alldem. Das musste so sein, denn alles war ein bisschen zu schnell gegangen. Zu glatt und reibungslos. Kurzum, er konnte sein Glück nicht fassen und es wurde ihm unheimlich!
Stolz, beschwingt und aufrecht wie noch nie in seinem Leben lief er zu seinem Fahrrad, öffnete den Werkzeughalter am Sattel und steckte die Pistole hinein. Aufgeregt und beschwingt schwang er sich darauf.
Hatte er einen Fehler gemacht?
Hätte er den Polizisten besser niedergeschlagen?
Jetzt würde er ihm bestimmt heimlich folgen. Vielleicht! Schnell, schnell.
Er warf sich in die Pedale und kämpfte sich mit seinem Fahrrad durch das Gebüsch über schmale Waldwege zum Tunnel unter den Bahngleisen, der der kürzeste Weg nach Hause war.
Kurz davor hatte er die zündende Idee.
Er schob sein Fahrrad durch den kleinen Tunnel, stellte es zur Seite und öffnete das Fahrradschloss.
Die Unterführung hatte auf beiden Seiten schmiedeeiserne Türen, die offen standen. Manchmal musste der Durchgang aus irgendwelchem Grund geschlossen werden. Er brauchte sie nur abzuschließen, nämlich mit dem Fahrradschloss, dann würden keine zehn Pferde das Eisentor aufbrechen und sein Fluchtweg wäre gesichert.
Das tat er.
Dann eilte er davon.
Der Fremde mag ihm in gebührendem Abstand gefolgt sein, aber vor dem Tunnel war Ende Gelände! Bei Regen und Dunkelheit die Gleise zu überqueren, ist glatter Selbstmord.
In dem Moment, als Blondy das Haus betrat, wurde ihm schrecklich klar: Die Geiseln mussten erschossen werden.
Unbedingt!
Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu. Das war eine Dimension, in der ihm die Luft wegblieb. Die Sache nahm jetzt Ausmaße an, die sein Fassungsvermögen überstiegen. Er fühlte sich wie in der Luft hängend, ohne Boden unter den Füßen, während er gleichzeitig mit Lichtgeschwindigkeit in eine Zukunft geschleudert wurde, die er sich nicht vorstellen konnte.
Wo würde er mit den Füßen landen?
Ihm wurde schwindelig, sein Puls raste.
Aber kein Problem. Kein Problem? Sagte er sich. Dabei wog und streichelte er die schöne, schwere Waffe in seinen Händen liebevoll wie einen Goldbarren. Oder er klammerte sich verkrampft wie ein Kind an die Handgelenke der Mutter?
E-Book:
https://www.neobooks.com/ebooks/werner- ... JQNBbdngtS
16. Ein Held kennt keine Schmerzen ....
15a. Frivole Küchenspiele
Für den Verlauf nicht so relevant/Siehe E-Book
16. Ein Held kennt keine Schmerzen...
Blondy geriet in Panik.
Waren sie zu gierig?
War es richtig, das Lösegeld noch einmal zu erhöhen?
Das hatten sie beim letzten Kontakt mit der Ehefrau gefordert und ihr gesagt, sie solle das Auto abschließen, nachdem sie das Geld abgelegt hatte. Dann sollte sie den Türgriff herunterdrücken und sich mit dem Körper gegen die geschlossene Tür stemmen, damit sie auch wirklich zu war. Schließlich könnte ja jemand zuschauen oder ein Passamt das Fahrzeug nach Verwertbarem durchsuchen und am Ende auf die teuren Scheine stoßen.
Vielleicht hatte die Ehefrau trotz Warnung längst die Polizei verständigt? Die hatte die Anrufer schnell ausfindig gemacht. Wurden sie schon observiert? Wenn sie den letzten Anruf nicht zurückverfolgen konnten, dann wussten sie zumindest, wo das Auto stand. Wo hatten sie sich versteckt, diese blauen Männchen vom Mars?
Blondy scannte das Gelände um den Parkplatz Zentimeter für Zentimeter. Aber nichts, nichts, nichts. Zum Verrücktwerden!
Wie gingen die Behörden vor? Was war ihr Ziel? Die Entführten möglichst unversehrt befreien? Warten, bis die Entführer fliehen? Oder vorher zuschlagen? Beobachten und ermitteln, bis die Anklage hieb- und stichfest war? Die Verfolgten sollten sich bei der Vernehmung nicht herausreden können. Verdammt, wie war wohl die polizeiliche Vorgehensweise?
Diese Unsicherheit!
Er langte an die Pistole an seiner Seite und fühlte sich ein wenig entspannter.
Sie würden es der Polizei nicht leicht machen, sie zu kassieren, das war klar.
Doch plötzlich fühlte sich Blondy unter scharfer Beobachtung, spürte förmlich die Kameraobjektive und Peilsender wie unsichtbare Pfeile auf sich niedergehen.
Ruhe bewahren! Kuhl bleiben!
Ängstlich und übervorsichtig schlich er eine ganze Weile auf Abstand um den Parkplatz herum wie die Katze um den heißen Brei. Er traute sich einfach nicht, an das Lösegeld heranzugehen.
Er musste verdammt auf der Hut sein.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus, torkelte ziellos wie ein Betrunkener auf das Cabrio zu, täuschte einen Schwächeanfall vor, stützte sich mit einer Hand am Fahrzeug ab, taumelte erst einmal wie ein Betrunkener herum und warf verstohlene Blicke ins Innere. Verflucht, nichts, keine Spur von dem Geld. Fluchtartig verließ er den Ort.
Legte sich erneut auf die Lauer und wartete ungeduldig auf den Einbruch der Dämmerung. So dunkel wie möglich sollte es sein für den optimalen Moment, das Geld zu holen …
Er verlor die Nerven.
Ging zielstrebig auf das Auto zu, tat so, als wolle er es öffnen, schien es sich dann aber anders zu überlegen und entfernte sich wieder vom Auto. Plötzlich blieb er stehen, stampfte mit dem Fuß auf, jetzt war ihm alles zu blöd, zu dumm geworden - alles egal, egal - er kehrte um und riss die Autotür auf.
Das Geld war da!
Oder?
Auf der Fußmatte lag ein Briefumschlag.
Er bückte sich, nahm den dicken, geöffneten Umschlag, hielt ihn an die Brust, als wollte er verhindern, dass man ihn ihm wegnahm, spitzte hinein, sah die Blüten, faltete den Umschlag wieder, stopfte ihn in die Hosentasche, bewegte den Oberkörper aus dem Auto, schlug die Tür nicht zu, sondern drückte sie so sanft wie möglich zu, drehte den Kopf blitzschnell hin und her, um das Terrain zu checken – und machte sich zum Fahrrad auf.
Er war sich des neuralgischen Punktes sehr wohl bewusst.
Sein ausgeschaltetes Handy sendete zwar nicht direkt, aber doch irgendwie Signale, wenn es sich wie jetzt im Ruhemodus befand. Er hatte mal davon gehört: Handys im Offline-Modus sind trotzdem intakt.
Verflixt, man wusste einfach nicht, welche Möglichkeiten die Behörden hatten. Gegen die heutige Technik war man machtlos.
Und die Verfolger konnten ihm jetzt auf den Fersen sein, hinter diesem oder jenem Busch oder Baum sitzen. Verdammt, die hatten unendlich viel Personal!
Blitzschnell drehte er sich um, sah niemanden, nicht dort, nicht hier, nirgendwo. Als wäre er allein auf der Welt.
Aber das täuschte. Er war nicht dumm. Zumindest gegen Verfolger konnte er etwas tun.
Der kürzeste Weg war durch den Tunnel.
Er machte sich nicht einmal die Mühe, Haken und Zickzack zu schlagen, sondern fuhr auf direktem Weg dorthin.
Hier würde er einen Plan in die Tat umsetzen.
Bereits auf dem Hinweg hatte er sein Fahrradschloss mitgenommen.
Was einmal funktionierte, würde auch wieder funktionieren.
Das war das Ende der Fahnenstange für den Verfolger.
Er verriegelte wieder die Tunneltür, schob sein Fahrrad durch die stickige, stinkende Röhre bis ans andere Ende. Stellte das Fahrrad zur Seite. Dann legte er sich zwischen Büschen des Bahndamm auf die Lauer. Der einzige Weg zu ihm führte über die Bahngleise, ein gefährliches Unterfangen bei diesen Hochgeschwindigkeitszügen.
Aber man wusste ja nie. Und man musste mit allem rechnen.
Mit der Pistole im Anschlag verharrte er einige Minuten auf dieser Seite gut versteckt.
Bald wusste er, seine Glückssträhne dauerte noch immer an. Niemand kam.
Exakt zwei Minuten verstrichen. Das müsste reichen. Wenn jetzt noch niemand aufgetaucht ist, wird es auch keiner mehr tun.
Glücklich sprang er auf sein Fahrrad und fuhr schnell nach Hause. Es flackerte hinter ihm weit sichtbar das Fahradlicht.
Ein Glückspilz weiß oft erst hinterher, dass seine Glückssträhne vorher zu Ende gegangen ist. Nur nicht den Grund dafür. Dabei ist das Pech allzu oft selbst verschuldet, weil man unachtsam wird. Vielleicht steigt einem das Glück zu sehr in den Kopf?
Hier wurde etwas übersehen, was nicht hätte übersehen werden dürfen.
Das Rücklicht des Fahrrads brannte trotz Stillstand sehr stark. Es warnte den Verfolger auf der anderen Seite des Bahndamms.
Dieser versteckte sich und wartete, bis die Luft rein war.
Es lag an diesem neuen Gerät, einer Lampe, zweifelsohne ein technische Highlight-Erfindung, die noch einige Zeit nach Tritt auf das Pedal leuchtet, weil es elektronisch aufgeladen ist.
Dieser Punkt wurde im Plan nicht berücksichtigt ...
Ernst stand bereits mit seinem Transporter auf dem Parkplatz. Zuvor hatte er das Lösegeld wie angeordnet in den Cabrio gelegt. Mit Argusaugen suchte und prüfte er das ganze Umfeld ab. Vor Eintritt der Dämmerung ließ sich noch vieles erkennen. Zur Sicherheit hatte er das Fernglas eines befreundeten Jägers mitgenommen.
Merkwürdiges Verhalten, was tat dieser Mensch dort? Ein Betrunkener? Ein harmloser Passant? Ein Autodieb?
Oder einer der Entführer?
Ernst war nicht überrascht. Er rechnete mit allem. Die Täter würden es gerade darauf anlegen, ihn zu täuschen. Aber er war sich sicher, dass es dazu nicht kommen würde. Er war sehr, sehr selbstbewusst. Er ahnte, dass dies sein Triumpf werden würde. Er freute sich schon unbändig auf den „Sieg“. Das würde ein Fest geben!
Bingo – ein Entführer! Aber er hatte es eilig.
Schnell, die Kapuze überziehen, leise den Lieferwagen öffnen, der dies aber nur quietschend tat und sich hinter der Karosserie bereithalten, bereit für die Verfolgung. Bis zum Ort der Entführung.
Bis vor den Tunnel konnte er den Gauner verfolgen. Die Eingangstür, oh Mann, oh Mann, war mit einem Vorhängeschloss versperrt. Aber er hatte sein Fernglas mitgenommen. Er zögerte nicht lange, robbte in Sekundenschnelle den Bahndamm hinauf und richtete das Fernglas aus.
Dort drüben blinkte deutlich ein Licht. Trotz Zwielicht. Das musste das Fahrrad sein. Tolle Technik!
Jetzt hieß es warten.
Nach zwei Minuten tanzte das Licht in der Ferne, sich immer weiter entfernend.
Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.
Links und rechts konnten Züge kommen. Gut, links, die Züge, die aus dem Bahnhof fuhren, waren kein Problem, weil sie gut zu sehen waren und langsam fuhren. Aber das war ein Irrtum, dessen sich Ernst nicht bewusst war. Der Bahnhof der Kleinstadt war zwar ein ganzes Stück entfernt, aber die Hochgeschwindigkeitszüge fuhren sehr schnell durch. Schließlich hielten sie nur in großen Bahnhöfen, nicht in Kleinstädten. Das hatte Ernst leider nicht bedacht, als er begann über die Bahngleise zu springen. Er ging davon aus, dass jeder Schnellzug erst einmal langsam aus dem Kleinstadtbahnhof herausfahren musste und bevor er richtig in Fahrt kam, war er schon längst drüben.
Und jetzt zur rechten Seite. Ernst meinte, es wäre diejenige, von der am ehesten Unheil drohte. Kaum fünfzig Meter entfernt war eine Kurve, schlecht einsehbar, und von dort konnten plötzlich Züge um die Ecke brausen und sich nähern, dass man gar nicht mehr reagieren konnte.
Es war russisches Roulette.
Er musste sich entscheiden. Ein Blick nach links genügte, um festzustellen, dass von dort keine Gefahr drohte: Kein Zug stand im Bahnhof. Dann wandte er seinen Blick nach rechts, lauschte angestrengt und verengte gar seine Augen zu Sehschlitzen.
Er hörte nichts, sah nichts.
Würde alles gut gehen – trotz der Gefahr?
Er erinnerte sich, in Abenteuerromanen gelesen zu haben, dass man einen herannahenden Zug am besten daran erkennen könne, dass man sein Ohr auf die Geleise legte und dann ein Eisenschwingen hörte.
Sollte er das tun?
Irgendwie kam ihm das übertrieben vor.
Die Zeit drängte.
Er musste es einfach schaffen, allen beweisen, was für ein Mann er war und so stolperte er los, über die Gleise, wie ein Reh durch das dichte Gestrüpp, von einem Hindernis zum anderen – und ein Zug raste hinter ihm vorbei, dass der Wind ihn umwarf. Sofort sprang er auf, mit zwei Geleisen vor sich, bitte sehr, und hüpfte weiter. Am Ende fiel er mit den Händen voran den Schotterhügel hinunter. Hautabschürfungen, Kratzer und Schrammen waren nur die Insignien eines Helden. Seine Knie schmerzten fürchterlich, die Innenflächen der Hände taten es ihnen nach, er fühlte sich wie Jesus am Kreuz und empfand wahres Glück!
Auf der asphaltierten Straße kam er zum Halt und landete auf dem Bauch liegend. Er hatte sich Hosen, Hemd und was alles noch aufgerissen.
Aber egal!
Seine Freude war größer als der Schmerz. Ha, er lag so flach, dass er schwer erkennbar sein würde. Umso besser jedoch konnte er die Straße überblicken.
Dort, hundert Meter entfernt, ein blinkendes Licht und eine schattenhafte Gestalt, die ein Gartentor öffnete. Sogleich verschwand sie wieder, das Licht hinter ihm. Mit letzter Kraft und Mühe humpelte er dorthin, zum Gartenzaun, dahinter stand ein Haus und durch die erleuchteten Fensterläden bewegten sich dunkle Gestalten hin und her.
Volltreffer!
Tatsächlich?
War der Flüchtende da drin?
Geduckt ging er den Gartenzaun entlang. Dies musste unbedingt das Zufluchtshaus sein. Es grenzte nur an ein anderes Grundstück. Wer geht schon durch einen fremden Garten, krabbelt dort über den Grenzgartenzaun, um in sein Revier zu gelangen?
Nein, in diesen hier, im Vorderhaus zur Straße, spielte die Musik.
Er duckte sich hinter den hohen Ginstersträuchen auf der anderen Straßenseite, verharrte in kauernder Haltung, eine unvorteilhafte Stellung, aber auf den Boden setzen, dazu war es zu nass.
Er war sehr zufrieden mit sich. Selbst Schmerzen an Händen, Knien und am Gesicht spürte er kaum. Nur wegen der Kauerstellung machten sich allmählich die Kniekehlen bemerkbar. Aber er richtete sich dann wieder auf, machte Kniebeugen auf und runter, rannte auf der Stelle, als würde er auf einem Förderband laufen oder verschränkte seinen Oberkörper mal nach rechts hinten und nach links hinten.
Viele Gedanken schwirrten in seinem Gehirn herum.
Sollte er die Polizei benachrichtigen, seinen Neffen, den Polizisten anrufen, nein, sich die Butter vom Brot zu nehmen - nicht mit ihm!
Stattdessen Killerinstinkt beweisen – wie seinerzeit 7. Kanzlerin Angela Merkel, die sich rechtzeitig vom 6. Kanzler Helmut Kohl distanzierte, um sich selbst die Macht zu hieven. Obwohl er ihr Vorbild gewesen war ...
Ernst schrie plötzlich vor Schmerz auf, weil er jetzt alle seine Wunden auf einmal überall spürte..
Er sah nach unten und stellte fest, dass die Stoffhose an der Hosentasche aufgerissen war. An einer Schürfwunde an seinem rechten Knie, die ebenfalls aufgerissen war, sickerte Blut.
Ein Hochgeschwindigkeitszug donnert hinter ihm vorbei, so er betäubt wurde und keinen Schmerz mehr spürte.
Dafür aber Ohrenschmerzen.
Schmerz über Schmerz.
Ein Held!
Weiter und ausführlicher im E-Book:
https://www.neobooks.com/ebooks/werner- ... JQNBbdngtS
Für den Verlauf nicht so relevant/Siehe E-Book
16. Ein Held kennt keine Schmerzen...
Blondy geriet in Panik.
Waren sie zu gierig?
War es richtig, das Lösegeld noch einmal zu erhöhen?
Das hatten sie beim letzten Kontakt mit der Ehefrau gefordert und ihr gesagt, sie solle das Auto abschließen, nachdem sie das Geld abgelegt hatte. Dann sollte sie den Türgriff herunterdrücken und sich mit dem Körper gegen die geschlossene Tür stemmen, damit sie auch wirklich zu war. Schließlich könnte ja jemand zuschauen oder ein Passamt das Fahrzeug nach Verwertbarem durchsuchen und am Ende auf die teuren Scheine stoßen.
Vielleicht hatte die Ehefrau trotz Warnung längst die Polizei verständigt? Die hatte die Anrufer schnell ausfindig gemacht. Wurden sie schon observiert? Wenn sie den letzten Anruf nicht zurückverfolgen konnten, dann wussten sie zumindest, wo das Auto stand. Wo hatten sie sich versteckt, diese blauen Männchen vom Mars?
Blondy scannte das Gelände um den Parkplatz Zentimeter für Zentimeter. Aber nichts, nichts, nichts. Zum Verrücktwerden!
Wie gingen die Behörden vor? Was war ihr Ziel? Die Entführten möglichst unversehrt befreien? Warten, bis die Entführer fliehen? Oder vorher zuschlagen? Beobachten und ermitteln, bis die Anklage hieb- und stichfest war? Die Verfolgten sollten sich bei der Vernehmung nicht herausreden können. Verdammt, wie war wohl die polizeiliche Vorgehensweise?
Diese Unsicherheit!
Er langte an die Pistole an seiner Seite und fühlte sich ein wenig entspannter.
Sie würden es der Polizei nicht leicht machen, sie zu kassieren, das war klar.
Doch plötzlich fühlte sich Blondy unter scharfer Beobachtung, spürte förmlich die Kameraobjektive und Peilsender wie unsichtbare Pfeile auf sich niedergehen.
Ruhe bewahren! Kuhl bleiben!
Ängstlich und übervorsichtig schlich er eine ganze Weile auf Abstand um den Parkplatz herum wie die Katze um den heißen Brei. Er traute sich einfach nicht, an das Lösegeld heranzugehen.
Er musste verdammt auf der Hut sein.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus, torkelte ziellos wie ein Betrunkener auf das Cabrio zu, täuschte einen Schwächeanfall vor, stützte sich mit einer Hand am Fahrzeug ab, taumelte erst einmal wie ein Betrunkener herum und warf verstohlene Blicke ins Innere. Verflucht, nichts, keine Spur von dem Geld. Fluchtartig verließ er den Ort.
Legte sich erneut auf die Lauer und wartete ungeduldig auf den Einbruch der Dämmerung. So dunkel wie möglich sollte es sein für den optimalen Moment, das Geld zu holen …
Er verlor die Nerven.
Ging zielstrebig auf das Auto zu, tat so, als wolle er es öffnen, schien es sich dann aber anders zu überlegen und entfernte sich wieder vom Auto. Plötzlich blieb er stehen, stampfte mit dem Fuß auf, jetzt war ihm alles zu blöd, zu dumm geworden - alles egal, egal - er kehrte um und riss die Autotür auf.
Das Geld war da!
Oder?
Auf der Fußmatte lag ein Briefumschlag.
Er bückte sich, nahm den dicken, geöffneten Umschlag, hielt ihn an die Brust, als wollte er verhindern, dass man ihn ihm wegnahm, spitzte hinein, sah die Blüten, faltete den Umschlag wieder, stopfte ihn in die Hosentasche, bewegte den Oberkörper aus dem Auto, schlug die Tür nicht zu, sondern drückte sie so sanft wie möglich zu, drehte den Kopf blitzschnell hin und her, um das Terrain zu checken – und machte sich zum Fahrrad auf.
Er war sich des neuralgischen Punktes sehr wohl bewusst.
Sein ausgeschaltetes Handy sendete zwar nicht direkt, aber doch irgendwie Signale, wenn es sich wie jetzt im Ruhemodus befand. Er hatte mal davon gehört: Handys im Offline-Modus sind trotzdem intakt.
Verflixt, man wusste einfach nicht, welche Möglichkeiten die Behörden hatten. Gegen die heutige Technik war man machtlos.
Und die Verfolger konnten ihm jetzt auf den Fersen sein, hinter diesem oder jenem Busch oder Baum sitzen. Verdammt, die hatten unendlich viel Personal!
Blitzschnell drehte er sich um, sah niemanden, nicht dort, nicht hier, nirgendwo. Als wäre er allein auf der Welt.
Aber das täuschte. Er war nicht dumm. Zumindest gegen Verfolger konnte er etwas tun.
Der kürzeste Weg war durch den Tunnel.
Er machte sich nicht einmal die Mühe, Haken und Zickzack zu schlagen, sondern fuhr auf direktem Weg dorthin.
Hier würde er einen Plan in die Tat umsetzen.
Bereits auf dem Hinweg hatte er sein Fahrradschloss mitgenommen.
Was einmal funktionierte, würde auch wieder funktionieren.
Das war das Ende der Fahnenstange für den Verfolger.
Er verriegelte wieder die Tunneltür, schob sein Fahrrad durch die stickige, stinkende Röhre bis ans andere Ende. Stellte das Fahrrad zur Seite. Dann legte er sich zwischen Büschen des Bahndamm auf die Lauer. Der einzige Weg zu ihm führte über die Bahngleise, ein gefährliches Unterfangen bei diesen Hochgeschwindigkeitszügen.
Aber man wusste ja nie. Und man musste mit allem rechnen.
Mit der Pistole im Anschlag verharrte er einige Minuten auf dieser Seite gut versteckt.
Bald wusste er, seine Glückssträhne dauerte noch immer an. Niemand kam.
Exakt zwei Minuten verstrichen. Das müsste reichen. Wenn jetzt noch niemand aufgetaucht ist, wird es auch keiner mehr tun.
Glücklich sprang er auf sein Fahrrad und fuhr schnell nach Hause. Es flackerte hinter ihm weit sichtbar das Fahradlicht.
Ein Glückspilz weiß oft erst hinterher, dass seine Glückssträhne vorher zu Ende gegangen ist. Nur nicht den Grund dafür. Dabei ist das Pech allzu oft selbst verschuldet, weil man unachtsam wird. Vielleicht steigt einem das Glück zu sehr in den Kopf?
Hier wurde etwas übersehen, was nicht hätte übersehen werden dürfen.
Das Rücklicht des Fahrrads brannte trotz Stillstand sehr stark. Es warnte den Verfolger auf der anderen Seite des Bahndamms.
Dieser versteckte sich und wartete, bis die Luft rein war.
Es lag an diesem neuen Gerät, einer Lampe, zweifelsohne ein technische Highlight-Erfindung, die noch einige Zeit nach Tritt auf das Pedal leuchtet, weil es elektronisch aufgeladen ist.
Dieser Punkt wurde im Plan nicht berücksichtigt ...
Ernst stand bereits mit seinem Transporter auf dem Parkplatz. Zuvor hatte er das Lösegeld wie angeordnet in den Cabrio gelegt. Mit Argusaugen suchte und prüfte er das ganze Umfeld ab. Vor Eintritt der Dämmerung ließ sich noch vieles erkennen. Zur Sicherheit hatte er das Fernglas eines befreundeten Jägers mitgenommen.
Merkwürdiges Verhalten, was tat dieser Mensch dort? Ein Betrunkener? Ein harmloser Passant? Ein Autodieb?
Oder einer der Entführer?
Ernst war nicht überrascht. Er rechnete mit allem. Die Täter würden es gerade darauf anlegen, ihn zu täuschen. Aber er war sich sicher, dass es dazu nicht kommen würde. Er war sehr, sehr selbstbewusst. Er ahnte, dass dies sein Triumpf werden würde. Er freute sich schon unbändig auf den „Sieg“. Das würde ein Fest geben!
Bingo – ein Entführer! Aber er hatte es eilig.
Schnell, die Kapuze überziehen, leise den Lieferwagen öffnen, der dies aber nur quietschend tat und sich hinter der Karosserie bereithalten, bereit für die Verfolgung. Bis zum Ort der Entführung.
Bis vor den Tunnel konnte er den Gauner verfolgen. Die Eingangstür, oh Mann, oh Mann, war mit einem Vorhängeschloss versperrt. Aber er hatte sein Fernglas mitgenommen. Er zögerte nicht lange, robbte in Sekundenschnelle den Bahndamm hinauf und richtete das Fernglas aus.
Dort drüben blinkte deutlich ein Licht. Trotz Zwielicht. Das musste das Fahrrad sein. Tolle Technik!
Jetzt hieß es warten.
Nach zwei Minuten tanzte das Licht in der Ferne, sich immer weiter entfernend.
Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.
Links und rechts konnten Züge kommen. Gut, links, die Züge, die aus dem Bahnhof fuhren, waren kein Problem, weil sie gut zu sehen waren und langsam fuhren. Aber das war ein Irrtum, dessen sich Ernst nicht bewusst war. Der Bahnhof der Kleinstadt war zwar ein ganzes Stück entfernt, aber die Hochgeschwindigkeitszüge fuhren sehr schnell durch. Schließlich hielten sie nur in großen Bahnhöfen, nicht in Kleinstädten. Das hatte Ernst leider nicht bedacht, als er begann über die Bahngleise zu springen. Er ging davon aus, dass jeder Schnellzug erst einmal langsam aus dem Kleinstadtbahnhof herausfahren musste und bevor er richtig in Fahrt kam, war er schon längst drüben.
Und jetzt zur rechten Seite. Ernst meinte, es wäre diejenige, von der am ehesten Unheil drohte. Kaum fünfzig Meter entfernt war eine Kurve, schlecht einsehbar, und von dort konnten plötzlich Züge um die Ecke brausen und sich nähern, dass man gar nicht mehr reagieren konnte.
Es war russisches Roulette.
Er musste sich entscheiden. Ein Blick nach links genügte, um festzustellen, dass von dort keine Gefahr drohte: Kein Zug stand im Bahnhof. Dann wandte er seinen Blick nach rechts, lauschte angestrengt und verengte gar seine Augen zu Sehschlitzen.
Er hörte nichts, sah nichts.
Würde alles gut gehen – trotz der Gefahr?
Er erinnerte sich, in Abenteuerromanen gelesen zu haben, dass man einen herannahenden Zug am besten daran erkennen könne, dass man sein Ohr auf die Geleise legte und dann ein Eisenschwingen hörte.
Sollte er das tun?
Irgendwie kam ihm das übertrieben vor.
Die Zeit drängte.
Er musste es einfach schaffen, allen beweisen, was für ein Mann er war und so stolperte er los, über die Gleise, wie ein Reh durch das dichte Gestrüpp, von einem Hindernis zum anderen – und ein Zug raste hinter ihm vorbei, dass der Wind ihn umwarf. Sofort sprang er auf, mit zwei Geleisen vor sich, bitte sehr, und hüpfte weiter. Am Ende fiel er mit den Händen voran den Schotterhügel hinunter. Hautabschürfungen, Kratzer und Schrammen waren nur die Insignien eines Helden. Seine Knie schmerzten fürchterlich, die Innenflächen der Hände taten es ihnen nach, er fühlte sich wie Jesus am Kreuz und empfand wahres Glück!
Auf der asphaltierten Straße kam er zum Halt und landete auf dem Bauch liegend. Er hatte sich Hosen, Hemd und was alles noch aufgerissen.
Aber egal!
Seine Freude war größer als der Schmerz. Ha, er lag so flach, dass er schwer erkennbar sein würde. Umso besser jedoch konnte er die Straße überblicken.
Dort, hundert Meter entfernt, ein blinkendes Licht und eine schattenhafte Gestalt, die ein Gartentor öffnete. Sogleich verschwand sie wieder, das Licht hinter ihm. Mit letzter Kraft und Mühe humpelte er dorthin, zum Gartenzaun, dahinter stand ein Haus und durch die erleuchteten Fensterläden bewegten sich dunkle Gestalten hin und her.
Volltreffer!
Tatsächlich?
War der Flüchtende da drin?
Geduckt ging er den Gartenzaun entlang. Dies musste unbedingt das Zufluchtshaus sein. Es grenzte nur an ein anderes Grundstück. Wer geht schon durch einen fremden Garten, krabbelt dort über den Grenzgartenzaun, um in sein Revier zu gelangen?
Nein, in diesen hier, im Vorderhaus zur Straße, spielte die Musik.
Er duckte sich hinter den hohen Ginstersträuchen auf der anderen Straßenseite, verharrte in kauernder Haltung, eine unvorteilhafte Stellung, aber auf den Boden setzen, dazu war es zu nass.
Er war sehr zufrieden mit sich. Selbst Schmerzen an Händen, Knien und am Gesicht spürte er kaum. Nur wegen der Kauerstellung machten sich allmählich die Kniekehlen bemerkbar. Aber er richtete sich dann wieder auf, machte Kniebeugen auf und runter, rannte auf der Stelle, als würde er auf einem Förderband laufen oder verschränkte seinen Oberkörper mal nach rechts hinten und nach links hinten.
Viele Gedanken schwirrten in seinem Gehirn herum.
Sollte er die Polizei benachrichtigen, seinen Neffen, den Polizisten anrufen, nein, sich die Butter vom Brot zu nehmen - nicht mit ihm!
Stattdessen Killerinstinkt beweisen – wie seinerzeit 7. Kanzlerin Angela Merkel, die sich rechtzeitig vom 6. Kanzler Helmut Kohl distanzierte, um sich selbst die Macht zu hieven. Obwohl er ihr Vorbild gewesen war ...
Ernst schrie plötzlich vor Schmerz auf, weil er jetzt alle seine Wunden auf einmal überall spürte..
Er sah nach unten und stellte fest, dass die Stoffhose an der Hosentasche aufgerissen war. An einer Schürfwunde an seinem rechten Knie, die ebenfalls aufgerissen war, sickerte Blut.
Ein Hochgeschwindigkeitszug donnert hinter ihm vorbei, so er betäubt wurde und keinen Schmerz mehr spürte.
Dafür aber Ohrenschmerzen.
Schmerz über Schmerz.
Ein Held!
Weiter und ausführlicher im E-Book:
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17. Operation "Jäger und Sammler"
Blondy fährt mit dem Rad Richtung Einkaufszentrum.
Er ist sehr erzürnt, weil Bully nicht einkaufen gegangen ist und nun alles an ihm hängen bleibt.
„Hast wohl etwas Besseres zu tun gehabt?“
„Allerdings!“
Diese unverschämte Antwort brüskiert Blondy sehr. Aber sie brauchen Proviant für die Fahrt. Also hat er sich geladen wie eine scharf gemachte Atombome auf das Fahrrad geschwungen und ist vom Sprit getrieben, der sich in der Frage manifestiert: „Warum muss ich immer der Depp sein?“
Diese Frage wird umso dringlicher, je öfter die pralle Tüte mit Pfandflaschen am Lenker gegen seine Schenkeln schlägt. Ein Glück, dass es Plastikflalschen sind, aber schon nervig. Eigentlich sind sie ja seit dem Lösegelderhalt nicht mehr auf das Pfandgeld angewiesen, aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Und wenn er schon Fleisch kaufen muss, kann er gleich auch das Flaschenpfand einlösen, für das Kleingeld sozusagen. Braucht man immer. Wer weiß wozu.
Zudem hat er eine geniale Idee: Ein gutes sicheres Fahrradschloss kaufen, für so ein Leben im Hotel angebracht. Damit kann man den Geldkoffer im Zimmer sichern, wenn man man schnell mal in die Cocktailbar hüpfen will. Der Hotelsafe ist da nicht angebracht. Lästige Fragen, wer weiß, ob das Personal nicht Interpol einschaltet undsoweiter.
Zuvor schon hat er im Kaufhausprospekt ein anscheinend stabiles entdeckt, eines mit einem Sicherheitscode.
Er fährt schneller. Die Tüte schlägt jetzt noch öfter gegen die Schenkeln, was zwar nicht schmerzt, aber noch mehr nervt.
Der Videomeister des Einkaufszentrums kann kaum sein Glück fassen: Endlich dieser schräge Vogel mit blonden, abstehenden Haaren. Auf den hat er es schon lange abgesehen. Die Kamera zoomt direkt auf ihn, als er zu dem Pfandautomaten tritt.
Blondy drückt gerade den Bonknopf. Hinter der Wand, was er nicht sehen kann, leuchtet ein anderer Knopf auf und signalsiert Alarm. Zudem blinkt ein Neonschriftzug mit den Worten: „Operation 'Jäger und Sammler“ immer wieder rot auf. Das ist einer der vielen Gags des Videomeisters und des Lageristen, letzterer ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, der freudig grinst, als er das liest.
Endlich ist es soweit. Das Mammut geht in die Falle. Heute wird es erlegt.
Seit Wochen ist Blondy schon kleinen Sticheleien, Schikanen und Unseriösitäten ausgesetzt, dessen Gründe er sich nicht erklären kann: Pfandflaschen werden nicht angenommen, weil ein Logo beschädigt ist, oder gerade kein Mitarbeiter da ist, um den nicht ausgedruckten Pfandschein für die Kasse handschriftlich zu ersetzen. Dass die Maschine manchmal streikt, ist natürlich Absicht. Der Lagerist kennt seine Maschine in- und auswendig, so dass er bei Bedarf einen gewissen Knopf betätigt.
Auch der Lehrling der Lagerverwaltung ist eingeweit. „Auf diesen schrägen Typen musst du ein besonderes Auge werfen!“ Das ausgedruckte Standbild einer Videoaufzeichnung, das ihm dabei vor die Nase gehalten wird, zeigt unverkennbar Blondy mit seiner Tonsur und seinen abstehenden Haaren.
„Warum?“
„Seine Pfandflaschen sind manipuliert. Die Etiketten sind gezinkt!“
Ein glatte Lüge!
Aber wirkungsvoll, wie man gleich merken wird.
Blondy ärgert sich nun wieder über die Maschine. Sie weigert sich, eine Flasche anzunehmen. Und die bereits eingegebenen hat sie zudem nicht gutgeschrieben. Sie streikt überhaupt, gibt nichts von sich als bloßes, dumpfes Blinken: „Rufen Sie nach dem Kaufhauspersonal!“
Der Lehrling kommt gerade vorbei, Billy bittet ihm um Hilfe. Dieser erkennt Bully. Er ist gewarnt.
„Da muss ich den Chef fragen.“
„Sie sehen doch. Der Automat blinkt Störung. Meistens ist der Behälter voll. Daran entweder etwas rütteln oder ihn entleeren, dann geht's.“
„Trotzdem! Ich muss den Chef fragen!“ Der Azubi dreht sich um und geht ins nahe Büro des Abteilungsleiters, kommt wieder heraus und an Bully vorbei: „Der Herr Abteilungsleiter telefoniert noch. Er kommt gleich. Warten Sie bitte so lange!“
Blondy wartet und wartet.
Was soll das? Der Abteilungsleiter telefoniert jetzt, telefoniert und telefoniert. Und er muss sich hier die Beine in den Bauch stehen. Von wegen der Kunde ist König. Der Kunde ist der Bettler, oder was!?
Er wird immer wütender.
Schließlich drückte er auf den dicken Knauf an der Flaschenmaschine und eine weibliche Roboterstimme ertönte: „Ein Mitarbeiter bitte zum Flaschenautomaten!“
Nichts geschah. Wieder drückte er, nichts, wieder, wieder nichts. Währenddessen hörte der Chef den Lärm, wie die sterile, monotone Maschinenstimme unentwegt die ganze, lange Halle beschallte. Das würde die ganze Kundschaft aufscheuchen wie Hühner. Aber ein wichtiges Telefongespräch hielt ihn fest.
Warum spuckte der Automat nicht den Bon aus? Dem Kunden Blondy gingen die Gäule durch und er schlug mit dem Fuß gegen das Armaturenbrett, wie auch Pferde, die dazu ihren Huf benutzten.
In diesem Moment trat der Abteilungsleiter prompt aus dem Nebenraum und schrie: „Können Sie nicht mal warten, wenn ich telefonieren muss!“
„Wer ist hier König, der Kunde oder der Verkäufer?“
Der Kaufmann unterdrückte seine Wut, händigte dem Kunden zähneknirschend den 4-Euro-Pfandgut-Bon aus, murmelte aber verständlich: „Schau, dass dich Acker machst.“ Das klang noch relativ moderat, war er schon nahe dran, sich zu vergessen und zu zeichen: „Schleich dich, du räudiger Hund!“ oder so etwas betont Bayerisches-Der Abteilungsleiter verschwand wütend wieder in seinem Stall.
Blondy, noch recht aufgedreht, nahm die nächste Flasche und fütterte damit die Maschine. Wieder signalisierte das blöde Ding Störung mit unaufhörlichem roten Geblinke. Zur Abwechslung weigerte sie sich eine Flasche in seinem hohlen, schwarzen Loch zu verschlingen. Von einer Quittung war dabei völlig abzusehen.
Blondy drückte erneut auf den Knopf mit der Maschinenstimme.
Nun trat der Lagerist aus dem Hinterraum, erbot sich zunächst recht freundlich, Hilfe zu leisten, sprich natürlich, sofort, sofort nach der von der Maschine verschluckten Flasche zu suchen.
„Warten Sie hier. Bin gleich zurück!“
„Warten“, dieses Wort brachte Blondy mittlerweile in andere Zustände. Schon wieder warten. Außerdem, ziemte sich dies für einen Millionär, der er mittlerweile war? Mit Hintanstellen musste jetzt Schluß sein, und zudem hatte er mittlerweile schon allzu oft wegen der Unzuverlässigkeit des Flaschenautomaten mit Mitarbeitern Scherereien gehabt. Trotzdem - er durfte nicht auffallen. Er war wenistens mindestens Staatsfeind Nummer 1, wenn man diese Entführung bedachte. Noch waren die Millionen nicht in trockenen Tüchern. Aber gefallen lassen musste er sich auch nicht alles deswegen!
Wieder kommt der Lehrling vorbei.
„Ich geh mal schnell zur Metzgerei davorne. Wenn dein Chef kommt...“
Der andere nickte zwar zustimmend, fuhr aber unverdrossen mit seinem Hubwagen weiter. Auch er hatte es eilig, wie jeder Beschäftigte hier im Kaufhaus. Wo käme man schließlich hin, wenn man sich mit Sonderwünschen solcher verrückter Kunden abgeben würde? Außerdem, der Vogel ist eh zum Schuss freigegeben worden, und das zu Recht – der piept doch nicht mehr ganz richtig.
Blondy kam zurück und der Lagerist erwartete ihn schon, der mit einem eingewickelten Stück Hackfleisch von der Fleischdecke zurückkam, mit einem Schulterzucken und allzu barschen Tonfall : „Da hat sich keine Flasche gefunden!“
„Das heißt, ich bekomme keinen Bon gutgeschrieben, oder? Dann ruf ich ihren Chef.“ Schon wandte sich Blondy dem Geschäftsbüro zu.
„Halt!“ Er blickte in das grinsende, verlogene Gesicht des Kaufhausangestellten, der bereits einen handgeschriebenen Zettel in der Hand hielt.
Ganz schön dreist. Blondy hätte am liebsten zugeschlagen.
Aber er hatte noch eine zweite Flasche in petto.
Auf der fehlte seltsamerweise das Pfandemblem.
„Da kann ich wirklich nichts machen!“
„Aber...!“
„Wirklich. Tut mir leid!“
„Kommen Sie mal mit. Ich zeige Ihnen etwas!“
Blondy lief wütend um die Ecke, zu den zu verkaufenden Flaschen. Dort war eine, wie er sie in der Hand hielt.
„Okay, dann bleiben sie stehen!“
Der Lagerist lachte und zeichnete die leere Flasche gegen.
Blondy kochte das Blut in den Adern. Wie man hier behandelt wurde. Man musste sein Recht regelrecht erkämpfen. Wütend rannte er zur Kasse und unterließ es in seiner Wut, das zu bezahlende Fleischprodukt zu begleichen. Es steckte unsichtbar in seiner Jackentasche. Er ließ sich den Pfandbon auszahlen und verließ fluchtartig das Geschäft.
Als er aus dem Kaufhaus trat, spürte er eine eiserne Hand auf seiner Schulter.
„Kommen Sie mit, junger Mann!“
Der stinkende Abteilungsleiter und der unseriöse Lagerist forderten ihn mit Nachdruck auf, mit ihnen zu kommen.
„Wieso?“
„Wir müssen ein paar Dinge klären!“
Sie hatten sein Nichtzahlen gefilmt, verfolgt und wollten ihn jetzt anzeigen. Sie riefen die Polizei.
Während Blondy allein im Aufenthaltsraum der Angestellten auf die Beamten wartete, dämmerte ihn allmählich seine Lage. Vernünftigerweise sagte er sich zwar, dass es ihm letztlich „scheißegal“, sein konnte. Was war schon so eine kleine Strafe für diesen Bagatellsache von einem Diebstahl im Vergleich zur Höhe des Erpressungsgeldes?
Aber, je länger er wartete, desto nervöser wurde er.
Wenn sie Verdacht schöpften, wenn die Arztfamilie vielleicht doch die Polizei einschaltete und nicht die vereinbarten fünf Tage Stillhalten einhielte, könnte er vielleicht erkannt werden. Die schönen Scheine und herrliche Freiheit wäre unwiederbringlich verloren. Was war mit dem faulen Herumliegen auf einer Insel, die vielen schönen Tussis und dem ausschweifendem Luxusleben?
Stattdessen das bekackte Leben in engen Gefängnismauern!
Mensch, höchste Zeit sich zu verdünnisieren.
Er spürte seine Pistole in der Westentasche, das erste Mal, seit er hier war.
Das beruhigte ihn ungemein.
Er schaute aus dem Raum, sah den Abteilungsleiter und den Videomeister, die an den knapp unter der Ecke hängenden Rohrleitungen Muskelübungen wie in einem Fitnesscenter machten, was bei ihrer korpulenten Leibesfülle aussah, als hingen Rindviecher herum, nur wie im Schlachthaus nicht umgekehrt mit Kopf voran. Zu allem Unglück kam jetzt auch noch eine hübsche Verkäuferin herein, um sich etwas zum Essen aus dem Kühlschrank zu holen. Sie lächelte verlegen.
Ist er denn jetzt der totale Depp?
Gute Miene zum bösen Spiel und er fletschte die Zähne in Richtung des schönen Engel, der aber schnell wieder wegflog.
Dann kamen zwei schneidige Polizisten in den Flur, wo Geschäftsleiter und Videospitzel ihre männliche Schaustellung zelebrierten.
„Zum Videoraum?“
„Da gehen wir rein!“
Blondy war ihnen entgegengetreten, aber weg waren sie. Der Videoraum war mit einer schweren Eisentür verschlossen. Alles ging zu schnell, Blondy hatte keine Chance.
Was würde nun geschehen?
Er war ein Spezialist im Videoschnitt, wie der selbstgedrehte Porno bewies. Er wusste, dass Videobilder nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Manipulation boten, selbst der Timecode, die Zeitangabe am unteren Rand des Films konnte manipuliert werden. Wer weiß, welche Szenen die Kaufmänner den Polizisten präsentierten? Wahrscheinlich keine, die für ihn sprachen.
Was würde Management und Polizei wohl miteinander aushecken?
„Vergessen wir mal die Szenen, wo wir den komischen Vogel provozieren, nicht die feine Art, klar, aber dafür wird die nächste Lieferung Grillfleisch für euer Betriebsfest doppelt so groß ausfallen, zum gleichen Preis, versteht sich.“
Wenn die Polizei überhaupt besagte Bilder vorgeführt bekommt, das war die Frage!
„Ja, wirklich, ich bin der totale Depp!“ Noch nie in seinem Leben war sich Blondy als solch ein Nichts vorgekommen. Er war eine Null, ein Nichts, weniger als Nichts und Null. Er existierte letztlich gar nicht für die anderen. Wenn er Abschaum war, kam es schon. Nein, er war wie Luft, nein, wie Vakuum.
Zwei Meter entfernt am Ende des Flurs versperrte jemand den Ausgang, der ehemalige Stasi-Provokateur, breit grinsend, Hände vor der Brust verschränkt, breitbeinig dastehend und mit einem Fuß, der leicht nach außen gewinkelt war, auf dem Boden einen Takt wippend. Blondy überkam ein Deja-Vu-Erlebnis: Er sah einen Uniformierten mit dazu gehöriger Dienstkrawatte, einen Apparatschik und Beamten wie er im Buche stand. Das einzige, was noch fehlte, waren Dienstmütze und Gummiknüppel an der Taille. Aber das musste gar nicht sein, denn das Signal, das sein sarkastisches Lächeln aussendete, war eindeutig genug: Komm nur her und greif mich an, ich warte nur darauf! Ich bin bestens vorbereitet im Nahkampf, das kannst du mir ruhig glauben.
Blondy glaubte es ihm, dachte aber plötzlich an seine Pistole, die in der Westentasche gut versteckt und unsichtbar hing. Das war sein Faustpfand gegen die Ignoranz der anderen, dass sie ihn nicht Ernst nahmen, ihn ignorierten, schitten und kleinmachten, wie es nur ging.
Jetzt hatte er endlich die Chance, ihnen zu beweisen, dass es so sich überhaupt nicht verhielt. Im Gegenteil. Die Gelegenheit war da, dieses Ding mal so richtig auszuprobieren, Erfahrung zu sammeln, für spätere Einsätze. Dass es dazu genügend Anlässe gab, war ihm nur zu bewußt. Und wenn, er würde sie finden. Fast sadistisch grinste er.
„Was schaust du so blöd!“, schmiss ihm der andere ins Gesicht.
Langsam löste sich sein Grinsen.
Apropos blöd! Er war es nicht. Die Lösung mit der Pistiole war zu riskatn, ihm fehlte noch die Übung. Aber er schwor sich, sie sich so bald wie möglich anzueignen. Im Wald dort draußen, im seinem Keller unten, in er Hütte im Garten.
Aber jetzt war es noch zu riskant. Wenn etwas schieflief, ein Haken klemmte, er vorbeischoß, was weiß der Teufel, was, dann Gnade ihm Gott, zwei Polizisten schließlich befanden sich unmittelbar hinter der Wand dort. Und die konnten bestimmt mit ihren Waffen umgehen!
„Die räudige Ratte, verpiss Dich in den Personalraum. Und warte auf dein Tribunal!“
Spontan antwortete Blondy: „Tribunal?“ Im Moment wusste er nicht, was das hieß. Konnte sich dieser Döbel da nicht deutsch ausdrücken? Aber allmählich konnte er sich denken, was es bedeutete.
Plötzlich riss er die Hände hoch, zeigte seinen ausgestreckten Zeigefinger und machte: „Peng! Peng!“ Wie ein Cowboy.
Aber Respekt, sein Gegenüber blieb ungerührt.
„Hättest wohl gern, Kanaille! Aber Waffen taugen nichts für solche wie du einer bist!“
Wenn der gewußt hätte! Besser er erfuhr es gar nicht.
„Auf dich ist doch geschissen!“, spie er aus und ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um, ging resigniert und wutschnaubend in den Personalraum zurück und setzte sich an einen langen Pausentisch. Er hatte getan, was er tun konnte, hatte Gesicht gewahrt, erschien wenigstens nicht als totaler Blödmann. Das stimmte zwar nicht ganz, dennoch hatte er wenigstens Zähne gezeigt.
Auf dem Personaltisch lagen verschiedene Dinge: eingewickelt in Papier und Servietten belegte Brote, in Alufolie Gemüse oder Obst. An der Wand darüber hingen Fotos von Menschen, die breit grinsten oder feixten, wahrscheinlich Aufnahmen des Personals bei Betriebsfeiern, Ausflügen oder Events. Besonders die schnuckligsten Verkäuferinnen lächelten recht sexy drein, Blondy spürte einen Impuls, den er wieder unterdrückte.
Dazwischen hing ein Kalender, ein Putz- und Abwaschplan.
Neben dieser Pinwand mit ihren vielen Fotos, Plänen und Fyern, hing eine Dartsscheibe.
Blondy darunter eine Schale, in der Spiker lagen. Er holte sich ein paar, trat ein paar Meter zurück, hob seine Hand mit einem und fuhr hin und her, um in die Mitte derselben zu zielen. Aber irgendetwas irritierte ihn. Um seine Irritation wegzublasen, warf er einfach ein paar Spiker auf die Dartsscheibe. Dann näherte er sich ihr. Er erkannte immer mehr, dass es sich um ein Gesicht handelte, wobei die Nase der Mittelbpunkt der Scheibe darstellte. Das Gesicht hatte zu Berge stehende Haare, die wie Flammen aussahen. Irgendwoher kannte er die Person, deren Gesicht als Zielscheibe diente.
Darüber stand in bunten Lettern: „Operation JÄGER UND SAMMLER“.
Darunter: MOST WANTED.
Er konnte auf dem Schädel den Ansatz einer Tonsucher erkennen. Klar, die langen sternförmig wegstehenden Haare, die wie unter einem Blitzstrom zustanden kamen, mochten an Frankensteins Erwachen erinnern, aber ... Irgendwie kam ihm dieser Mensch nur zu bekannt vor, Mensch.
Und mit einem Schlag gab es kein Leugnen mehr und er sah es, auch wenn ihm mit einem rroten Filszstift überdies eine Clowns- oder Pappnase ins Gesicht gemalt war, er war es!
Eindeutig! Er! Hier war er tatsächlich als der größte Clown, die größte Pappnase, der größte Trottel weit und breit öffentlich verhöhnt und an den Pranger gestellt worden, aus dem man sich einen Jux machte, wenn man ihm mit Spikern bewarf.
Nunmehr lief so manches merkwürdige Verhalten der Verkäuferinnen wie ein Film vor seinem geistigen Auge ab und ergab einen Sinn, eine Handlung, einen Plot: ihre verrwegenen Blicke, die ihm verstohlen, dennoch dreits trafen, Gesichter, dies sich zwar verschämt abwanden, aber dann hinter vorgehaltener Hand grinsten und feixten.
Er stand etliche Sekunden derart unter Schock, dass er zu keinen Gedanken mehr fähig war.
Dann aber überkam ihn ein Impuls, der nur verständlich war: Sich die Pistole zu grabschen, sich eine Geisel zu nehmen und diese mit dem Pistolenlauf an den Schläfen durch die erschreckte Menge des bunten Kaufhaustreibens zu schleifen.
Alle sollten sie das Fürchten lernen! Alle sollten sie Angst kriegen vor ihm. Sie sollten dafür bezahlen, dass sie ihn verhöhnten!
Er hörte sich sogar schreien: „Komm mir keiner näher! Ich schieße!“ Dabei hielt er die Pistole an die Schläfe einer Verkäuferin. Und er sah, wie sie alle von ihm wichen, sich in Deckung begaben, auf den Boden legten.
Er ballerte blind irgendwohin in diesem Supermarkt: Tomatendosen explodierten mit rotem Schwall – das Glas der Wursttheke zersprang in tausend Scherben – tote Menschenleiber plumpsten träge auf die Fleisch- und Wurstauslagen – Scharen von Menschen duckten sich in Angst auf den Boden, in die Ecken und schlüpften in Regale.
Plötzlich erwachte er von diesem Tagtraum. Er war schockiert. Er war erregt.
Von dieser Vorstellung stürzte er in den hinteren Teil des Personalraums auf die Toilette, zerrte sich die Hose vom Leib und erlöste sich mit einem lauten Plippfff. Die Aufregung machte sich Luft. Panik versetzte ihn in einen Zustand, in dem er sich wie ein Wickelkind fühlte.
Nein, seine Phantasie ging mit ihm durch.
Aber obwohl er eine Waffe besaß, dessen war er sich dennoch bewusst, stand er doch Profis gegenüber, darüber musste er sich immer klar sein. Die Polizei war in der Nähe. Kaum zwei Meter von ihm entfernt. Nur ein paar Wände trennten ihn. Und mit denen hatte er schon seine Erfahrungen gemacht.
Sein Film lief weiter.
Er sah, wie sie ihn unerbittlich im gebührendem Abstand folgten, als er fliehen wollte, so oder so, sie werden nicht locker lassen, egal welche Kapriolen er schlagen würde.
Wieder ertönte in dieser engen Kajüte ein hoher Laut. Er entleerte seinen ganzen Darm.
Trotzdem, er konnte nicht anders.
Er griff nach seiner Pistole in der Seitentasche, zog sie hervor und legte sie flach auf die Handfläche. Musste man dieses Gerät nicht entsichern, bevor man es benutzte? Er öffnete die Trommel und vergewisserte sich, dass sie Patronen enthielt. Die Trommel klickte ein.
Da war so ein Hebel, den er umlegte. Jetzt müsste sie schussbereit sein.
Er nahm sie fester in die Hand und richtete sie gegen die verschlossene Klotür.
Cool bleiben, Nerven behalten, erst mal schauen und abwarten.
Automatisch wanderte dann sein Blick die Tür hinauf, über die Decke, bis er im äußersten Winkel etwas Licht erblickte, ein Klappfenster. Sofort sprang er auf, vergaß aber nicht, sich den Arsch abzuwischen, zog schnell die Hose hoch, steckte die Pistole weg und sah sich die Öffnung genauer an.
Aufklappbar nach außen - wunderbar!
Das war's - ab der Fisch!
Er klappte den Klodeckel zu, stieg darauf und machte sich am Fenster zu schaffen. Es ließ sich leicht öffnen und er konnte sich wie bei einer Stangenübung hochziehen – das tägliche Krafttraining lohnte sich. Verdammt, dann stieß er gegen ein Gitter. Es war eingerostet und ließ sich nicht öffnen. Aber er rollte sich zusammen wie ein Embryo, drehte sich im Fensterrahmen um 180 Grad und stieß mit einem Tritt das Rohr aus seiner rostigen Verankerung.
Der Weg war frei!
Draußen auf dem Hallendach lief er über 50 Meter diagonal in die andere äußereste Ecke, späte erst vorsichtig nach unten und taxierte, ob der Weg frei wäre. Zum Glück hielt sich gerade dort unten keine Menschenseele auf. Wie ein Affe hangelte er sich am Regenrohr nach unten. Schnell sprang er um die Ecke zum Fahrrad, öffnete das Schloss und fuhr los.
In seiner Aufregen und Freude über seine Flucht sah er sich nicht nach Verfolgern um.
Plötzlich kam ihm der Gedanke: Folgt ihm die Polizei, dann bekämen sie heraus, wo er wohnt. Wenn sie dann das Haus stürmten, würde alles tödlich enden. Was für hässliche Szenen würden sich abspielen? Sicher, sie hatten jetzt ein Gewehr, aber keinerlei Erfahrung im Umgang damit. Wie sollten sie sich gegen solche alten Hasen wehren können?
Die Millionen würden sie in Luft auflösen.
Unmöglich. Verteidigung – aussichtslos! Chancenlos!
Er musste j e t z t die Verfolger abwimmeln!
Nur wie?
Natürlich!
Kurzerhand steuerte er den Tunnel an. Es war zwar noch nicht sicher, ob sie ihn tatsächlich verfolgten, aber wie sollte er das auch wissen? Das waren Profis. Er würde es nicht merken – klar!
Sicher ist sicher ...
Was konnte er aber in diesem Bahnhofstunnel, dieser kleinen Röhre schon machen? Sich darin verstecken? Auf die Lauer legen, um zuzuschlagen ...
Es war nur so eine Ahnung, die ihn dort hin zog, bis es ihm aufging wie die Morgensonne am Äquator.
Der Tunnel war das Ende der Fahnenstange für die Polizei - denn dort konnte er seine Verfolger in eine Falle locken – ja genau, die Türen, die Schlösser!
Er versteckte sein Fahrrad im Gebüsch, hängte ein Fahrradschloss an die erste Tür, ohne sie zu verschließen und eilte zum anderen Tunnelende, um dort die Tür mit dem neu gekauften Zahlenschloss zu verriegeln. Die Tunneltür war mit der Riegelkonsole in die Betonwand eingelassen. Das hielt!
Danach hastete er wieder zurück, versteckte sich hinter dem dichtesten Gebüsch bei dem anderen Tunneleingang.
Aber plötzlich hatte er Angst. Was, wenn die Polizei nicht durch den Tunnel ging. Warum sollten sie? Also musste man sie dazu bewegen, dort hinein zu gehen.
Aber wie?
Eine Idee kam ihm,
Sie in eine Falle locken!
Er nahm sein Fahrrad, rollte es zum Eingang des Tunnels und kippte es davor um. Die Polizei sollte, wenn sie das Rad hier liegen sah, glauben, der Verbrecher sei vom Rad gesprungen, um in den Tunnel zu flüchten und besser durch den Wald entkommen zu können. Denn ein Fahrrad würde die Flucht durch den dichten Wald erschweren.
Dann stellte er sich wieder hinter das dichte Gebüsch.
Wenige Sekunden später, er traute seinen Augen kaum, tauchte langsam ein Polizeiauto hinter der Kurve auf.
Gleich würde es sich entscheiden!
Zwei Uniformierte sprangen heraus, als sie das am Boden liegende Rad sahen, der Abteilungsleiter des Kaufhauses ebenfalls und alle drei stürmten kopflos in den Tunnel. Blondy sprang sofort die Böschung hinunter, näherte sich der vorderen Tunneltür und machte sie mit dem zweiten Schloss dingfest.
Drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen!
„Verrecken sollt Ihr, Ihr elenden Kanalratten! Arschgeigen!“, brüllte er in den Tunnel hinein. Kein Echo antwortete – dieser Hohlraum war als Klangkörper zu klein. Dafür war es für die Betroffenen um so verständlicher.
Wer konnte es ihm versagen, dass er jubilierte?
Aber sich schnell jetzt zurückziehen, die Polizei konnte gleich mit ihren Knarren im Anschlag an diese Tür heranspringen und dann – Gnade ihm Gott! Sie würde nicht zögern, ihre Waffen einzusetzen.
Schnell rollte er sein Rad auf die andere Seite, postierte sich erst einmal hinter den Eingangspfeiler seiner Stammkneipe, die sich dort befand. Er wollte zum Schluss in aller Ruhe sein Meisterstück genießen.
Die Ratten saßen in der Mausefalle, konnten weder vor noch zurück und schmorten in ihrem eigenen Fett. Es war dunkel, kühl und vor allem stank es fürchterlich. Es roch nach Urin von Hunden und Menschenkot. Dafür konnte er sich verbürgen. Schließlich hatte er dort selbst schon sein Geschäft verrichtet und das war noch gar nicht so lange her.
Ob sie bald eine Funkverbindung durch diese dicken Mauern herstellen konnten?
Und wenn nicht?
Wie lange würde es dauern, bis Passanten eintrafen?
Nicht vor morgen früh!
Sie würden überleben.
Was für ein schöner Gedanke, dass die Polizei dort drinnen im wahrsten Sinne des Wortes versauern würde.
Unter dem Vordach seiner geliebten Stammkneipe dachte er an ihre Bequemlichkeit.
Hatte man zu viel getrunken, lief man aus dem Wirtshaus heraus, über die wenig befahrene Straße in den Tunnel, in dem man sich hemmungslos, sorgenfrei und ungehemmt auskotzen konnte.
Plötzlich hatte er Zukunftsangst. Wie würde es wohl werden, in den Ballermann-Regionen? Jeder Rausch musste doch raus! Konnte man sich auch auf Mallorca, Thailand oder auf tropischen Inseln so ungezwungen auskotzen wie in der Heimat?
Er ist sehr erzürnt, weil Bully nicht einkaufen gegangen ist und nun alles an ihm hängen bleibt.
„Hast wohl etwas Besseres zu tun gehabt?“
„Allerdings!“
Diese unverschämte Antwort brüskiert Blondy sehr. Aber sie brauchen Proviant für die Fahrt. Also hat er sich geladen wie eine scharf gemachte Atombome auf das Fahrrad geschwungen und ist vom Sprit getrieben, der sich in der Frage manifestiert: „Warum muss ich immer der Depp sein?“
Diese Frage wird umso dringlicher, je öfter die pralle Tüte mit Pfandflaschen am Lenker gegen seine Schenkeln schlägt. Ein Glück, dass es Plastikflalschen sind, aber schon nervig. Eigentlich sind sie ja seit dem Lösegelderhalt nicht mehr auf das Pfandgeld angewiesen, aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Und wenn er schon Fleisch kaufen muss, kann er gleich auch das Flaschenpfand einlösen, für das Kleingeld sozusagen. Braucht man immer. Wer weiß wozu.
Zudem hat er eine geniale Idee: Ein gutes sicheres Fahrradschloss kaufen, für so ein Leben im Hotel angebracht. Damit kann man den Geldkoffer im Zimmer sichern, wenn man man schnell mal in die Cocktailbar hüpfen will. Der Hotelsafe ist da nicht angebracht. Lästige Fragen, wer weiß, ob das Personal nicht Interpol einschaltet undsoweiter.
Zuvor schon hat er im Kaufhausprospekt ein anscheinend stabiles entdeckt, eines mit einem Sicherheitscode.
Er fährt schneller. Die Tüte schlägt jetzt noch öfter gegen die Schenkeln, was zwar nicht schmerzt, aber noch mehr nervt.
Der Videomeister des Einkaufszentrums kann kaum sein Glück fassen: Endlich dieser schräge Vogel mit blonden, abstehenden Haaren. Auf den hat er es schon lange abgesehen. Die Kamera zoomt direkt auf ihn, als er zu dem Pfandautomaten tritt.
Blondy drückt gerade den Bonknopf. Hinter der Wand, was er nicht sehen kann, leuchtet ein anderer Knopf auf und signalsiert Alarm. Zudem blinkt ein Neonschriftzug mit den Worten: „Operation 'Jäger und Sammler“ immer wieder rot auf. Das ist einer der vielen Gags des Videomeisters und des Lageristen, letzterer ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, der freudig grinst, als er das liest.
Endlich ist es soweit. Das Mammut geht in die Falle. Heute wird es erlegt.
Seit Wochen ist Blondy schon kleinen Sticheleien, Schikanen und Unseriösitäten ausgesetzt, dessen Gründe er sich nicht erklären kann: Pfandflaschen werden nicht angenommen, weil ein Logo beschädigt ist, oder gerade kein Mitarbeiter da ist, um den nicht ausgedruckten Pfandschein für die Kasse handschriftlich zu ersetzen. Dass die Maschine manchmal streikt, ist natürlich Absicht. Der Lagerist kennt seine Maschine in- und auswendig, so dass er bei Bedarf einen gewissen Knopf betätigt.
Auch der Lehrling der Lagerverwaltung ist eingeweit. „Auf diesen schrägen Typen musst du ein besonderes Auge werfen!“ Das ausgedruckte Standbild einer Videoaufzeichnung, das ihm dabei vor die Nase gehalten wird, zeigt unverkennbar Blondy mit seiner Tonsur und seinen abstehenden Haaren.
„Warum?“
„Seine Pfandflaschen sind manipuliert. Die Etiketten sind gezinkt!“
Ein glatte Lüge!
Aber wirkungsvoll, wie man gleich merken wird.
Blondy ärgert sich nun wieder über die Maschine. Sie weigert sich, eine Flasche anzunehmen. Und die bereits eingegebenen hat sie zudem nicht gutgeschrieben. Sie streikt überhaupt, gibt nichts von sich als bloßes, dumpfes Blinken: „Rufen Sie nach dem Kaufhauspersonal!“
Der Lehrling kommt gerade vorbei, Billy bittet ihm um Hilfe. Dieser erkennt Bully. Er ist gewarnt.
„Da muss ich den Chef fragen.“
„Sie sehen doch. Der Automat blinkt Störung. Meistens ist der Behälter voll. Daran entweder etwas rütteln oder ihn entleeren, dann geht's.“
„Trotzdem! Ich muss den Chef fragen!“ Der Azubi dreht sich um und geht ins nahe Büro des Abteilungsleiters, kommt wieder heraus und an Bully vorbei: „Der Herr Abteilungsleiter telefoniert noch. Er kommt gleich. Warten Sie bitte so lange!“
Blondy wartet und wartet.
Was soll das? Der Abteilungsleiter telefoniert jetzt, telefoniert und telefoniert. Und er muss sich hier die Beine in den Bauch stehen. Von wegen der Kunde ist König. Der Kunde ist der Bettler, oder was!?
Er wird immer wütender.
Schließlich drückte er auf den dicken Knauf an der Flaschenmaschine und eine weibliche Roboterstimme ertönte: „Ein Mitarbeiter bitte zum Flaschenautomaten!“
Nichts geschah. Wieder drückte er, nichts, wieder, wieder nichts. Währenddessen hörte der Chef den Lärm, wie die sterile, monotone Maschinenstimme unentwegt die ganze, lange Halle beschallte. Das würde die ganze Kundschaft aufscheuchen wie Hühner. Aber ein wichtiges Telefongespräch hielt ihn fest.
Warum spuckte der Automat nicht den Bon aus? Dem Kunden Blondy gingen die Gäule durch und er schlug mit dem Fuß gegen das Armaturenbrett, wie auch Pferde, die dazu ihren Huf benutzten.
In diesem Moment trat der Abteilungsleiter prompt aus dem Nebenraum und schrie: „Können Sie nicht mal warten, wenn ich telefonieren muss!“
„Wer ist hier König, der Kunde oder der Verkäufer?“
Der Kaufmann unterdrückte seine Wut, händigte dem Kunden zähneknirschend den 4-Euro-Pfandgut-Bon aus, murmelte aber verständlich: „Schau, dass dich Acker machst.“ Das klang noch relativ moderat, war er schon nahe dran, sich zu vergessen und zu zeichen: „Schleich dich, du räudiger Hund!“ oder so etwas betont Bayerisches-Der Abteilungsleiter verschwand wütend wieder in seinem Stall.
Blondy, noch recht aufgedreht, nahm die nächste Flasche und fütterte damit die Maschine. Wieder signalisierte das blöde Ding Störung mit unaufhörlichem roten Geblinke. Zur Abwechslung weigerte sie sich eine Flasche in seinem hohlen, schwarzen Loch zu verschlingen. Von einer Quittung war dabei völlig abzusehen.
Blondy drückte erneut auf den Knopf mit der Maschinenstimme.
Nun trat der Lagerist aus dem Hinterraum, erbot sich zunächst recht freundlich, Hilfe zu leisten, sprich natürlich, sofort, sofort nach der von der Maschine verschluckten Flasche zu suchen.
„Warten Sie hier. Bin gleich zurück!“
„Warten“, dieses Wort brachte Blondy mittlerweile in andere Zustände. Schon wieder warten. Außerdem, ziemte sich dies für einen Millionär, der er mittlerweile war? Mit Hintanstellen musste jetzt Schluß sein, und zudem hatte er mittlerweile schon allzu oft wegen der Unzuverlässigkeit des Flaschenautomaten mit Mitarbeitern Scherereien gehabt. Trotzdem - er durfte nicht auffallen. Er war wenistens mindestens Staatsfeind Nummer 1, wenn man diese Entführung bedachte. Noch waren die Millionen nicht in trockenen Tüchern. Aber gefallen lassen musste er sich auch nicht alles deswegen!
Wieder kommt der Lehrling vorbei.
„Ich geh mal schnell zur Metzgerei davorne. Wenn dein Chef kommt...“
Der andere nickte zwar zustimmend, fuhr aber unverdrossen mit seinem Hubwagen weiter. Auch er hatte es eilig, wie jeder Beschäftigte hier im Kaufhaus. Wo käme man schließlich hin, wenn man sich mit Sonderwünschen solcher verrückter Kunden abgeben würde? Außerdem, der Vogel ist eh zum Schuss freigegeben worden, und das zu Recht – der piept doch nicht mehr ganz richtig.
Blondy kam zurück und der Lagerist erwartete ihn schon, der mit einem eingewickelten Stück Hackfleisch von der Fleischdecke zurückkam, mit einem Schulterzucken und allzu barschen Tonfall : „Da hat sich keine Flasche gefunden!“
„Das heißt, ich bekomme keinen Bon gutgeschrieben, oder? Dann ruf ich ihren Chef.“ Schon wandte sich Blondy dem Geschäftsbüro zu.
„Halt!“ Er blickte in das grinsende, verlogene Gesicht des Kaufhausangestellten, der bereits einen handgeschriebenen Zettel in der Hand hielt.
Ganz schön dreist. Blondy hätte am liebsten zugeschlagen.
Aber er hatte noch eine zweite Flasche in petto.
Auf der fehlte seltsamerweise das Pfandemblem.
„Da kann ich wirklich nichts machen!“
„Aber...!“
„Wirklich. Tut mir leid!“
„Kommen Sie mal mit. Ich zeige Ihnen etwas!“
Blondy lief wütend um die Ecke, zu den zu verkaufenden Flaschen. Dort war eine, wie er sie in der Hand hielt.
„Okay, dann bleiben sie stehen!“
Der Lagerist lachte und zeichnete die leere Flasche gegen.
Blondy kochte das Blut in den Adern. Wie man hier behandelt wurde. Man musste sein Recht regelrecht erkämpfen. Wütend rannte er zur Kasse und unterließ es in seiner Wut, das zu bezahlende Fleischprodukt zu begleichen. Es steckte unsichtbar in seiner Jackentasche. Er ließ sich den Pfandbon auszahlen und verließ fluchtartig das Geschäft.
Als er aus dem Kaufhaus trat, spürte er eine eiserne Hand auf seiner Schulter.
„Kommen Sie mit, junger Mann!“
Der stinkende Abteilungsleiter und der unseriöse Lagerist forderten ihn mit Nachdruck auf, mit ihnen zu kommen.
„Wieso?“
„Wir müssen ein paar Dinge klären!“
Sie hatten sein Nichtzahlen gefilmt, verfolgt und wollten ihn jetzt anzeigen. Sie riefen die Polizei.
Während Blondy allein im Aufenthaltsraum der Angestellten auf die Beamten wartete, dämmerte ihn allmählich seine Lage. Vernünftigerweise sagte er sich zwar, dass es ihm letztlich „scheißegal“, sein konnte. Was war schon so eine kleine Strafe für diesen Bagatellsache von einem Diebstahl im Vergleich zur Höhe des Erpressungsgeldes?
Aber, je länger er wartete, desto nervöser wurde er.
Wenn sie Verdacht schöpften, wenn die Arztfamilie vielleicht doch die Polizei einschaltete und nicht die vereinbarten fünf Tage Stillhalten einhielte, könnte er vielleicht erkannt werden. Die schönen Scheine und herrliche Freiheit wäre unwiederbringlich verloren. Was war mit dem faulen Herumliegen auf einer Insel, die vielen schönen Tussis und dem ausschweifendem Luxusleben?
Stattdessen das bekackte Leben in engen Gefängnismauern!
Mensch, höchste Zeit sich zu verdünnisieren.
Er spürte seine Pistole in der Westentasche, das erste Mal, seit er hier war.
Das beruhigte ihn ungemein.
Er schaute aus dem Raum, sah den Abteilungsleiter und den Videomeister, die an den knapp unter der Ecke hängenden Rohrleitungen Muskelübungen wie in einem Fitnesscenter machten, was bei ihrer korpulenten Leibesfülle aussah, als hingen Rindviecher herum, nur wie im Schlachthaus nicht umgekehrt mit Kopf voran. Zu allem Unglück kam jetzt auch noch eine hübsche Verkäuferin herein, um sich etwas zum Essen aus dem Kühlschrank zu holen. Sie lächelte verlegen.
Ist er denn jetzt der totale Depp?
Gute Miene zum bösen Spiel und er fletschte die Zähne in Richtung des schönen Engel, der aber schnell wieder wegflog.
Dann kamen zwei schneidige Polizisten in den Flur, wo Geschäftsleiter und Videospitzel ihre männliche Schaustellung zelebrierten.
„Zum Videoraum?“
„Da gehen wir rein!“
Blondy war ihnen entgegengetreten, aber weg waren sie. Der Videoraum war mit einer schweren Eisentür verschlossen. Alles ging zu schnell, Blondy hatte keine Chance.
Was würde nun geschehen?
Er war ein Spezialist im Videoschnitt, wie der selbstgedrehte Porno bewies. Er wusste, dass Videobilder nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Manipulation boten, selbst der Timecode, die Zeitangabe am unteren Rand des Films konnte manipuliert werden. Wer weiß, welche Szenen die Kaufmänner den Polizisten präsentierten? Wahrscheinlich keine, die für ihn sprachen.
Was würde Management und Polizei wohl miteinander aushecken?
„Vergessen wir mal die Szenen, wo wir den komischen Vogel provozieren, nicht die feine Art, klar, aber dafür wird die nächste Lieferung Grillfleisch für euer Betriebsfest doppelt so groß ausfallen, zum gleichen Preis, versteht sich.“
Wenn die Polizei überhaupt besagte Bilder vorgeführt bekommt, das war die Frage!
„Ja, wirklich, ich bin der totale Depp!“ Noch nie in seinem Leben war sich Blondy als solch ein Nichts vorgekommen. Er war eine Null, ein Nichts, weniger als Nichts und Null. Er existierte letztlich gar nicht für die anderen. Wenn er Abschaum war, kam es schon. Nein, er war wie Luft, nein, wie Vakuum.
Zwei Meter entfernt am Ende des Flurs versperrte jemand den Ausgang, der ehemalige Stasi-Provokateur, breit grinsend, Hände vor der Brust verschränkt, breitbeinig dastehend und mit einem Fuß, der leicht nach außen gewinkelt war, auf dem Boden einen Takt wippend. Blondy überkam ein Deja-Vu-Erlebnis: Er sah einen Uniformierten mit dazu gehöriger Dienstkrawatte, einen Apparatschik und Beamten wie er im Buche stand. Das einzige, was noch fehlte, waren Dienstmütze und Gummiknüppel an der Taille. Aber das musste gar nicht sein, denn das Signal, das sein sarkastisches Lächeln aussendete, war eindeutig genug: Komm nur her und greif mich an, ich warte nur darauf! Ich bin bestens vorbereitet im Nahkampf, das kannst du mir ruhig glauben.
Blondy glaubte es ihm, dachte aber plötzlich an seine Pistole, die in der Westentasche gut versteckt und unsichtbar hing. Das war sein Faustpfand gegen die Ignoranz der anderen, dass sie ihn nicht Ernst nahmen, ihn ignorierten, schitten und kleinmachten, wie es nur ging.
Jetzt hatte er endlich die Chance, ihnen zu beweisen, dass es so sich überhaupt nicht verhielt. Im Gegenteil. Die Gelegenheit war da, dieses Ding mal so richtig auszuprobieren, Erfahrung zu sammeln, für spätere Einsätze. Dass es dazu genügend Anlässe gab, war ihm nur zu bewußt. Und wenn, er würde sie finden. Fast sadistisch grinste er.
„Was schaust du so blöd!“, schmiss ihm der andere ins Gesicht.
Langsam löste sich sein Grinsen.
Apropos blöd! Er war es nicht. Die Lösung mit der Pistiole war zu riskatn, ihm fehlte noch die Übung. Aber er schwor sich, sie sich so bald wie möglich anzueignen. Im Wald dort draußen, im seinem Keller unten, in er Hütte im Garten.
Aber jetzt war es noch zu riskant. Wenn etwas schieflief, ein Haken klemmte, er vorbeischoß, was weiß der Teufel, was, dann Gnade ihm Gott, zwei Polizisten schließlich befanden sich unmittelbar hinter der Wand dort. Und die konnten bestimmt mit ihren Waffen umgehen!
„Die räudige Ratte, verpiss Dich in den Personalraum. Und warte auf dein Tribunal!“
Spontan antwortete Blondy: „Tribunal?“ Im Moment wusste er nicht, was das hieß. Konnte sich dieser Döbel da nicht deutsch ausdrücken? Aber allmählich konnte er sich denken, was es bedeutete.
Plötzlich riss er die Hände hoch, zeigte seinen ausgestreckten Zeigefinger und machte: „Peng! Peng!“ Wie ein Cowboy.
Aber Respekt, sein Gegenüber blieb ungerührt.
„Hättest wohl gern, Kanaille! Aber Waffen taugen nichts für solche wie du einer bist!“
Wenn der gewußt hätte! Besser er erfuhr es gar nicht.
„Auf dich ist doch geschissen!“, spie er aus und ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um, ging resigniert und wutschnaubend in den Personalraum zurück und setzte sich an einen langen Pausentisch. Er hatte getan, was er tun konnte, hatte Gesicht gewahrt, erschien wenigstens nicht als totaler Blödmann. Das stimmte zwar nicht ganz, dennoch hatte er wenigstens Zähne gezeigt.
Auf dem Personaltisch lagen verschiedene Dinge: eingewickelt in Papier und Servietten belegte Brote, in Alufolie Gemüse oder Obst. An der Wand darüber hingen Fotos von Menschen, die breit grinsten oder feixten, wahrscheinlich Aufnahmen des Personals bei Betriebsfeiern, Ausflügen oder Events. Besonders die schnuckligsten Verkäuferinnen lächelten recht sexy drein, Blondy spürte einen Impuls, den er wieder unterdrückte.
Dazwischen hing ein Kalender, ein Putz- und Abwaschplan.
Neben dieser Pinwand mit ihren vielen Fotos, Plänen und Fyern, hing eine Dartsscheibe.
Blondy darunter eine Schale, in der Spiker lagen. Er holte sich ein paar, trat ein paar Meter zurück, hob seine Hand mit einem und fuhr hin und her, um in die Mitte derselben zu zielen. Aber irgendetwas irritierte ihn. Um seine Irritation wegzublasen, warf er einfach ein paar Spiker auf die Dartsscheibe. Dann näherte er sich ihr. Er erkannte immer mehr, dass es sich um ein Gesicht handelte, wobei die Nase der Mittelbpunkt der Scheibe darstellte. Das Gesicht hatte zu Berge stehende Haare, die wie Flammen aussahen. Irgendwoher kannte er die Person, deren Gesicht als Zielscheibe diente.
Darüber stand in bunten Lettern: „Operation JÄGER UND SAMMLER“.
Darunter: MOST WANTED.
Er konnte auf dem Schädel den Ansatz einer Tonsucher erkennen. Klar, die langen sternförmig wegstehenden Haare, die wie unter einem Blitzstrom zustanden kamen, mochten an Frankensteins Erwachen erinnern, aber ... Irgendwie kam ihm dieser Mensch nur zu bekannt vor, Mensch.
Und mit einem Schlag gab es kein Leugnen mehr und er sah es, auch wenn ihm mit einem rroten Filszstift überdies eine Clowns- oder Pappnase ins Gesicht gemalt war, er war es!
Eindeutig! Er! Hier war er tatsächlich als der größte Clown, die größte Pappnase, der größte Trottel weit und breit öffentlich verhöhnt und an den Pranger gestellt worden, aus dem man sich einen Jux machte, wenn man ihm mit Spikern bewarf.
Nunmehr lief so manches merkwürdige Verhalten der Verkäuferinnen wie ein Film vor seinem geistigen Auge ab und ergab einen Sinn, eine Handlung, einen Plot: ihre verrwegenen Blicke, die ihm verstohlen, dennoch dreits trafen, Gesichter, dies sich zwar verschämt abwanden, aber dann hinter vorgehaltener Hand grinsten und feixten.
Er stand etliche Sekunden derart unter Schock, dass er zu keinen Gedanken mehr fähig war.
Dann aber überkam ihn ein Impuls, der nur verständlich war: Sich die Pistole zu grabschen, sich eine Geisel zu nehmen und diese mit dem Pistolenlauf an den Schläfen durch die erschreckte Menge des bunten Kaufhaustreibens zu schleifen.
Alle sollten sie das Fürchten lernen! Alle sollten sie Angst kriegen vor ihm. Sie sollten dafür bezahlen, dass sie ihn verhöhnten!
Er hörte sich sogar schreien: „Komm mir keiner näher! Ich schieße!“ Dabei hielt er die Pistole an die Schläfe einer Verkäuferin. Und er sah, wie sie alle von ihm wichen, sich in Deckung begaben, auf den Boden legten.
Er ballerte blind irgendwohin in diesem Supermarkt: Tomatendosen explodierten mit rotem Schwall – das Glas der Wursttheke zersprang in tausend Scherben – tote Menschenleiber plumpsten träge auf die Fleisch- und Wurstauslagen – Scharen von Menschen duckten sich in Angst auf den Boden, in die Ecken und schlüpften in Regale.
Plötzlich erwachte er von diesem Tagtraum. Er war schockiert. Er war erregt.
Von dieser Vorstellung stürzte er in den hinteren Teil des Personalraums auf die Toilette, zerrte sich die Hose vom Leib und erlöste sich mit einem lauten Plippfff. Die Aufregung machte sich Luft. Panik versetzte ihn in einen Zustand, in dem er sich wie ein Wickelkind fühlte.
Nein, seine Phantasie ging mit ihm durch.
Aber obwohl er eine Waffe besaß, dessen war er sich dennoch bewusst, stand er doch Profis gegenüber, darüber musste er sich immer klar sein. Die Polizei war in der Nähe. Kaum zwei Meter von ihm entfernt. Nur ein paar Wände trennten ihn. Und mit denen hatte er schon seine Erfahrungen gemacht.
Sein Film lief weiter.
Er sah, wie sie ihn unerbittlich im gebührendem Abstand folgten, als er fliehen wollte, so oder so, sie werden nicht locker lassen, egal welche Kapriolen er schlagen würde.
Wieder ertönte in dieser engen Kajüte ein hoher Laut. Er entleerte seinen ganzen Darm.
Trotzdem, er konnte nicht anders.
Er griff nach seiner Pistole in der Seitentasche, zog sie hervor und legte sie flach auf die Handfläche. Musste man dieses Gerät nicht entsichern, bevor man es benutzte? Er öffnete die Trommel und vergewisserte sich, dass sie Patronen enthielt. Die Trommel klickte ein.
Da war so ein Hebel, den er umlegte. Jetzt müsste sie schussbereit sein.
Er nahm sie fester in die Hand und richtete sie gegen die verschlossene Klotür.
Cool bleiben, Nerven behalten, erst mal schauen und abwarten.
Automatisch wanderte dann sein Blick die Tür hinauf, über die Decke, bis er im äußersten Winkel etwas Licht erblickte, ein Klappfenster. Sofort sprang er auf, vergaß aber nicht, sich den Arsch abzuwischen, zog schnell die Hose hoch, steckte die Pistole weg und sah sich die Öffnung genauer an.
Aufklappbar nach außen - wunderbar!
Das war's - ab der Fisch!
Er klappte den Klodeckel zu, stieg darauf und machte sich am Fenster zu schaffen. Es ließ sich leicht öffnen und er konnte sich wie bei einer Stangenübung hochziehen – das tägliche Krafttraining lohnte sich. Verdammt, dann stieß er gegen ein Gitter. Es war eingerostet und ließ sich nicht öffnen. Aber er rollte sich zusammen wie ein Embryo, drehte sich im Fensterrahmen um 180 Grad und stieß mit einem Tritt das Rohr aus seiner rostigen Verankerung.
Der Weg war frei!
Draußen auf dem Hallendach lief er über 50 Meter diagonal in die andere äußereste Ecke, späte erst vorsichtig nach unten und taxierte, ob der Weg frei wäre. Zum Glück hielt sich gerade dort unten keine Menschenseele auf. Wie ein Affe hangelte er sich am Regenrohr nach unten. Schnell sprang er um die Ecke zum Fahrrad, öffnete das Schloss und fuhr los.
In seiner Aufregen und Freude über seine Flucht sah er sich nicht nach Verfolgern um.
Plötzlich kam ihm der Gedanke: Folgt ihm die Polizei, dann bekämen sie heraus, wo er wohnt. Wenn sie dann das Haus stürmten, würde alles tödlich enden. Was für hässliche Szenen würden sich abspielen? Sicher, sie hatten jetzt ein Gewehr, aber keinerlei Erfahrung im Umgang damit. Wie sollten sie sich gegen solche alten Hasen wehren können?
Die Millionen würden sie in Luft auflösen.
Unmöglich. Verteidigung – aussichtslos! Chancenlos!
Er musste j e t z t die Verfolger abwimmeln!
Nur wie?
Natürlich!
Kurzerhand steuerte er den Tunnel an. Es war zwar noch nicht sicher, ob sie ihn tatsächlich verfolgten, aber wie sollte er das auch wissen? Das waren Profis. Er würde es nicht merken – klar!
Sicher ist sicher ...
Was konnte er aber in diesem Bahnhofstunnel, dieser kleinen Röhre schon machen? Sich darin verstecken? Auf die Lauer legen, um zuzuschlagen ...
Es war nur so eine Ahnung, die ihn dort hin zog, bis es ihm aufging wie die Morgensonne am Äquator.
Der Tunnel war das Ende der Fahnenstange für die Polizei - denn dort konnte er seine Verfolger in eine Falle locken – ja genau, die Türen, die Schlösser!
Er versteckte sein Fahrrad im Gebüsch, hängte ein Fahrradschloss an die erste Tür, ohne sie zu verschließen und eilte zum anderen Tunnelende, um dort die Tür mit dem neu gekauften Zahlenschloss zu verriegeln. Die Tunneltür war mit der Riegelkonsole in die Betonwand eingelassen. Das hielt!
Danach hastete er wieder zurück, versteckte sich hinter dem dichtesten Gebüsch bei dem anderen Tunneleingang.
Aber plötzlich hatte er Angst. Was, wenn die Polizei nicht durch den Tunnel ging. Warum sollten sie? Also musste man sie dazu bewegen, dort hinein zu gehen.
Aber wie?
Eine Idee kam ihm,
Sie in eine Falle locken!
Er nahm sein Fahrrad, rollte es zum Eingang des Tunnels und kippte es davor um. Die Polizei sollte, wenn sie das Rad hier liegen sah, glauben, der Verbrecher sei vom Rad gesprungen, um in den Tunnel zu flüchten und besser durch den Wald entkommen zu können. Denn ein Fahrrad würde die Flucht durch den dichten Wald erschweren.
Dann stellte er sich wieder hinter das dichte Gebüsch.
Wenige Sekunden später, er traute seinen Augen kaum, tauchte langsam ein Polizeiauto hinter der Kurve auf.
Gleich würde es sich entscheiden!
Zwei Uniformierte sprangen heraus, als sie das am Boden liegende Rad sahen, der Abteilungsleiter des Kaufhauses ebenfalls und alle drei stürmten kopflos in den Tunnel. Blondy sprang sofort die Böschung hinunter, näherte sich der vorderen Tunneltür und machte sie mit dem zweiten Schloss dingfest.
Drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen!
„Verrecken sollt Ihr, Ihr elenden Kanalratten! Arschgeigen!“, brüllte er in den Tunnel hinein. Kein Echo antwortete – dieser Hohlraum war als Klangkörper zu klein. Dafür war es für die Betroffenen um so verständlicher.
Wer konnte es ihm versagen, dass er jubilierte?
Aber sich schnell jetzt zurückziehen, die Polizei konnte gleich mit ihren Knarren im Anschlag an diese Tür heranspringen und dann – Gnade ihm Gott! Sie würde nicht zögern, ihre Waffen einzusetzen.
Schnell rollte er sein Rad auf die andere Seite, postierte sich erst einmal hinter den Eingangspfeiler seiner Stammkneipe, die sich dort befand. Er wollte zum Schluss in aller Ruhe sein Meisterstück genießen.
Die Ratten saßen in der Mausefalle, konnten weder vor noch zurück und schmorten in ihrem eigenen Fett. Es war dunkel, kühl und vor allem stank es fürchterlich. Es roch nach Urin von Hunden und Menschenkot. Dafür konnte er sich verbürgen. Schließlich hatte er dort selbst schon sein Geschäft verrichtet und das war noch gar nicht so lange her.
Ob sie bald eine Funkverbindung durch diese dicken Mauern herstellen konnten?
Und wenn nicht?
Wie lange würde es dauern, bis Passanten eintrafen?
Nicht vor morgen früh!
Sie würden überleben.
Was für ein schöner Gedanke, dass die Polizei dort drinnen im wahrsten Sinne des Wortes versauern würde.
Unter dem Vordach seiner geliebten Stammkneipe dachte er an ihre Bequemlichkeit.
Hatte man zu viel getrunken, lief man aus dem Wirtshaus heraus, über die wenig befahrene Straße in den Tunnel, in dem man sich hemmungslos, sorgenfrei und ungehemmt auskotzen konnte.
Plötzlich hatte er Zukunftsangst. Wie würde es wohl werden, in den Ballermann-Regionen? Jeder Rausch musste doch raus! Konnte man sich auch auf Mallorca, Thailand oder auf tropischen Inseln so ungezwungen auskotzen wie in der Heimat?
D. Dienstag 18. Abschied fällt immer schwer
24 Stunden noch
Es durfte keine Zeit verloren gehen, die Koffer mussten gepackt und spätestens morgen losgefahren werden. Bis dahin sind bestimmt schon die Polizisten aus dem Kloaken- und Kotztunnel befreit worden. Dir Folge wird sein, das Streifen pausenlos um die Blocks herumfahren, da vermutet wird, dass der Flüchtling in der Nähe wohnt. Und das stimmt ja auch. Bei ihrer Flucht war also höchste Vorsicht geboten, nicht aufzufallen und den Bullen in die Hände zu geraten.
Also Flucht – war ja klar! So bald wie möglich!
„Ewig können wir nicht in der Mausefalle schmoren!“
„Was, sind wir Mäuse oder was?“
„Äh, schon gut. Auf gut Deutsch: Was sollen wir tun?“
Sie konnten einen Flug buchen. Last-Minute-Flug. Und so hatten sie bis dahin: 24 Stunden. Zeit zum Planen und für Zwist. Aber zunächst einmal saßen sie zugedröhnt vor der Glotze, während in ihrem Innern ein ganz anderer Film ablief.
Jetzt, wo es der Abflug, der Abschied von hier, immer näher wurde, wuchs in ihnen ein mulmiges Gefühl im Magen. Sie würden ihren angestammten Platz, ihre Stadt, ihr Land verlassen – vielleicht für immer. Und zu allem Übel lief auch noch jetzt ein Film im Fernsehen, der diese Ungewissheit, dieses Gefühl der Unsicherheit, kurzum diesem Streufeuer Öl hineinschüttete.
Es lief ein Dokumentarfilm über die englischen Zugräuber, die in den 60iger Jahren einen einzigen langen Zug generalsstabsmäßig überfallen hatten und mit dem Geld ungehindert ins Ausland fliehen konnten.
Diese Engländer!
Und mit der ganzen riesigen Beute, hunderte von Geldsäcken mit Blüten ungehindert ab nach Übersee. Ohne von den Behörden erwischt zu werden. Und dort führten sie sorgenfreies Leben in Luxus und Freiheit.
Dann das Interview mit dem Kopf der Geldräuber. In einer Kneipe in Lateinamerika. Umringt von vielen kleinen, süßen Schnecken. Er mit einem Que am Billardtisch und plötzlich schaut er, aus dem schmutzigen Fenster der Spelunke, aus dem Fenster in die Ferne. Der Reporter hat ihn gefragt, ob er sich nicht manchmal nach dem good old England sehnt.
„Doch jeden Tag. Klar, das Leben hier ist bequem. Aber ich habe es mittlerweile satt. Leider kann ich aber nicht mehr zurück in meine Heimat, England. Die englische Lebensart und alles Drumherum, die Sprache, London, oh nein! Sie verstehen, das fehlt mir schon sehr!“
Das klang deprimiert und deprimierend.
Sie dachten daran, wie sie sich fühlen würden, nach ein paar Jahren in Tailand oder welchem Touristenparadies auch immer. Dabei sprachen sie keine Tailändisch, geschweige nicht einmal Englisch. Und Deutsch wird wohl kaum gesprochen. Sie würden sich mit der Zeit fremd vorkomimen. Und dann, dann würden sie auch nach einiger Zeit zurück nach Hause sehnen? Und würden niemals zurückkönnen! Das war schmerzhaft klar.
12 Stunden noch
Der Flug war für zwei Personen. Für drei wohl kaum. Sicher, eine Geisel musste zur Sicherheit bis zum Flughafen mitgenommen werden. Aber fliegen würden nur er und Bully.
Es musste entschieden werden, wer mitkommen würde. Bully votierte für die Krankenschwester – natürlich; Blondy für den Mediziner. Für wen sprach was?
„Hast wohl Geschmack an dieser Schwester gefunden?“
„Red kein Blech!“
„Ist schon gut. - Der Arzt hat aber den höchsten Preis.“
„Wie?“
„Schleppen wir aber die Krankenschwester mit und die Polizei findet den Arzt hier vor, ist unser Faustpfand … hm ...“
„Was?“
„Unser Druckmittel flöten gegangen, meinst nicht? Warum wohl?“
„Tja... Aber klar, hast Recht, das Lösegeld ist schon gezahlt. Der Mediziner ist uns keinen Pfifferling mehr wert!“
„Pfifferling?“
Bully wiederholte „Pfifferling“ und dachte darüber nach: „Ist das nicht ein Pilz. Ein kleiner, gelber, den man im Wald findet und mit Eiern, Speck und Nudeln essen kann? - Was hat ein Pilz mit Lösegeld z u tun? - Na klar, weil es ums Essen geht. Pfifferlinge schmecken so gut wie Lösegeld gut ist. - Muss ich mir merken. Etwas ist keinen, keinen Pfifferling mehr wert.“
„Wenn die Tussi mitkommt...“ Blondy versuchte sich in Bully hineinzuversetzen. „... ach, ich versteh! Das hättest du wohl gern! Du möchtest, dass ich dir zustimme. Die Krankenschwester kommt mit. Das wäre Wasser auf deine Mühlen!“
Was Bully jetzt überhaupt nicht verstand.
„Was, was. Wasser? Und was für Mühlen?“
„Hä!“
„Habe ich eine Mühle oder so was? Bin ich ein verdammter Holländer, oder was?“ Bully war kurz davor, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, sprich seiner Wut über diesen kryptischen Schwätzer Luft zu verschaffen.
Es hätte noch explosiver wernden können, wenn Blondy ausgesprochen hätte, was er dachte: „Dir geht’s doch nur ums Ficken!“Um Sex wäre es ihm beim Arzt auch gegangen, aber das hätte er natürlich niemals zugegeben.
Stattdessen machte er vage Anspielungen in eine andere Richtung: „Ja ja, so eine Sexsklavin … „
„Wie meinen?“
Blondy schwieg lieber, bevor er sich eine Watschen einfing. Dann schmollte er. Er fühlte sich wieder einmal abgehängt und benachteiligt.
Vor seinem inneren Auge lief folgender Film ab: Sie fuhren über die ebenen, gut ausgebauten Straßen. Die Karre rumpelte und schunkelte nur so. Während er sich mit dem Lenken des Cabrios abmühte, befand sich Bully mit der Schwester hinten im Fond …
Das Bier floss an diesem Abend in Strömen und Blondy ließ nicht locker.
„Überleg mal, wenn uns etwas zustößt. Ein Unfall, ein Reh, das uns ins Auto läuft, irgendetwas Unvorhergesehenes geschieht. Wie könnte uns dann der Arzt helfen, uns nämlich verarzten … “
„Was soll uns schon zustoßen? Ein Reh! Das ich nicht lache. Da muss du schon mit etwas besseren kommen.“
„Na gut, ein Querschläger von einem Pistolenschuss ...“
„... aus der Waffe eines Polizisten ....“
„... du sagst es …“
Bully wurde misstrauisch und fragte: „Sag mal, warum hast du an dem Arzt solch einen Narren gefressen.“ Bully hatte diesen Ausdruck schon gelernt und verwendete ihn gern zielsicher. Das Misstrauen Bullys ging zu weit. Wenn er den Stab für den Arzt weiter bricht, würde er sich verraten.
Am Ende entschied wieder einmal Bully, Argumente hin oder her. Die Schwester kommt mit, basta!
Die Frage blieb: Was wird mit dem Arzt gemacht? Es wäre vernünftig gewesen, ihn zu töten, um Spuren zu verwischen, Zeugen zu beseitigen. Es musste seine guten Gründe geben, dass man so im kriminellen Milieu vorging? Aber sie gehörten nicht dazu. Sie waren bedürftige Menschen in Not, die es als ihr gutes Recht ansahen, sich bei den Reichen und Wohlhabenden (Geldsäcken) zu bedienen, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Nachdem es so gekommen ist, wie es gekommen ist. Eins aufs andere.
Sie konnten es jedoch nicht über sich bringen, sozial und menschlich wie sie waren, dem Arzt die Gnadenkugel zu geben. Neben ihrem sozialen Gewissen spielte dabei auch eine gewisse Rolle ihre Spielernatur, die ihnen sagte: Lass geschehen, was geschehen muss, aus, fertig, Amen. Sie beschlossen, den Doktor seinem Schicksal zu überlassen. Wenn er entdeckt würde, bevor er verhungerte, wäre es gut für ihn. Es wäre schlecht für sie, die Entführer, aber – die Polizei würde den Tatort früher oder später sowieso ausfindig machen - hoffentlich nicht zu früh! Sie hofften, dass sie in der Luft waren, bevor dies geschah.
Damit war alles geklärt.
19. Adlerauge verfolgt Dich!
Ernst hatte es die ganze Nacht hinter den Büschen nicht durchgehalten. Dies wäre auch zu übermenschlich gewesen. Er hatte sich schließlich durch den Tunnel, den Büschen und Bäumen zu seinem Lieferwagen durchgeschlagen. Das war nur in der Nacht möglich, weil er sich als Schüler in den Pausen, Frei- und Leerstunden hier die Zeit vertrieben hatte. Seine Digitaluhr hatte ihn rechtzeitig zur Morgendämmerung geweckt und nun stand er in Startposition, sozusagen in der günstigen Poolposition.
Es konnte losgehen.
Er saß wie auf glühenden Kohlen, obwohl er das Gefühl hatte, sein Allerwertester wäre auf Grundeis gestoßen, so fühlte er sich selbst körperlich an und besonders an jener Stelle. Aber dazu kamen auch noch Knochen und Gelenkschmerzen an der Seite, am Oberarm und Oberschenkel, auf denen er sich Schlaf hin- und hergewendet hatte. Auf einer Holzbank im Bus zu schlafen war ziemlich unbequem gewesen. Aber was für ein starker Kerl er doch war! Er hätte nie gedacht, dass in ihm solche Willenskräfte schlummerten!
Wie Marc Aurel, der den berühmten Satz geprägt hat: Erkenne dich selbst! Dieser hatte die Angewohnheit gehabt, auf nacktem Boden zu schlafen, obwohl er es nicht nötig gehabt hat als römischer Kaiser und Heerführer. Wie dieser opferte er sich gehorsam den widrigen Umständen, um später als Bundespräsident auch seinem Volk zu dienen. Hatte er dies erreicht, hatte er den Nachweis erbracht, dass er dazu fähig ist, selbst Befehle und Ratschläge auszuteilen.
Wie hieß es stets beim Militär: Wer gehorchen kann, kann auch befehlen!
Er spürte Rückenschmerzen. Kein Wunder, er hatte auch wie dieser Heros aus der antiken Zeit auf krudem, harten Untersatz geschlafen, auf einem blechernen des Transporters. Er hatte nur ein paar dünne Decken als Auflage zum Blech gehabt.
So fühlte es sich also an, wenn man nach Großem strebt.
Nervös ruckelte er seinen schmerzenden Körper hin und her. Es half nichts, denn dadurch spürte er weitere Stiche in sämtlichen Knochen. Er wollte schon aufstehen, um ein paar Dehnübungen zu machen, als er sah, dass zwei oder drei Fremde aus dem Haus eilten, an ihm vorbei und er duckte sich schnell weiter hinter dem Busch. Durch die Zweige sah er die paar Personen, wie sie sich schnell entfernten.
Wie viele sind es?
Es war zu schnell gegangen.
Er wagte es, einen Schritt aus dem Gebüsch zu machen, um die Flüchtenden besser sehen zu können. Doch er erblickte nur einen Mann, der dort 100 Meter entfernt stand, wo sich der Tunneleingang befindet. Aber es müssen mindestens drei Personen gewesen sein.
Zum Glück hatte ihm jener gerade den Rücken zugekehrt, sonst hätte er Ernst gesehen. Er war unvorsichtig gewesen, aber die Eile hatte es geboten.
Wahrscheinlich wollten die Flüchtenden so ihre Flucht absichern. Einer ging voraus, der andere blieb vorerst zurück.
Das vermutete Ernst. Woher sollte er wissen, dass die beiden eigentlich nur deshalb Mann für Mann vorgingen, weil vielleicht der Tunnel irgendwie von der Polizei nicht besetzt, aber überwacht oder sonst wie kontrolliert wurde?
Der mit der Waffe musste vorangehen. Natürlich die Geisel im Schlepptau.
„Will sie türmen, töte ich sie mit einem Schuss! Türmt sie bei dir, dann hat sie eine Chance.“
Das überzeugte.
Also wartete Bully außerhalb des Tunnel auf das Freizeichen.
Sollte Ernst ihn sich kaschen?
Mit einem würde er schon fertig werden ...
Das war die erste Nagelprobe.
'MIT DEN HERAUSFORDERUNGEN WÄCHST MAN IM AMT!'
Er zog die Schirmmütze tiefer ins Gesicht, senkte den Kopf und ging im Laufschritt, als würde er joggen. Er blieb stehen, ging in die Knie, breitete die Arme aus, fuchtelte mit den Händen, zog die Arme wieder ein, ließ sie vor dem Oberkörper baumeln, während er jetzt langsam den Kopf wieder hob und sich der Zielperson näherte.
Der Widerpart war verschwunden!
Mensch, da stand niemand mehr – er hatte sich bei Joggen ganz auf seinen Körper konzentriert und nicht nach vorne geschaut.
'NACHTIGALL ICH HÖR DIR TRAPSEN!'
Aber da war wirklich niemand mehr, weder vor dem Tunnel noch im Gebüsch.
Natürlich war der Mann jetzt auch im Tunnel, wenn nicht schon am anderen Ende wieder heraus.
Zögernd näherte er sich dem großes, schwarzen Loch, dem Eingang des Durchlaufs.
Was erwartete ihn dort? Ein Verfolgter mit einer Knarre in der Hand?
'MENSCH, SEI NICHT ZÖGERLICH, SONST VERPASST DU DEN ABSPRUNG!
Augen zu und durch!'
Und schon bückte er sich mit seinen190 cm Körpergröße und verschwand in dem röhrenförmigen Tunnel. Dort rutschte er auf etwas aus, das ein Polizist am Vortag zurückgelassen hatte und versuchte vergeblich, sich mit den Händen abzufangen. Doch er fand an den gewölbten Wänden keinen Halt und rutschte ab. Als er auf dem Boden aufschlug, griff er nach etwas Klebrigem, das er sich, auf dem Hosenboden sitzend, entsetzt vor die Augen hielt. Angewidert von dem penetranten Gestank sprang er schnell auf, schüttelte heftig die Hände, so dass das schmutzige Papier abblätterte, nicht jedoch die braune Substanz daran. Er rannte wieder los, rutschte auf dem feuchten Unrat aus, konnte sich aber wieder fangen und erreichte glücklich das Ende des Tunnels.
Draußen sah er das Weiß und das Braun an seinen Schuhsohlen.
Er wischte die pappigen Fremdkörper an einem Busch ab und stürmte los wie ein humpelnder Hüftgeschädigter, ein verletzter Spitzensportler oder ein erschöpfter Marathonläufer. Er spürte die Kraft, die Energie, aber jetzt auch den Schmerz, den er sofort unterdrückte, indem er die Lippen zusammenpresste. Der einzige Weg nach dem Tunnel, war links in Serpentinen einen schmalen, steilen Waldweg hinauf. Auf diesem stolperte er, prallte gegen eine dicke, hervorstehende Kiefernwurzel, stürzte, verletzte sich aber nicht ernsthaft und kroch noch wie ein Schimpanse auf allen Vieren weiter. Das war ein beeindruckende Leistung, diesen steilen Hang hinaufzuklettern.
Dann stand er an einer Weggabelung.
Er blickte in zwei Richtungen.
Sah in der Ferne einen tanzenden gelbgrauen Farbfleck, einen Anorak, eine Kleidungsfarbe, jemanden, höchstwahrscheinlich einen Flüchtling.
Los, schnell aufschließen, aber in sicherer Entfernung bleiben.
Er erkannte drei Personen. Wer waren sie?
Eine Person war weiblich.
Mit einer Frau als Bösewicht hatte er nicht gerechnet.
Aber umso mehr musste er auf der Hut sein, niemanden unterschätzen, auch keine Frau. Jeder konnte gefährlich sein. Ob die Geiselnehmer, diese Frau und der Dritte, seinen Bruder als Geisel hielten? Ob der Dritte überhaupt sein Bruder war?
Egal, diese zwei oder drei, wie auch immer, überwältigen, übertölpeln, unschädlich machen. Irgendwie. Wenn der Dritte sein Bruder war, brauchte er nur zwei Gegner außer Gefecht setzen. Das war schon mal gut. Auf seine Hilfe konnte er dabei nicht rechnen, wahrscheinlich war er gefesselt und behindert.
Wenn man das nur genau wüsste! Wie sollte man sich da einen Überblick verschaffen?
Dafür war es ohnehin bald zu spät. Die drei näherten sich jetzt dem Parkplatz. Sobald sie das Cabrio erreicht hatten, war die Chance vertan.
SCHLECHTE KARTEN, MEIN GUTER!
In seinem Kopf drehte sich alles. Was tun? Was tun? Was?
Nein, die Chance, hier und jetzt noch jemanden zu überlisten, war zu gering. Leider. Also entschied er sich, in seinem Überwachungsfahrzeug Schutz zu finden und damit den flüchtenden Mercedes Benz zu verfolgen.
Hoffentlich war der Wagen schnell genug. Hoffentlich soff er ihm nicht ab. Alt genug war er. Obwohl er vom Werkstattmeister seiner Firma gründlich durchgecheckt und auf Vordermann gebracht worden war, Öl, Luftfilter und Bremsflüssigkeit erneuert, traute er diesem nicht. Außerdem, drückten die mit ihrem Mercedes Benz auf die Tube, dann hatte er das Nachsehen. Da brauchte er sich keinen Illusionen hingeben.
Sein Atem ging mühsam und schwer, sein Herz schlug schnell und hart, ihm war plötzlich übel.
Der Motor sprang mit einem leisen Knattern an, er legte den Gang ein, ließ die Kupplung kommen, gab Gas und der Wagen rollte los. Mit einem Mal fühlte er sich wieder beschwingt wie der Frühlingswind.
Mensch, wo sind meine Pillen? Dort, wo sie immer sind und sein müssen; dumm, hab's ins Handfach gelegt, wo sie liegen würden, wenn's das gewohnte Fahrzeug wäre, aber ist ja nicht - was, wenn diese Verfolgungsjagd länger dauert? Wie reagier ich darauf? Körper, Psyche, Geist? Bedeutet, ich muss so bald wie möglich zuschlagen.
Verflixt, ich hab sie auf dem Armaturenbrett liegen, richtig.
Ist während der Fahrt nicht einfach aufzukriegen. Man muss sich auf den Lenker stützen, darauf achten, was im linken Blickfeld geschieht und mit dem rechten Auge das Öffnen der Schachtel überwachen. In den Händen halte ich die Schachtel, aber ich seh am Blickrand nur etwas Weißes davon. Dann muss ich mich halt auf meinen Tastsinn verlassen, zerfix, dann geht's schon.
Genau, darin müssten die Bedarfstabletten sein!
Greifen geht ja noch, aber wie sie öffnen, ohne hinschauen zu müssen? Die Papierschachtel aufreißen, den Streifen mit Pillen rausziehen und – ja, egal, die Schachtel kann ruhig auf den Boden fallen, nur nicht die Pillen. Die Folie jetzt mithilfe Daumen und Zeigefinger aufreißen!
Aber hoppla, immer auf den Verkehr achten, lieber Ernst. So!
Ach, das geht gut? Besser als gedacht!
So und jetzt hau sie dir rein und am besten in einem Zug runterschlucken, weil die ganz schön bitter sind. Und die nächste Schachtel. Läuft ja wie geschmiert.
So, aber verflixt, eine ist daneben gefallen, hoffentlich nicht die gegen den zu hohen Blutdruck. Ich kann jetzt auf den Boden gucken, zu gefährlich, muss immer auf den Verkehr achten. Na hoffentlich schießt mein Blutdruck nicht durch die Decke ohne Pillen, kann man nur hoffen!
Regen, Regen, Regen, und jetzt beschlägt's auch noch die Scheibe.
Dadurch muss ich näher ranfahren. Aber egal, die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden in diesem , ist gering.
Mist, ich bin zu dicht aufgefahren, nur gut, dass ich gebremst hab, leider auch gleichzeitig wieder aufs Gaspedal gedrückt. Hoffentlich haben die vorne nicht das aufheulende Motorengeräusch gehört!
Nein, drehen nicht den Kopf um. Glück gehabt!
Jetzt bräuchte ich mein Scheibenwischer-Leder, da könnt ich den Glasbeschlag abwischen, so aber reib und reib ich mit dem Oberarm, dass er mir schon schmerzt. Das ist richtig gefährlich, weil ich mich nicht so gut aufn Verkehr konzentrieren kann. Warum beschlägt die Scheibe? Schwitz ich etwa? Hoher Blutdruck? Ja, ich schwitz, verdammt. Hoffentlich hält das meine Konstitution aus, sonst – auweh! Kind den Bauch runter ...
Oh, ich hör da so ein Rascheln und Pfeifen. Im Gebläse? Gestern wurde doch der Luftfilter gewechselt. Was kann das sein? Ölwechsel auch, spielt hier aber keine Rolle. Der alte Motor wird einiges ertragen müssen bei dieser Verfolgungsfahrt, aber ist gut überholt, wie mir der Werkstattmeister versichert hat. Und die Bremsen? Na, gerade vorhin, da haben die Bremsen noch gefunzt, wunderbar ... Bremsen sind ultrawichtig.
Ich fixiere meinen Blick ganz stark durch die angeschlagene Frontscheibe, um zu erkennen, wer die Person im Cabriohintersitz ist. - Scheint sich um eine Frau zu handeln, eigenartig, dort sollte doch der Entführte, also mein Bruder sitzen? Demnach wär diese Frau auch eine Geisel. Aber wo ist mein Bruderherz? Aber vielleicht bedroht ihn die Frau von hinten mit einer Pistole an der Schläfe? Mehr waren es nicht, mehr als drei habe ich doch nicht gesehen, als ich sie am Parkplatz sah!? Oder wo sonst ist Brüderchen?
Irgendetwas vibriert hier. Ach so, das klingelnde Handy in meiner Hosentasche. Soll ich's während der Fahrt rausfischen? Bestimmt mein Neffe! Lieber nicht, ich muss mich auf die Straße konzentrieren, sonst springt mir der Erfolg noch von der Schippe...
Berlin!!!
Berlin wartet auf mich! Wie lang wird die Entführung dauern? Ausgerechnet jetzt, kurz vor dem Ziel. Aber es ist 'ne Chance, diese Ergreifung der Entführer, wahrscheinlich hilft sie mir, meine zweite Chance zu nutzen: Bundespräsident zu werden.
Bundespräsident!!!
Jetzt kandidiert jeder in meiner Partei um die Nachfolge, um zur Wahl des Präsidentenamtes nominiert zu werden, Mann o Mann. Da zählt jeder Tag, wo ich in die Hauptstadt komm, heiliger Birnbaum! Wenn ich da den Termin verpass, was für eine historische, nationale Katastrophe, nicht auszudenken. So entscheiden Zufälle, Glücksfälle oder Pechsträhnen Einzelner über das Schicksal ganzer Nationen, Völkern und Kontinente.
Die Geschichte lehrt uns dies, jawohl!
Aber aufpassen!
Ist da vorne nicht eine Ampel? Fahre näher ran, schließe auf, damit ich noch bei Gelb über die Ampel komm. Denk nicht an einen Unfall! Alles wird gut! Ich schaff's!
Dies hier und die Aufstellung zur Präsidentenwahl!
Wäre noch schöner! Gelacht wäre das! Ha!!!
Ich schwimme durch jeden Fluss der BRD – als gewählter Bundespräsident. Zuerst den Vater Rhein. Dann mit der Mutter, heißt das so?, mit der Donau. Der Rhein, die Donau, also richtig! Aber nicht den Rheindurchbruch, nein, ich meine den Rheinfall bei Schaffhausen, das ist natürlich zu gefährlich. Ich lasse mich vielleicht dort abseilen und so, total spektakulär! Oder soll ich gleich Bungee-Springen machen? Nein, das ist zu undeutsch!
Also, wenn ich mir die Pressemitteilung vorstell: Präsident überwindet den Rheinfall, oder PRÄSIDENT ERNST MEISTERT LOCKER DEN RHEINFALL. Das klingt schon phänomenal. Oder: UNSER PRÄSIDENT DURCHSCHWIMMT DEN RHEIN BEI SCHAFFHAUSEN. Da denkt man, der Präsident hat den Rheinfall eigenhändig überwunden - ha, ha. Das steigert die Auflagen, so 'ne Halbwahrheits-Verkündigung, weiß man ja!
Jedenfalls, würde diese Tat über alle Grenzen hinweg und bis in allen Ecken und Winkeln der Erde hinein Aufsehen sorgen, wie einst der große chinesische Parteiführer und Staatspräsident Mao-Tse-Tung im Meer schwamm und dieses Bild die ganze Welt eroberte.
Wo sind sie jetzt?
Sind sie mir entwischt?
Ernst, du musst besser aufpassen!
Schnell aufs Pedal getreten. Ich überhol den PKW, ah ja, geschafft, ha, heute gelingt mir einfach alles, das ist mein Tag, jetzt ist's klar! Kein Blinken des Gegenverkehrs, kein Hupen, es läuft einfach wie geschmiert. Und da sind sie ja, so ist's gut – jepp! Ich hab sie wieder.
Ein Bundespräsident muss ein Programm haben, auf das sein Volk mit Bewunderung schaut und so wird mein erster Programmpunkt sein, alle Flüsse unseres Landes zu durchschwimmen. Dazu muss ich mich gut beraten lassen, was Impfung gegen Verschmutzung angeht, ich bin ja so anfällig für Krankheiten. Und auch an meine Tabletten muss gedacht werden. Aber im Allgemeinen darf der Präsident nur die Flussstellen durchschwimmen, die a) am wenigsten gefählich sind und b) am wenigsten verschmtzt. Dieser Aspekt der Auswahl darf natürlich nicht an die Öffentlichkeit dringen, weil das ein schlechtes Licht auf die heimischen Flüsse wirft.
Das muss man sich immer vor Augen halten: Nur das Positive darf öffentlich werden, nie das Negative.
Uns geht’s gut, unser Land ist super in Schuss, vergiss die Öko-Nörgler und ...
Grr...
Oh Mann, diese Bremsen, die könnte der Chef auch mal austauschen lassen.
Wo fahren die überhaupt hin? Zum Flughafen? Dann müssten sie nach Nürnberg fahren. Hm. Kann sein. Oder nach München. Oder Neumarkt in der Oberpfalz ...
Jetzt geht’s wieder los, jetzt kuppeln, jetzt ...
Ich bin fit für die Herausforderungen des Präsidentenamtes: Ich kann jeden Fluss durchqueren, bei uns gibt es ja keinen Mississippi, Amazonas, Yangtse, Sambesi, der ist in Afrika, oder den Nil, der auch, jedenfalls, die sind so breit, dass mir die Puste ausgeht. Klarm mein regelmäßes Langlaufen, Krafttraining und Schwimmen hat schon was gebracht und zahlt sich dann aus. Aber ich müsste noch viel, viel fitter werden. Neulich hatte ich wieder einmal Glück, dass ich nicht abgesoffen bin, als ich in der Bugwelle des verbeischippernden Tankers durchgeschüttelt worden bin und der Kapitän an Deck vielleicht gebrüllt hat: „Bist du verrückt? Was suchst hier? Ein Kanal ist kein Freibad, Mann!“ Hatte mehr Angst als unsereiner, dass ich ersauf. Und neulich an der Schleuse, da hätt mich doch glatt ein starker Song hinuntergezogen, wo ich ganz schön geschreddert und gedrecht worden wär.
Brrrrr...
Warum halten die auf dem Parkplatz vom Discounter?
Noch ist meine Ampel rot.
Wo soll ich denn jetzt halten?
Ah, ich seh's! Stell den Wagen dort da rechts ab, keine zehn Meter von den anderen weg, hinter dem großen Laster, dann sehen die mich nicht. Dann warten, bis sie weiterfahren und weit genug weg sind, um sich dann wieder unbemerkt an ihre Fersen zu heften.
Aber was haben die, was machen die? Die Ampel ist jetzt grün, aber ich seh, sie fahren wieder aus dem Parkplatz heraus und wieder in die Hauptstraße hinein, um so besser, da kann ich ihnen wieder locker vom Hocker folgen wie der Hund dem Herrn, ha!
Wie schön!
Mann fahr schneller! Gar nicht so einfach, sich wieder in den fließenden Verkehr einzufädeln. Die Leute sind heute so egoistisch, die lassen niemanden vorbei.
Los!
Ha, läuft ja wie geschmiert.
Die fahren bestimmt auf die Autobahn.
Hab ich's nicht gesagt? Aber trotzdem, könnten ja irgendwo in den Wald abbiegen... Hm. Aber jetzt geht's erst mal, wie's aussieht, geradeaus, so dass ich mein Handy ausschalte..n...könnte.
Hm, vielleicht doch nicht Handy ausschalten, wenn mir was passiert, sieht's schlecht aus mit der Erreichbarkeit; stell dir vor, ich komme vom Fahrweg ab, rase in so ein Maisfeld rein, überschlage mich, bin verletzt, geh- und bewegungsbehindert, dann sieht's nicht rosig aus.
Nee, Handy muss sein!
Denk positiv!
Am Ball bleiben. Bleib bei der Stange.
Du gewinnst! Der Sieg ist dir sicher! Die Party wird steigen!
So, jetzt geht’s s an der Autobahn vorbei. Sieh einer guck, die fahren auf der Bundesstraße in die tiefste Oberpfalz rein. Ist besser wie auf der Autobahn, da ist schon so mancher Unfall passiert beim Anhalten von Verdächtigen, obwohl da weniger Leute um einem herum sind, da würde so ein Polizeiüberfall leichter von der Hand gehen, weil weniger aufsehenerregend … Aber in so einer Stein-, Sand-, Wald- und Einödwüste wie in der Oberpfalz hinwiederum … Hm, ist auch nicht überall so dort, gibt viel Kiefernwald, aber wenn die sich ablegen zum Schlafen, dann könnt man sich anschleichen und einen nach dem anderen außer Gefecht setzen – man wird sehen.
Jetzt einen größeren Abstand halten, ein Verfolger ist auffälliger wenn weniger Verkehr ist, aber i ch muss so nah dran bleiben, dass ich sehen kann, wo sie hinfahren. Zum Beispiel, wenn sie plötzlich in einen Feldweg abbiegen.
Verdammt, jetzt duscht es aus allen Kübeln, ich sehe kaum etwas. Ich schalte das Licht an und fahre näher ran. Und jetzt fahren die links in eine asphaltieren Feldweg, nach Heubeck oder wie das Kaff heißt, und da können sie sich nicht verstecken, da fahren sie vielleicht weiter. Hinter mir ist ein Auto. Ist der verrückt bei dem Sauwetter zu überholen. Aber bitte schön, selbst sollst du der Meister deines Todes sein – deutsche Freiheit!
Unbegrenzte Fahrgeschwindigkeit auf allen Straßen und Autobahnen, da müsste ich auch mal ein Gesetz machen, was ich als Präsident aber leider nicht machen könnt, der Präsident segnet nur die Gesetze ab. Aber vielleicht ist der doch berechtigt, selbst solche Gesetze anzustoßen, mal sehen.
Mensch, wenn es doch endlich so weit wäre!
Aber Heiliger Antonius, bitt für uns Sünder, jetzt fahren die glatt in den Seeplatz. Ob sie bei dieser Regendusche im Terrassenrestaurant Schutz suchen? Geld haben sie jetzt genug, diese Saubackenpeter.
Sie steigen aus, die Frau bleibt im Auto, aha!
Heißt das, die Frau ist die Entführte? Oder steht sie Schmiere? Sicher nicht, sie ist eine Entführte. Mit einer Geisel zeigen sich diese Schlawiner nicht in der Öffentlichkeit. Interessant! Ich schau sie mir an, wenn die anderen weit weg sind.
Nen Regenschirm wär nicht schlecht.
Hab ich.
Und noch ein Aqua Mineralwasser mitnehmen.
Aber die Idee, die mir gerade kommt! Genial! Messer, wo bist du? Denen lass ich jetzt ein bisschen die Luft raus, damit sie nicht mehr so leicht entkommen können. Ha – dann sitzen sie in der Falle, in der Mause-, Mausefalle, huhu!
So, jetzt geh ich mal hin, und auweh, die Frau ist gefesselt und geknebelt, aber noch bei Bewusstsein, so wie die mich durch die Fensterscheibe anglotzt.
„Ich komm später wieder!“
Ob die mich da drinnen hört?
Ich klopfe an die Scheibe. Sie nickt. Gut, dann hat sie mich gehört.
Wo sind die anderen?
Dort drüben!
Zurückbleiben! Nicht verfolgen! Noch nicht.
Zuerst in die Reifen stechen. Aber aufpassen, dass die entweichende Luft nicht explodiert und mich umhaut. Das hat schon manchen aus den Socken gehauen.
Der erste Streich, ha!
Und der zweite folgt sogleich.
Der dritte und der vierte jetzt!
Und den dreien!
Man sieht sie noch. Die gehen, ich hab's ja, ins Restaurant, machen sich ein leichtes Leben, ist ja klar! Andererseits, bei dem Wetter, wohin sonst?
Wenn ich denen hinterherlaufe, was mach ich da, weil, ich hab kein Geld dabei, merke ich jetzt. Aber immerhin, ich kann mich ja auf die überdachte Terrasse setzen, oder? Die werden mich nicht gleich verjagen, wenn's so regnet!
Und da sitzen sie.
Und wohin mir mir? Kaum Platz, dicht gedrängt, aber ein freies Plätzchen ist da. Dann man zu. Über die beiden Holztreppe, auf das Podest, wo so viele Holzstühle und Rattantische stehen.
„Darf ich?“
„Natürlich!“
„Danke!“
„Saumäßiges Wetter!“
Nicken, aber nichts sagen. Passt mir ins Konzept, 'spart mir zu reden, konzentriere mich lieber auf die beiden Typen. Die schweigen und schauen sich bloß misstrauisch um sich.
Wenn ich an ihrer Stelle wäre, hätte ich weiß Gott Grund genug dazu!
Die Getränkekarte! Aha, aber gesalzene Preise haben die schon. Hoffentlich kommt keiner. Tresenverkauf haben die glücklicherweise, wie ich durchs Panoramfenster sehen kann. Da steht's auch noch unübersehbar auf dem Schild. Das ist schon ein bisschen groß geraten. Die müssen es scheinbar nötig haben.
Aber Umsatz muss sein, stimmt schon!
Ich kann leider dazu nichts beitragen.
Hoffentlich kommt niemand!
Aber, nanu! Achtsamkeit ist geboten! Die Stunde der Wahrheit naht!
DAS SCHICKSAL DER NATION SCHLÄGT!
Die Sternstunde meines Lebens!
Es durfte keine Zeit verloren gehen, die Koffer mussten gepackt und spätestens morgen losgefahren werden. Bis dahin sind bestimmt schon die Polizisten aus dem Kloaken- und Kotztunnel befreit worden. Dir Folge wird sein, das Streifen pausenlos um die Blocks herumfahren, da vermutet wird, dass der Flüchtling in der Nähe wohnt. Und das stimmt ja auch. Bei ihrer Flucht war also höchste Vorsicht geboten, nicht aufzufallen und den Bullen in die Hände zu geraten.
Also Flucht – war ja klar! So bald wie möglich!
„Ewig können wir nicht in der Mausefalle schmoren!“
„Was, sind wir Mäuse oder was?“
„Äh, schon gut. Auf gut Deutsch: Was sollen wir tun?“
Sie konnten einen Flug buchen. Last-Minute-Flug. Und so hatten sie bis dahin: 24 Stunden. Zeit zum Planen und für Zwist. Aber zunächst einmal saßen sie zugedröhnt vor der Glotze, während in ihrem Innern ein ganz anderer Film ablief.
Jetzt, wo es der Abflug, der Abschied von hier, immer näher wurde, wuchs in ihnen ein mulmiges Gefühl im Magen. Sie würden ihren angestammten Platz, ihre Stadt, ihr Land verlassen – vielleicht für immer. Und zu allem Übel lief auch noch jetzt ein Film im Fernsehen, der diese Ungewissheit, dieses Gefühl der Unsicherheit, kurzum diesem Streufeuer Öl hineinschüttete.
Es lief ein Dokumentarfilm über die englischen Zugräuber, die in den 60iger Jahren einen einzigen langen Zug generalsstabsmäßig überfallen hatten und mit dem Geld ungehindert ins Ausland fliehen konnten.
Diese Engländer!
Und mit der ganzen riesigen Beute, hunderte von Geldsäcken mit Blüten ungehindert ab nach Übersee. Ohne von den Behörden erwischt zu werden. Und dort führten sie sorgenfreies Leben in Luxus und Freiheit.
Dann das Interview mit dem Kopf der Geldräuber. In einer Kneipe in Lateinamerika. Umringt von vielen kleinen, süßen Schnecken. Er mit einem Que am Billardtisch und plötzlich schaut er, aus dem schmutzigen Fenster der Spelunke, aus dem Fenster in die Ferne. Der Reporter hat ihn gefragt, ob er sich nicht manchmal nach dem good old England sehnt.
„Doch jeden Tag. Klar, das Leben hier ist bequem. Aber ich habe es mittlerweile satt. Leider kann ich aber nicht mehr zurück in meine Heimat, England. Die englische Lebensart und alles Drumherum, die Sprache, London, oh nein! Sie verstehen, das fehlt mir schon sehr!“
Das klang deprimiert und deprimierend.
Sie dachten daran, wie sie sich fühlen würden, nach ein paar Jahren in Tailand oder welchem Touristenparadies auch immer. Dabei sprachen sie keine Tailändisch, geschweige nicht einmal Englisch. Und Deutsch wird wohl kaum gesprochen. Sie würden sich mit der Zeit fremd vorkomimen. Und dann, dann würden sie auch nach einiger Zeit zurück nach Hause sehnen? Und würden niemals zurückkönnen! Das war schmerzhaft klar.
12 Stunden noch
Der Flug war für zwei Personen. Für drei wohl kaum. Sicher, eine Geisel musste zur Sicherheit bis zum Flughafen mitgenommen werden. Aber fliegen würden nur er und Bully.
Es musste entschieden werden, wer mitkommen würde. Bully votierte für die Krankenschwester – natürlich; Blondy für den Mediziner. Für wen sprach was?
„Hast wohl Geschmack an dieser Schwester gefunden?“
„Red kein Blech!“
„Ist schon gut. - Der Arzt hat aber den höchsten Preis.“
„Wie?“
„Schleppen wir aber die Krankenschwester mit und die Polizei findet den Arzt hier vor, ist unser Faustpfand … hm ...“
„Was?“
„Unser Druckmittel flöten gegangen, meinst nicht? Warum wohl?“
„Tja... Aber klar, hast Recht, das Lösegeld ist schon gezahlt. Der Mediziner ist uns keinen Pfifferling mehr wert!“
„Pfifferling?“
Bully wiederholte „Pfifferling“ und dachte darüber nach: „Ist das nicht ein Pilz. Ein kleiner, gelber, den man im Wald findet und mit Eiern, Speck und Nudeln essen kann? - Was hat ein Pilz mit Lösegeld z u tun? - Na klar, weil es ums Essen geht. Pfifferlinge schmecken so gut wie Lösegeld gut ist. - Muss ich mir merken. Etwas ist keinen, keinen Pfifferling mehr wert.“
„Wenn die Tussi mitkommt...“ Blondy versuchte sich in Bully hineinzuversetzen. „... ach, ich versteh! Das hättest du wohl gern! Du möchtest, dass ich dir zustimme. Die Krankenschwester kommt mit. Das wäre Wasser auf deine Mühlen!“
Was Bully jetzt überhaupt nicht verstand.
„Was, was. Wasser? Und was für Mühlen?“
„Hä!“
„Habe ich eine Mühle oder so was? Bin ich ein verdammter Holländer, oder was?“ Bully war kurz davor, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, sprich seiner Wut über diesen kryptischen Schwätzer Luft zu verschaffen.
Es hätte noch explosiver wernden können, wenn Blondy ausgesprochen hätte, was er dachte: „Dir geht’s doch nur ums Ficken!“Um Sex wäre es ihm beim Arzt auch gegangen, aber das hätte er natürlich niemals zugegeben.
Stattdessen machte er vage Anspielungen in eine andere Richtung: „Ja ja, so eine Sexsklavin … „
„Wie meinen?“
Blondy schwieg lieber, bevor er sich eine Watschen einfing. Dann schmollte er. Er fühlte sich wieder einmal abgehängt und benachteiligt.
Vor seinem inneren Auge lief folgender Film ab: Sie fuhren über die ebenen, gut ausgebauten Straßen. Die Karre rumpelte und schunkelte nur so. Während er sich mit dem Lenken des Cabrios abmühte, befand sich Bully mit der Schwester hinten im Fond …
Das Bier floss an diesem Abend in Strömen und Blondy ließ nicht locker.
„Überleg mal, wenn uns etwas zustößt. Ein Unfall, ein Reh, das uns ins Auto läuft, irgendetwas Unvorhergesehenes geschieht. Wie könnte uns dann der Arzt helfen, uns nämlich verarzten … “
„Was soll uns schon zustoßen? Ein Reh! Das ich nicht lache. Da muss du schon mit etwas besseren kommen.“
„Na gut, ein Querschläger von einem Pistolenschuss ...“
„... aus der Waffe eines Polizisten ....“
„... du sagst es …“
Bully wurde misstrauisch und fragte: „Sag mal, warum hast du an dem Arzt solch einen Narren gefressen.“ Bully hatte diesen Ausdruck schon gelernt und verwendete ihn gern zielsicher. Das Misstrauen Bullys ging zu weit. Wenn er den Stab für den Arzt weiter bricht, würde er sich verraten.
Am Ende entschied wieder einmal Bully, Argumente hin oder her. Die Schwester kommt mit, basta!
Die Frage blieb: Was wird mit dem Arzt gemacht? Es wäre vernünftig gewesen, ihn zu töten, um Spuren zu verwischen, Zeugen zu beseitigen. Es musste seine guten Gründe geben, dass man so im kriminellen Milieu vorging? Aber sie gehörten nicht dazu. Sie waren bedürftige Menschen in Not, die es als ihr gutes Recht ansahen, sich bei den Reichen und Wohlhabenden (Geldsäcken) zu bedienen, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Nachdem es so gekommen ist, wie es gekommen ist. Eins aufs andere.
Sie konnten es jedoch nicht über sich bringen, sozial und menschlich wie sie waren, dem Arzt die Gnadenkugel zu geben. Neben ihrem sozialen Gewissen spielte dabei auch eine gewisse Rolle ihre Spielernatur, die ihnen sagte: Lass geschehen, was geschehen muss, aus, fertig, Amen. Sie beschlossen, den Doktor seinem Schicksal zu überlassen. Wenn er entdeckt würde, bevor er verhungerte, wäre es gut für ihn. Es wäre schlecht für sie, die Entführer, aber – die Polizei würde den Tatort früher oder später sowieso ausfindig machen - hoffentlich nicht zu früh! Sie hofften, dass sie in der Luft waren, bevor dies geschah.
Damit war alles geklärt.
19. Adlerauge verfolgt Dich!
Ernst hatte es die ganze Nacht hinter den Büschen nicht durchgehalten. Dies wäre auch zu übermenschlich gewesen. Er hatte sich schließlich durch den Tunnel, den Büschen und Bäumen zu seinem Lieferwagen durchgeschlagen. Das war nur in der Nacht möglich, weil er sich als Schüler in den Pausen, Frei- und Leerstunden hier die Zeit vertrieben hatte. Seine Digitaluhr hatte ihn rechtzeitig zur Morgendämmerung geweckt und nun stand er in Startposition, sozusagen in der günstigen Poolposition.
Es konnte losgehen.
Er saß wie auf glühenden Kohlen, obwohl er das Gefühl hatte, sein Allerwertester wäre auf Grundeis gestoßen, so fühlte er sich selbst körperlich an und besonders an jener Stelle. Aber dazu kamen auch noch Knochen und Gelenkschmerzen an der Seite, am Oberarm und Oberschenkel, auf denen er sich Schlaf hin- und hergewendet hatte. Auf einer Holzbank im Bus zu schlafen war ziemlich unbequem gewesen. Aber was für ein starker Kerl er doch war! Er hätte nie gedacht, dass in ihm solche Willenskräfte schlummerten!
Wie Marc Aurel, der den berühmten Satz geprägt hat: Erkenne dich selbst! Dieser hatte die Angewohnheit gehabt, auf nacktem Boden zu schlafen, obwohl er es nicht nötig gehabt hat als römischer Kaiser und Heerführer. Wie dieser opferte er sich gehorsam den widrigen Umständen, um später als Bundespräsident auch seinem Volk zu dienen. Hatte er dies erreicht, hatte er den Nachweis erbracht, dass er dazu fähig ist, selbst Befehle und Ratschläge auszuteilen.
Wie hieß es stets beim Militär: Wer gehorchen kann, kann auch befehlen!
Er spürte Rückenschmerzen. Kein Wunder, er hatte auch wie dieser Heros aus der antiken Zeit auf krudem, harten Untersatz geschlafen, auf einem blechernen des Transporters. Er hatte nur ein paar dünne Decken als Auflage zum Blech gehabt.
So fühlte es sich also an, wenn man nach Großem strebt.
Nervös ruckelte er seinen schmerzenden Körper hin und her. Es half nichts, denn dadurch spürte er weitere Stiche in sämtlichen Knochen. Er wollte schon aufstehen, um ein paar Dehnübungen zu machen, als er sah, dass zwei oder drei Fremde aus dem Haus eilten, an ihm vorbei und er duckte sich schnell weiter hinter dem Busch. Durch die Zweige sah er die paar Personen, wie sie sich schnell entfernten.
Wie viele sind es?
Es war zu schnell gegangen.
Er wagte es, einen Schritt aus dem Gebüsch zu machen, um die Flüchtenden besser sehen zu können. Doch er erblickte nur einen Mann, der dort 100 Meter entfernt stand, wo sich der Tunneleingang befindet. Aber es müssen mindestens drei Personen gewesen sein.
Zum Glück hatte ihm jener gerade den Rücken zugekehrt, sonst hätte er Ernst gesehen. Er war unvorsichtig gewesen, aber die Eile hatte es geboten.
Wahrscheinlich wollten die Flüchtenden so ihre Flucht absichern. Einer ging voraus, der andere blieb vorerst zurück.
Das vermutete Ernst. Woher sollte er wissen, dass die beiden eigentlich nur deshalb Mann für Mann vorgingen, weil vielleicht der Tunnel irgendwie von der Polizei nicht besetzt, aber überwacht oder sonst wie kontrolliert wurde?
Der mit der Waffe musste vorangehen. Natürlich die Geisel im Schlepptau.
„Will sie türmen, töte ich sie mit einem Schuss! Türmt sie bei dir, dann hat sie eine Chance.“
Das überzeugte.
Also wartete Bully außerhalb des Tunnel auf das Freizeichen.
Sollte Ernst ihn sich kaschen?
Mit einem würde er schon fertig werden ...
Das war die erste Nagelprobe.
'MIT DEN HERAUSFORDERUNGEN WÄCHST MAN IM AMT!'
Er zog die Schirmmütze tiefer ins Gesicht, senkte den Kopf und ging im Laufschritt, als würde er joggen. Er blieb stehen, ging in die Knie, breitete die Arme aus, fuchtelte mit den Händen, zog die Arme wieder ein, ließ sie vor dem Oberkörper baumeln, während er jetzt langsam den Kopf wieder hob und sich der Zielperson näherte.
Der Widerpart war verschwunden!
Mensch, da stand niemand mehr – er hatte sich bei Joggen ganz auf seinen Körper konzentriert und nicht nach vorne geschaut.
'NACHTIGALL ICH HÖR DIR TRAPSEN!'
Aber da war wirklich niemand mehr, weder vor dem Tunnel noch im Gebüsch.
Natürlich war der Mann jetzt auch im Tunnel, wenn nicht schon am anderen Ende wieder heraus.
Zögernd näherte er sich dem großes, schwarzen Loch, dem Eingang des Durchlaufs.
Was erwartete ihn dort? Ein Verfolgter mit einer Knarre in der Hand?
'MENSCH, SEI NICHT ZÖGERLICH, SONST VERPASST DU DEN ABSPRUNG!
Augen zu und durch!'
Und schon bückte er sich mit seinen190 cm Körpergröße und verschwand in dem röhrenförmigen Tunnel. Dort rutschte er auf etwas aus, das ein Polizist am Vortag zurückgelassen hatte und versuchte vergeblich, sich mit den Händen abzufangen. Doch er fand an den gewölbten Wänden keinen Halt und rutschte ab. Als er auf dem Boden aufschlug, griff er nach etwas Klebrigem, das er sich, auf dem Hosenboden sitzend, entsetzt vor die Augen hielt. Angewidert von dem penetranten Gestank sprang er schnell auf, schüttelte heftig die Hände, so dass das schmutzige Papier abblätterte, nicht jedoch die braune Substanz daran. Er rannte wieder los, rutschte auf dem feuchten Unrat aus, konnte sich aber wieder fangen und erreichte glücklich das Ende des Tunnels.
Draußen sah er das Weiß und das Braun an seinen Schuhsohlen.
Er wischte die pappigen Fremdkörper an einem Busch ab und stürmte los wie ein humpelnder Hüftgeschädigter, ein verletzter Spitzensportler oder ein erschöpfter Marathonläufer. Er spürte die Kraft, die Energie, aber jetzt auch den Schmerz, den er sofort unterdrückte, indem er die Lippen zusammenpresste. Der einzige Weg nach dem Tunnel, war links in Serpentinen einen schmalen, steilen Waldweg hinauf. Auf diesem stolperte er, prallte gegen eine dicke, hervorstehende Kiefernwurzel, stürzte, verletzte sich aber nicht ernsthaft und kroch noch wie ein Schimpanse auf allen Vieren weiter. Das war ein beeindruckende Leistung, diesen steilen Hang hinaufzuklettern.
Dann stand er an einer Weggabelung.
Er blickte in zwei Richtungen.
Sah in der Ferne einen tanzenden gelbgrauen Farbfleck, einen Anorak, eine Kleidungsfarbe, jemanden, höchstwahrscheinlich einen Flüchtling.
Los, schnell aufschließen, aber in sicherer Entfernung bleiben.
Er erkannte drei Personen. Wer waren sie?
Eine Person war weiblich.
Mit einer Frau als Bösewicht hatte er nicht gerechnet.
Aber umso mehr musste er auf der Hut sein, niemanden unterschätzen, auch keine Frau. Jeder konnte gefährlich sein. Ob die Geiselnehmer, diese Frau und der Dritte, seinen Bruder als Geisel hielten? Ob der Dritte überhaupt sein Bruder war?
Egal, diese zwei oder drei, wie auch immer, überwältigen, übertölpeln, unschädlich machen. Irgendwie. Wenn der Dritte sein Bruder war, brauchte er nur zwei Gegner außer Gefecht setzen. Das war schon mal gut. Auf seine Hilfe konnte er dabei nicht rechnen, wahrscheinlich war er gefesselt und behindert.
Wenn man das nur genau wüsste! Wie sollte man sich da einen Überblick verschaffen?
Dafür war es ohnehin bald zu spät. Die drei näherten sich jetzt dem Parkplatz. Sobald sie das Cabrio erreicht hatten, war die Chance vertan.
SCHLECHTE KARTEN, MEIN GUTER!
In seinem Kopf drehte sich alles. Was tun? Was tun? Was?
Nein, die Chance, hier und jetzt noch jemanden zu überlisten, war zu gering. Leider. Also entschied er sich, in seinem Überwachungsfahrzeug Schutz zu finden und damit den flüchtenden Mercedes Benz zu verfolgen.
Hoffentlich war der Wagen schnell genug. Hoffentlich soff er ihm nicht ab. Alt genug war er. Obwohl er vom Werkstattmeister seiner Firma gründlich durchgecheckt und auf Vordermann gebracht worden war, Öl, Luftfilter und Bremsflüssigkeit erneuert, traute er diesem nicht. Außerdem, drückten die mit ihrem Mercedes Benz auf die Tube, dann hatte er das Nachsehen. Da brauchte er sich keinen Illusionen hingeben.
Sein Atem ging mühsam und schwer, sein Herz schlug schnell und hart, ihm war plötzlich übel.
Der Motor sprang mit einem leisen Knattern an, er legte den Gang ein, ließ die Kupplung kommen, gab Gas und der Wagen rollte los. Mit einem Mal fühlte er sich wieder beschwingt wie der Frühlingswind.
Mensch, wo sind meine Pillen? Dort, wo sie immer sind und sein müssen; dumm, hab's ins Handfach gelegt, wo sie liegen würden, wenn's das gewohnte Fahrzeug wäre, aber ist ja nicht - was, wenn diese Verfolgungsjagd länger dauert? Wie reagier ich darauf? Körper, Psyche, Geist? Bedeutet, ich muss so bald wie möglich zuschlagen.
Verflixt, ich hab sie auf dem Armaturenbrett liegen, richtig.
Ist während der Fahrt nicht einfach aufzukriegen. Man muss sich auf den Lenker stützen, darauf achten, was im linken Blickfeld geschieht und mit dem rechten Auge das Öffnen der Schachtel überwachen. In den Händen halte ich die Schachtel, aber ich seh am Blickrand nur etwas Weißes davon. Dann muss ich mich halt auf meinen Tastsinn verlassen, zerfix, dann geht's schon.
Genau, darin müssten die Bedarfstabletten sein!
Greifen geht ja noch, aber wie sie öffnen, ohne hinschauen zu müssen? Die Papierschachtel aufreißen, den Streifen mit Pillen rausziehen und – ja, egal, die Schachtel kann ruhig auf den Boden fallen, nur nicht die Pillen. Die Folie jetzt mithilfe Daumen und Zeigefinger aufreißen!
Aber hoppla, immer auf den Verkehr achten, lieber Ernst. So!
Ach, das geht gut? Besser als gedacht!
So und jetzt hau sie dir rein und am besten in einem Zug runterschlucken, weil die ganz schön bitter sind. Und die nächste Schachtel. Läuft ja wie geschmiert.
So, aber verflixt, eine ist daneben gefallen, hoffentlich nicht die gegen den zu hohen Blutdruck. Ich kann jetzt auf den Boden gucken, zu gefährlich, muss immer auf den Verkehr achten. Na hoffentlich schießt mein Blutdruck nicht durch die Decke ohne Pillen, kann man nur hoffen!
Regen, Regen, Regen, und jetzt beschlägt's auch noch die Scheibe.
Dadurch muss ich näher ranfahren. Aber egal, die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden in diesem , ist gering.
Mist, ich bin zu dicht aufgefahren, nur gut, dass ich gebremst hab, leider auch gleichzeitig wieder aufs Gaspedal gedrückt. Hoffentlich haben die vorne nicht das aufheulende Motorengeräusch gehört!
Nein, drehen nicht den Kopf um. Glück gehabt!
Jetzt bräuchte ich mein Scheibenwischer-Leder, da könnt ich den Glasbeschlag abwischen, so aber reib und reib ich mit dem Oberarm, dass er mir schon schmerzt. Das ist richtig gefährlich, weil ich mich nicht so gut aufn Verkehr konzentrieren kann. Warum beschlägt die Scheibe? Schwitz ich etwa? Hoher Blutdruck? Ja, ich schwitz, verdammt. Hoffentlich hält das meine Konstitution aus, sonst – auweh! Kind den Bauch runter ...
Oh, ich hör da so ein Rascheln und Pfeifen. Im Gebläse? Gestern wurde doch der Luftfilter gewechselt. Was kann das sein? Ölwechsel auch, spielt hier aber keine Rolle. Der alte Motor wird einiges ertragen müssen bei dieser Verfolgungsfahrt, aber ist gut überholt, wie mir der Werkstattmeister versichert hat. Und die Bremsen? Na, gerade vorhin, da haben die Bremsen noch gefunzt, wunderbar ... Bremsen sind ultrawichtig.
Ich fixiere meinen Blick ganz stark durch die angeschlagene Frontscheibe, um zu erkennen, wer die Person im Cabriohintersitz ist. - Scheint sich um eine Frau zu handeln, eigenartig, dort sollte doch der Entführte, also mein Bruder sitzen? Demnach wär diese Frau auch eine Geisel. Aber wo ist mein Bruderherz? Aber vielleicht bedroht ihn die Frau von hinten mit einer Pistole an der Schläfe? Mehr waren es nicht, mehr als drei habe ich doch nicht gesehen, als ich sie am Parkplatz sah!? Oder wo sonst ist Brüderchen?
Irgendetwas vibriert hier. Ach so, das klingelnde Handy in meiner Hosentasche. Soll ich's während der Fahrt rausfischen? Bestimmt mein Neffe! Lieber nicht, ich muss mich auf die Straße konzentrieren, sonst springt mir der Erfolg noch von der Schippe...
Berlin!!!
Berlin wartet auf mich! Wie lang wird die Entführung dauern? Ausgerechnet jetzt, kurz vor dem Ziel. Aber es ist 'ne Chance, diese Ergreifung der Entführer, wahrscheinlich hilft sie mir, meine zweite Chance zu nutzen: Bundespräsident zu werden.
Bundespräsident!!!
Jetzt kandidiert jeder in meiner Partei um die Nachfolge, um zur Wahl des Präsidentenamtes nominiert zu werden, Mann o Mann. Da zählt jeder Tag, wo ich in die Hauptstadt komm, heiliger Birnbaum! Wenn ich da den Termin verpass, was für eine historische, nationale Katastrophe, nicht auszudenken. So entscheiden Zufälle, Glücksfälle oder Pechsträhnen Einzelner über das Schicksal ganzer Nationen, Völkern und Kontinente.
Die Geschichte lehrt uns dies, jawohl!
Aber aufpassen!
Ist da vorne nicht eine Ampel? Fahre näher ran, schließe auf, damit ich noch bei Gelb über die Ampel komm. Denk nicht an einen Unfall! Alles wird gut! Ich schaff's!
Dies hier und die Aufstellung zur Präsidentenwahl!
Wäre noch schöner! Gelacht wäre das! Ha!!!
Ich schwimme durch jeden Fluss der BRD – als gewählter Bundespräsident. Zuerst den Vater Rhein. Dann mit der Mutter, heißt das so?, mit der Donau. Der Rhein, die Donau, also richtig! Aber nicht den Rheindurchbruch, nein, ich meine den Rheinfall bei Schaffhausen, das ist natürlich zu gefährlich. Ich lasse mich vielleicht dort abseilen und so, total spektakulär! Oder soll ich gleich Bungee-Springen machen? Nein, das ist zu undeutsch!
Also, wenn ich mir die Pressemitteilung vorstell: Präsident überwindet den Rheinfall, oder PRÄSIDENT ERNST MEISTERT LOCKER DEN RHEINFALL. Das klingt schon phänomenal. Oder: UNSER PRÄSIDENT DURCHSCHWIMMT DEN RHEIN BEI SCHAFFHAUSEN. Da denkt man, der Präsident hat den Rheinfall eigenhändig überwunden - ha, ha. Das steigert die Auflagen, so 'ne Halbwahrheits-Verkündigung, weiß man ja!
Jedenfalls, würde diese Tat über alle Grenzen hinweg und bis in allen Ecken und Winkeln der Erde hinein Aufsehen sorgen, wie einst der große chinesische Parteiführer und Staatspräsident Mao-Tse-Tung im Meer schwamm und dieses Bild die ganze Welt eroberte.
Wo sind sie jetzt?
Sind sie mir entwischt?
Ernst, du musst besser aufpassen!
Schnell aufs Pedal getreten. Ich überhol den PKW, ah ja, geschafft, ha, heute gelingt mir einfach alles, das ist mein Tag, jetzt ist's klar! Kein Blinken des Gegenverkehrs, kein Hupen, es läuft einfach wie geschmiert. Und da sind sie ja, so ist's gut – jepp! Ich hab sie wieder.
Ein Bundespräsident muss ein Programm haben, auf das sein Volk mit Bewunderung schaut und so wird mein erster Programmpunkt sein, alle Flüsse unseres Landes zu durchschwimmen. Dazu muss ich mich gut beraten lassen, was Impfung gegen Verschmutzung angeht, ich bin ja so anfällig für Krankheiten. Und auch an meine Tabletten muss gedacht werden. Aber im Allgemeinen darf der Präsident nur die Flussstellen durchschwimmen, die a) am wenigsten gefählich sind und b) am wenigsten verschmtzt. Dieser Aspekt der Auswahl darf natürlich nicht an die Öffentlichkeit dringen, weil das ein schlechtes Licht auf die heimischen Flüsse wirft.
Das muss man sich immer vor Augen halten: Nur das Positive darf öffentlich werden, nie das Negative.
Uns geht’s gut, unser Land ist super in Schuss, vergiss die Öko-Nörgler und ...
Grr...
Oh Mann, diese Bremsen, die könnte der Chef auch mal austauschen lassen.
Wo fahren die überhaupt hin? Zum Flughafen? Dann müssten sie nach Nürnberg fahren. Hm. Kann sein. Oder nach München. Oder Neumarkt in der Oberpfalz ...
Jetzt geht’s wieder los, jetzt kuppeln, jetzt ...
Ich bin fit für die Herausforderungen des Präsidentenamtes: Ich kann jeden Fluss durchqueren, bei uns gibt es ja keinen Mississippi, Amazonas, Yangtse, Sambesi, der ist in Afrika, oder den Nil, der auch, jedenfalls, die sind so breit, dass mir die Puste ausgeht. Klarm mein regelmäßes Langlaufen, Krafttraining und Schwimmen hat schon was gebracht und zahlt sich dann aus. Aber ich müsste noch viel, viel fitter werden. Neulich hatte ich wieder einmal Glück, dass ich nicht abgesoffen bin, als ich in der Bugwelle des verbeischippernden Tankers durchgeschüttelt worden bin und der Kapitän an Deck vielleicht gebrüllt hat: „Bist du verrückt? Was suchst hier? Ein Kanal ist kein Freibad, Mann!“ Hatte mehr Angst als unsereiner, dass ich ersauf. Und neulich an der Schleuse, da hätt mich doch glatt ein starker Song hinuntergezogen, wo ich ganz schön geschreddert und gedrecht worden wär.
Brrrrr...
Warum halten die auf dem Parkplatz vom Discounter?
Noch ist meine Ampel rot.
Wo soll ich denn jetzt halten?
Ah, ich seh's! Stell den Wagen dort da rechts ab, keine zehn Meter von den anderen weg, hinter dem großen Laster, dann sehen die mich nicht. Dann warten, bis sie weiterfahren und weit genug weg sind, um sich dann wieder unbemerkt an ihre Fersen zu heften.
Aber was haben die, was machen die? Die Ampel ist jetzt grün, aber ich seh, sie fahren wieder aus dem Parkplatz heraus und wieder in die Hauptstraße hinein, um so besser, da kann ich ihnen wieder locker vom Hocker folgen wie der Hund dem Herrn, ha!
Wie schön!
Mann fahr schneller! Gar nicht so einfach, sich wieder in den fließenden Verkehr einzufädeln. Die Leute sind heute so egoistisch, die lassen niemanden vorbei.
Los!
Ha, läuft ja wie geschmiert.
Die fahren bestimmt auf die Autobahn.
Hab ich's nicht gesagt? Aber trotzdem, könnten ja irgendwo in den Wald abbiegen... Hm. Aber jetzt geht's erst mal, wie's aussieht, geradeaus, so dass ich mein Handy ausschalte..n...könnte.
Hm, vielleicht doch nicht Handy ausschalten, wenn mir was passiert, sieht's schlecht aus mit der Erreichbarkeit; stell dir vor, ich komme vom Fahrweg ab, rase in so ein Maisfeld rein, überschlage mich, bin verletzt, geh- und bewegungsbehindert, dann sieht's nicht rosig aus.
Nee, Handy muss sein!
Denk positiv!
Am Ball bleiben. Bleib bei der Stange.
Du gewinnst! Der Sieg ist dir sicher! Die Party wird steigen!
So, jetzt geht’s s an der Autobahn vorbei. Sieh einer guck, die fahren auf der Bundesstraße in die tiefste Oberpfalz rein. Ist besser wie auf der Autobahn, da ist schon so mancher Unfall passiert beim Anhalten von Verdächtigen, obwohl da weniger Leute um einem herum sind, da würde so ein Polizeiüberfall leichter von der Hand gehen, weil weniger aufsehenerregend … Aber in so einer Stein-, Sand-, Wald- und Einödwüste wie in der Oberpfalz hinwiederum … Hm, ist auch nicht überall so dort, gibt viel Kiefernwald, aber wenn die sich ablegen zum Schlafen, dann könnt man sich anschleichen und einen nach dem anderen außer Gefecht setzen – man wird sehen.
Jetzt einen größeren Abstand halten, ein Verfolger ist auffälliger wenn weniger Verkehr ist, aber i ch muss so nah dran bleiben, dass ich sehen kann, wo sie hinfahren. Zum Beispiel, wenn sie plötzlich in einen Feldweg abbiegen.
Verdammt, jetzt duscht es aus allen Kübeln, ich sehe kaum etwas. Ich schalte das Licht an und fahre näher ran. Und jetzt fahren die links in eine asphaltieren Feldweg, nach Heubeck oder wie das Kaff heißt, und da können sie sich nicht verstecken, da fahren sie vielleicht weiter. Hinter mir ist ein Auto. Ist der verrückt bei dem Sauwetter zu überholen. Aber bitte schön, selbst sollst du der Meister deines Todes sein – deutsche Freiheit!
Unbegrenzte Fahrgeschwindigkeit auf allen Straßen und Autobahnen, da müsste ich auch mal ein Gesetz machen, was ich als Präsident aber leider nicht machen könnt, der Präsident segnet nur die Gesetze ab. Aber vielleicht ist der doch berechtigt, selbst solche Gesetze anzustoßen, mal sehen.
Mensch, wenn es doch endlich so weit wäre!
Aber Heiliger Antonius, bitt für uns Sünder, jetzt fahren die glatt in den Seeplatz. Ob sie bei dieser Regendusche im Terrassenrestaurant Schutz suchen? Geld haben sie jetzt genug, diese Saubackenpeter.
Sie steigen aus, die Frau bleibt im Auto, aha!
Heißt das, die Frau ist die Entführte? Oder steht sie Schmiere? Sicher nicht, sie ist eine Entführte. Mit einer Geisel zeigen sich diese Schlawiner nicht in der Öffentlichkeit. Interessant! Ich schau sie mir an, wenn die anderen weit weg sind.
Nen Regenschirm wär nicht schlecht.
Hab ich.
Und noch ein Aqua Mineralwasser mitnehmen.
Aber die Idee, die mir gerade kommt! Genial! Messer, wo bist du? Denen lass ich jetzt ein bisschen die Luft raus, damit sie nicht mehr so leicht entkommen können. Ha – dann sitzen sie in der Falle, in der Mause-, Mausefalle, huhu!
So, jetzt geh ich mal hin, und auweh, die Frau ist gefesselt und geknebelt, aber noch bei Bewusstsein, so wie die mich durch die Fensterscheibe anglotzt.
„Ich komm später wieder!“
Ob die mich da drinnen hört?
Ich klopfe an die Scheibe. Sie nickt. Gut, dann hat sie mich gehört.
Wo sind die anderen?
Dort drüben!
Zurückbleiben! Nicht verfolgen! Noch nicht.
Zuerst in die Reifen stechen. Aber aufpassen, dass die entweichende Luft nicht explodiert und mich umhaut. Das hat schon manchen aus den Socken gehauen.
Der erste Streich, ha!
Und der zweite folgt sogleich.
Der dritte und der vierte jetzt!
Und den dreien!
Man sieht sie noch. Die gehen, ich hab's ja, ins Restaurant, machen sich ein leichtes Leben, ist ja klar! Andererseits, bei dem Wetter, wohin sonst?
Wenn ich denen hinterherlaufe, was mach ich da, weil, ich hab kein Geld dabei, merke ich jetzt. Aber immerhin, ich kann mich ja auf die überdachte Terrasse setzen, oder? Die werden mich nicht gleich verjagen, wenn's so regnet!
Und da sitzen sie.
Und wohin mir mir? Kaum Platz, dicht gedrängt, aber ein freies Plätzchen ist da. Dann man zu. Über die beiden Holztreppe, auf das Podest, wo so viele Holzstühle und Rattantische stehen.
„Darf ich?“
„Natürlich!“
„Danke!“
„Saumäßiges Wetter!“
Nicken, aber nichts sagen. Passt mir ins Konzept, 'spart mir zu reden, konzentriere mich lieber auf die beiden Typen. Die schweigen und schauen sich bloß misstrauisch um sich.
Wenn ich an ihrer Stelle wäre, hätte ich weiß Gott Grund genug dazu!
Die Getränkekarte! Aha, aber gesalzene Preise haben die schon. Hoffentlich kommt keiner. Tresenverkauf haben die glücklicherweise, wie ich durchs Panoramfenster sehen kann. Da steht's auch noch unübersehbar auf dem Schild. Das ist schon ein bisschen groß geraten. Die müssen es scheinbar nötig haben.
Aber Umsatz muss sein, stimmt schon!
Ich kann leider dazu nichts beitragen.
Hoffentlich kommt niemand!
Aber, nanu! Achtsamkeit ist geboten! Die Stunde der Wahrheit naht!
DAS SCHICKSAL DER NATION SCHLÄGT!
Die Sternstunde meines Lebens!
20 . Wer zu spät kommt, bestraft das Leben...
Ohne Familie sind meine Karten fürs Bundespräsidentenamt schlecht. Bundespräsidenten brauchen eigentlich eine, um repräsentieren zu können. Wenn ich sage, ich will meine Person nur in den Dienst für unsere Bevölkerung stellen, hm, meine Kraft und Energie aufopferungsvoll … voll und ganz … genau ... wie ein katholischer Priester. Nee, das kommt im mehrheitlich protestantischen Deutschland nicht gut an. Außerdem hätte ich da auch gleich Pfarrer werden können. Nur das jetzt die BRD, der Sprengel BRD mit der Schafherde Deutsches Volk oder Bevölkerung, hat die Lebenden, die auf dem jetzigen Territorium der Bundesrepublik – heißt das heute noch so? Oder? Wie denn, bin mir unsicher, muss meine Cousine, die Stadtverwalterin fragen.
Es duscht und duscht, Mann o Mann.
Aber was tut sich dort?
Da kommt ein Mann auf sie zu. Sieht imposant aus, breite Schultern, die Arme etwas auseinander, um Platz für die explodierenden Muskelpakete zu haben. Wahrscheinlich der Wirt, Pächter des Cafés oder Restaurants hier. Er klopft einem hinten auf die Schulter. Schlechte Kinderstube, würde ich sagen. Ich glaub, er hätte es lieber sein lassen. Er ahnt nicht, in welche Gefahr er sich damit begibt, der Arme.
„Ich mach mal eine Ausnahme. Aber das mitgebrachte Getränk hier muss weg!“
'Hätt'n was holen sollen, genau. Wie ich, hab's auch nicht getan. Zu mir ist er zum Glück nicht gekommen, bestimmt, weil ich zu unauffällig bin. Aber der komm noch.
Aber der Eraser-Head-Typ, Halbglatze und abstehende Haare, der ist natürlich ein echter Blickfang. In einem öffentlichen Lokal etwas zum Trinken mitbringen, das geht nicht, hat er recht, der Wirt!
Guck mal, der springt jetzt plötzlich auf!
„Ich hab die Schnauze voll von diesen egoistischen Schweinen in diesem Land. Nicht mal im Regen kann man sich unterstellen, ohne Geld zu blechen. Euch hat man doch ins Hirn gefickt, dass ihr alle nur nach Geld lechzt wie Huren nach geilen Schwänzen, ihr Halsabschneider!“
Mann, er hält dem Kraftprotz eine Pistole unter die Nase. Sein Kamerad steht jetzt auf und versetzt ihm jetzt einen Faustschlag, der ihn voll auf den Boden knallen lässt, zum Glück ist es nur Holz. Kracht aber ganz schön. Aber er wird sich nicht verletzen, bei diesen Bohlen und Brettern.
Manche Leute stehen auf, trauen sich aber nicht, dazwischen zu gehen. Klar, würd ich auch nicht, der Pistolero zeigt abwechselnd mit der Pistole mal hierhin, mal dorthin. Geht sogar in die Knie, wie in 'nem richtigen Mafiafilm, Mann oh Mann.
„Kommt her, ihr feigen Schweine! He, he! Vielleicht du, oder du, oder du?“
Das ist der Hammer. Das ist ultrabrutal. Ultragefährlich. Wenn das außer Kontrolle gerät, gibt es ein Blutbad.
„Aua!“
Und der Terrassenchef am Boden kriegt von dem Spezi voll eine in die Seite mit den Schuhen, ein-, zweimal – oh Mann, hör auf! Ich kann gar nicht hinschau'n!'
„Schieijie!“
O Mann, das muss ganz schön wehtun, bei dem schrillen Schrei. Klar, so eine Fußspitze in die Nieren und, oh nein, jetzt auch noch gegen den Schädel – der ist nicht zimperlich, der nicht!
Und jetzt hau'n die ab.
Hinterher, aber langsam.
Aber wie?
Ohne, dass sie mich seh'n?
Ganz professionell ziehen sie aber, der eine vorneweg, der andere immer zurückblickend, mit der Pistole fuchtelnd und zielend. Ich aber, ich muss ihnen folgen, auch wenn's gefährlich ist wegen dieser Pistole, Mann o Mann, wer rechnet gleich mit so etwas?
Besser klotzen als kleckern, oder wie man so schön sagt, jedenfalls nichts überstürzen, schneller als man denkt wird man zu Hackfleisch verarbeitet und landet in der Tonne.
Apropos Hackfleisch? Wo ist mein Bruder? Klar, den haben sie bestimmt im Haus gelassen; hoffentlich unversehrt.
Apropos Tonne!
Jetzt duscht es aus Kübeln.
Die anderen rennen bestimmt schnurstracks zum Auto. Wenn ich nur vor ihnen da wäre? Wo ist der kürzeste Weg.
Eine Abkürzung? Dort durch die zwei Hütten des Segelvereins, da am Segelboot vorbei. Und wie windig es ist, wie ein Skalpell schneidet er durch die Dunkelheit und in die Haut. Aber Schulter hochgezogen, Kopf in den Nacken und gebückt los, um den Elementen möglichst wenig Angriffsflächen zu bieten, jawohl!
He, wie schnell die schweren Wolken am Himmel ziehen. Man muss sich mit aller Kraft gegen Regen, Schauer und Sturmböen stemmen, um überhaupt die paar Terrassenstufen hinunterzukommen. Am Geländer festhalten und nach unten ziehen, dann schaffe ich es.
So – und jetzt durch die Mitte der beiden Holzhäuser. Der Regen pladdert auf das Blechdach, dass es richtig laut ist.
Wo parkt ihr Auto? Dahinter verstecke ich mich, wenn ich vor ihnen angekommen bin.
Es gießt nicht schlecht aus Kübel und weil der Asphaltparkplatz leicht gesenkt zum See hin abfällt und von zu vielem Wasser überschwemmt wird, entsteht Aquaplaning. Und die Rohre laufen voll, der Kanal hält das viele Wasser nicht aus, das so viel Druck aufbaut, dass es dort, dort aus dem Gully in Kaskaden heraussprudelt. Wenn das nicht mal zu Rohrbrüchen führt! Das gibt wieder Arbeit für unsere Spezialfirma, juhe! So gesehen. Aber soll sich nicht über Schäden anderer freuen!
Ist schon ein beeindruckender Anblick, so ein Unwetter, auf jeden Fall.
Und außerdem habe ich jetzt auch einen leichten Schaden, nämlich leicht durchnässte Schuhe, igitt!
Jetzt bläst der Wind schon so stark, dass ich mich richtig dagegen stemmen muss, um ein paar Meter vorwärts zu kommen. Da stemmen sich bestimmt 50 Kilogramm gegen mich, mannomann!
Dort steht auch ihr Auto.
Dahinter verstecken!?
Aber halt, das ist keine gute Idee, sich dahinter auf Lauer zu legen, denn erstens könnten sie um das Auto herumgehen und zweitens, was, wenn sie losfahren? Mit plattem Reifen? Auf keinen Fall. Die steigen aus und schauen, was los ist und entdecken mich natürlich.
Nee, lieber zurück in meinen Beobachtungswagen.
Jetzt aber schnell, bevor die da sind – aufstehen wie ein Springteufel und laufen wie ein Hase, weiter und ganz schnell!
Und jepp, Tür auf, Tür zu. Nein, auflassen, wenigstens eine auflassen, um sie anzulocken - mit Speck fängt man Mäuse. Und Schlüssel stecken lassen. Ich krabble hinten in den Transporter, zum Ausguck!
Da, den Platten erkennen sie sofort. Einer zeigt auf den Reifen. Schau'n ganz blöd aus der Wäsche, haha. Mach'n die Tür auf, zerr'n die Frau raus, stoß'n sie vor sich her und komm'n auf mich zu. Die werden tatsächlich angelockt, super. Die Falle schnappt zu!
Wohin? Unter die Bank, da ist 'ne Decke drüber. Schnell!
Und dunkel wird's, wunderbar! Wie ein Hecht, ein Fisch, der den Kopf ins dunkle Loch steckt, nur der Schwanz schaut noch heraus. Also rein mit den Füßen.
Was liegt denn hier für'n Krempel rum? Ach, zum Glück nur weiches Zeug. Mappen, Ordner, Broschüren, Kopierschablonen. Auch gut, das dämpft beim Fahren, wenn's holpert und stolpert ...
„Wohin mit der Schnalle?“
„Da, auf die Bank!“
„Hmmm!“
„Bleib ruhig, sonst polier ich dir die Fresse, du Schlampe, verstanden!“
„Die kann nicht reden, die hat 'nen Pfropfen im Maul, Mann!“
„Ich weiß! Aber nicken kann sie.“
„Die macht das!“
„Sag ich doch!“
Die sitzt über mir. Über mir. Aua, das ist ein ganz schöner Krach, wenn sie die Schiebetür zuhau'n. Da kriegt man gleich Ohrenschmerzen.'
„Da steckt sogar der Zündschlüssel!“
„Um so besser. Wer hätte das gedacht. Lass das Auto schon an! Worauf wartest du noch?“
„Moment mal. Hier stimmt vielleicht etwas nicht. Ein Bus, herrenlos, nicht verschlossen und der Zündschlüssel steckt. Ich sage dir, die Sache stinkt. Hier ist doch etwas faul. Hier will uns jemand in eine Falle locken. Wer lässt schonen seinen Schlüssel im Auto stecken, zumal wenn es regnet?“
„Versteh ich nicht. Was spielt da der Regen für eine Rolle? Ist doch egal, so oder so ist das nicht ganz normal.“
„Naja, ich meine nur!“
„Du meinst nur. Dann sag ich dir mal etwas. Niemand stellt uns hier eine Falle. Die Bullen nicht oder meinst du etwa unsere Geldgeber? Falle locken? Nur Vollidioten machen so etwas, dass sie Schlüssel stecken lassen. Und wahrscheinlich handelt es sich gerade hier um einen solchen! Es gibt ja mittlerweile schon ganz schön viele davon, die frei herumlaufen. Und es werden immer mehr!“
Ich schau mal kurz nach, was sich da tut.
Aha, zwei Personen.
Der Muskelmann ist wütend, der fuchtelt wie wild mit den Fäusten herum. Der andere zuckt darüber zusammen, scheint es. Hat er mit Vollidioten ihn gemeint?
Eine hohe Fistelstimme ertönt. Aha, das ist vermeintliche Vollidiot.
„Vielleicht sollen wir doch einmal genauer in den Laderaum des Bus schauen, kurz mal die Decke dort auf der Bank lüpfen, dauert ja nicht länger als fünf Sekunden.“
Ein lautes Gebrüll eines Baritons erschallt. Dumpf und keinen Widerspruch duldend.
„Du machst jetzt gar nichts außer dich an das Lenkrad zu klemmen. Du hast schon genug Mist gebaut. Den Wirt gleich die Pistole unter die Nase zu halten. War das nötig gewesen?“
„Naja, der hät uns ganz schön gefährlich werden können.“
„Ach, du leidest doch unter Verfolgungswahn, Mann!“
„Nein, glaub ich nicht!“
„Dann unter anderen anderen Wahnvorstellungen! Auf jeden Fall unter unkontrollierten Kurzschlusshandlungen.“
Jetzt hört man, wie jemand gegen Blech schlägt, wahrscheinlich gegen die Karosserie. Oh Mann, hoffentlich lässt der mir das Auto heil, mein Chef wird ganz schön ärgerlich sein.
„Hörst ja die Sirenen! Ich habe die Schnauze voll von dir.“
„Wo?“
Jetzt hört ja endlich das Blechschlagen auf. Und Sirenen sind in der Ferne zu hören, gelobt sei's!
Nun sprechen sie nicht mehr. Lauschen wohl, ha ha! Jetzt geht es ihnen an den Kragen, jawohl!
„Tatsächlich. Sirenen!“
„Mann, lass uns keine Zeit vertrödeln. Die Bullen sind uns am Nacken.“
„Am Hals!“
„Hä!“
„Das heißt: Die Bullen sind uns am Hals, nicht am Nacken.“
„Nacken, Hals ist ja wohl das Gleiche!“
„Ja. Ungefähr. Es heißt aber trotzdem: Jemand hat man am Hals und nicht Nacken, verstehst!“
Der ist wirklich saudumm. Denn es stimmt nicht: Hals und Nacken sind nicht dasselbe. Außerdem stimmt das so auch nicht. Man kann doch die Faust im Nacken haben. Das hat er bestimmt gemeint damit. Aber er hat es nicht ausdrücken können und ist nun zu unrecht von dem Vollidioten gemaßregelt worden, tja.
„Was klugscheisserst du da noch lang rum, wenn uns die Bullen am Hals oder Nacken, verdammt, wie auch immer, sind, he! Du bist voll durchgeknallt, Mann. Dir ist die Pistole ins Gehirn gestiegen. Meinst, damit kann man alle Probleme lösen. Zumal so eine Lappalie mit dem Wirt. Wir wollten eh schon gehen, das wäre nicht nötig gewesen. Aber du musst den großen Macker mimen. Weil du jetzt ne Knarre, he. Du denkst, dass du dir jetzt alles erlauben kannst und andere nach deiner Pfeife tanzen!“
Dann krachte erneut Blech, aber noch dumpfer und noch härter. Er schlägt schon wieder gegen mein Auto, der Wahnsinnige.
„Dem Wirt die Knarre unter die Nase halten war nicht gut, sag ich dir! Damit hast du jetzt Hühner aufgescheucht!“ Es hört auf zu klopfen, gelobt sei's, was erzähle ich da nur meinem Chef morgen? Wenn alles gutgeht. Ernst reiß Dich am Riemen. Man lobe nicht den Tag vor dem Abend!
„Hühner aufscheuchen. Sprachlich korrekt – Respekt!“
„Ähm, ach so. Gut. Danke. Nein Mann, hör mal lieber in die Ferne, kannst du da überhaupt was hören oder bist du schon taub? Wundern würde es mich nicht, wenn du stattdessen über etwas wie „Hühner aufscheuchen“ grübelst.“
„Grübelst, auch gut!“
„Mann, hör endlich auf damit.“
O je, das klingt aber jetzt brutal.
„Ich stopf dir gleich das Maul. Verpiss dich lieber in den Fahrersitz, aber dalli!“
Erstaunlich, was die zu bereden haben, bedenkt man schließlich, unter welchen Umständen sie sich befinden. Die müssen es aber ganz schön nötig haben, ha!
Türknallen. Türöffnen. Türknallen. Zündschlüsselbetätigung, Motor springt an. Kupplung wird getreten, Gang krächzt im Getriebe.
Die kennen mein Fahrzeug nicht, logisch.
Aber jetzt fahren sie ja endlich los! Ist auch Zeit geworden.
Soll ich der Frau an die Füße fassen? Sicher, das beruhigt sie, wenn sie weiß, dass jemand bei ihr ist. Schreien kann sie nicht, sie hat einen Knebel im Mund. Also kann ich es machen.
Vorsicht, sie schlägt zurück. Aber jetzt hört sie auf. Zuerst hat sie sich gewehrt, bis sie gemerkt hat, dass ich es bin. Ihr. Ihr Retter, ihr Helfer, ihr Erlöser.
Hab Geduld, Mädel. Dein Messias kommt.
He, die fahr'n wie die gesenkten Säue, da muss mich irgendwo festhalten, sonst werd ich wie nasse Säcke hin und her geworfen. Ich leide eh schon wie Jesus am Kreuz. Fehlt nur noch der Essigschwamm im Mund.
Aua, bald spüre ich nichts mehr, nur noch ein großes Ziehen und Schmerzen im Schmerzzentrum. Ich werd zehn Kerzen in unserer Kirche opfern, wenn ich das heil übersteh, das schwöre ich!
Und ich merk schon, wie ich bald anfang zu weinen. Das ist nur der Schmerz! Ist aber immerhin besser als schrei'n!
Ruhig bleiben, auch wenn sie bei dem Tempo eh nichts hören.
Eigentlich läuft alles gut. Gut, dass ich meine Feinde so dicht bei mir habe. Jetzt können sie bestimmt nicht mehr entkommen und wegfahren.
Ha!
Und ich fühl mich so stark. Ja, ich bin kräftig. Ich bin stabil. Ich bin cool, weil diese Gefahr, diese Herausforderung, die macht mich so richtig stark.
Was für ein Heulen? Sirenen. Klar, die Polizei. Die hat der zusammengeschlagene Wirt gerufen und die schnappen mir jetzt den großen Hecht vor der Nase weg – wenn ich nicht schnell mach.
WER ZU SPÄT KOMMT, BESTRAFT DAS LEBEN!, sagte der 4. Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Willi Brandt zum Fall der Mauer.
Sagen wir „Wende“ oder „Fall der Mauer“?
Ach, liebe Cousine, nach diesem Abenteuer habe ich einige Fragen an dich.
Vergiss jetzt alles andere und fühl deine Stärke!
Ja, ich fühle sie, ich kann es, jetzt muss ich zuschlagen!
So, krieche ich aus meinem Versteck – he, ich tu's wirklich und bleib lieber auf allen Vieren, ja, ja, so ist's richtig und krabbel zum Vordersitz. Ja, die Knie tun nicht schlecht weh! Und jetzt mit dem Rücken an die Cockpitwand.
Geschafft! Hat auf die Frau bestimmt nicht so cool gewirkt, wie ich da auf den Knien durch den schaukelnden Bus gerutscht bin, oder? War aber effektiv.
Und nun?
Jetzt langsam, langsam aufstehen und dem Beifahrer mit irgendwas auf den Kopf schlagen.
Aber wie? Eher womit? Harter Gegenstand, wo bist du?
Ein Schraubenschlüssel wäre gut.
Aber wo hier?
Keine Ahnung, hm.
Oder 'n Drahtseil, irgendwas verdammt und zugenäht!
Tja, Präsidenten; Politiker müssen Ideen haben, jede Situation meistern, reagieren können, egal, was kommt.
So!
Mir fällt einfach nichts ein...
Aber ich bin stark, stark, und die Sirene wird lauter und lauter. Da traue ich mich aufzustehen.
Ja, aber ohne mit etwas zu schlagen hat auch keinen Sinn.
Wie die Frau mich anstarrt?
Ja, dein Retter naht! Ich bin es! Das kann ich dir leider nicht sagen. Aber, du weißt schon.
Vielleicht Daumen hoch, damit alles klar ist, wie Nero das gemacht hat und die Gladiatoren wussten, die Freiheit winkt.
Glaub mir, Sklavin, die Freiheit winkt!
Noch nicht, sie ist noch nicht frei. Die Hände sind nach hinten gefesselt, wahrscheinlich Kabelbinder.
Aber ich seh's genau, du hast verstanden.
Alles wird gut, Mädel!
Ja, nick nur kräftig, du hast Grund zur Freude.
Alles wird gut, bald bist du erlöst, aber übertreibe es nicht mit dem Nicken, sonst sehen es die Entführer im Rückspiegel und merken, dass etwas nicht stimmt.
Ich nehm lieber die flache Hand und senk sie. Bedeutung: Immer mit der Ruhe!
Siehst du, es ist gut, du beruhigst dich ...
Aber wo ist ein Gegenstand?
Auf dem Boden liegt nichts, was man benutzen könnte. Und an den Wänden hängen die Sachen der Handwerker. Eine Eisensäge, Bohrer, Zangen, Drahtschneider, Scheren, eine ölverschmierte Schürze. Andere Sachen sind Lederbeutel und Etuis, meist mit Klettverschluss. Wenn ich sie öffne, macht es ein Geräusch und ich verrate mich.
Aber ist es wirklich so laut? Sind die Fahrgeräusche nicht lauter?
Aber da liegt doch ein Eisenrohr.
Wenn ich mich aber bemüh, rutsch ich vielleicht. Wenn ich aufstehe und auf sie zugeh, sehen die mich im Rückspiegel. Vielleicht verlier ich das Gleichgewicht bei diesem Geschunckel und wumms lieg ich wieder flach wie Ebbe nach der Flut.
Ich habe aber keine Zeit mehr. Das ist das Problem. Ich muss jetzt reagieren, unbedingt und brauche jetzt einen harten Gegenstand, verflixt noch mal.
Das Heulen kommt immer näher. Wenn ich den Fahrer zum Anhalten bringe, habe ich gewonnen!
Moment, jetzt blüht euch etwa!
Ja, ich schaffe es trotz des Schaukelns aufzustehen und kann brüllen: „Halt, oder ich schlag zu!“
Ach, Mensch, bin ich blöd. Ich hab ja noch nichts zum Schlagen. Was jetzt?
Aber da falle ich über die Kante direkt auf den Beifahrer, das ist auch nicht gut!
Meine Füße hängen dem einen vor der Nase und vorm Gesicht, so dass ich ihm die Sicht versperre.
Und draußen schüttet es wie aus Eimern. Die Scheibenwischer kommen gar nicht nach. Die Sicht ist nicht frei. Ein Wasserfilm verdeckt die Scheiben.
Man sieht nicht genau, was vor einem passiert. Ist das nicht ein LKW, der auf uns zukommt?
Und der Idiot von Fahrer drückt jetzt noch voll aufs Pedal, statt auf die Bremse. Unter diesen Umständen ist es verdammt gefährlich so schnell zu fahren.
Das ist die reinste Kamikazifahrt!
Autsch, der greift mir brutal in die Seite.
Aber warte, dir tret ich ins Gesicht. Auch wenn du der Fahrer bist. Vielleicht bremst du dann endlich!
Tatsächlich, der tritt aber jetzt voll auf die Bremse, dieser Blödmann. Das Fahrzeug driftet nach links auf die andere Fahrbahn.
Zu spät!
Der dicke Brummer kommt auf uns zu. Er hupt. Er blinkt auf mit seinen großen Scheinwerfern, rauf und runter und …
Oh Mann oh Mann ...
Es duscht und duscht, Mann o Mann.
Aber was tut sich dort?
Da kommt ein Mann auf sie zu. Sieht imposant aus, breite Schultern, die Arme etwas auseinander, um Platz für die explodierenden Muskelpakete zu haben. Wahrscheinlich der Wirt, Pächter des Cafés oder Restaurants hier. Er klopft einem hinten auf die Schulter. Schlechte Kinderstube, würde ich sagen. Ich glaub, er hätte es lieber sein lassen. Er ahnt nicht, in welche Gefahr er sich damit begibt, der Arme.
„Ich mach mal eine Ausnahme. Aber das mitgebrachte Getränk hier muss weg!“
'Hätt'n was holen sollen, genau. Wie ich, hab's auch nicht getan. Zu mir ist er zum Glück nicht gekommen, bestimmt, weil ich zu unauffällig bin. Aber der komm noch.
Aber der Eraser-Head-Typ, Halbglatze und abstehende Haare, der ist natürlich ein echter Blickfang. In einem öffentlichen Lokal etwas zum Trinken mitbringen, das geht nicht, hat er recht, der Wirt!
Guck mal, der springt jetzt plötzlich auf!
„Ich hab die Schnauze voll von diesen egoistischen Schweinen in diesem Land. Nicht mal im Regen kann man sich unterstellen, ohne Geld zu blechen. Euch hat man doch ins Hirn gefickt, dass ihr alle nur nach Geld lechzt wie Huren nach geilen Schwänzen, ihr Halsabschneider!“
Mann, er hält dem Kraftprotz eine Pistole unter die Nase. Sein Kamerad steht jetzt auf und versetzt ihm jetzt einen Faustschlag, der ihn voll auf den Boden knallen lässt, zum Glück ist es nur Holz. Kracht aber ganz schön. Aber er wird sich nicht verletzen, bei diesen Bohlen und Brettern.
Manche Leute stehen auf, trauen sich aber nicht, dazwischen zu gehen. Klar, würd ich auch nicht, der Pistolero zeigt abwechselnd mit der Pistole mal hierhin, mal dorthin. Geht sogar in die Knie, wie in 'nem richtigen Mafiafilm, Mann oh Mann.
„Kommt her, ihr feigen Schweine! He, he! Vielleicht du, oder du, oder du?“
Das ist der Hammer. Das ist ultrabrutal. Ultragefährlich. Wenn das außer Kontrolle gerät, gibt es ein Blutbad.
„Aua!“
Und der Terrassenchef am Boden kriegt von dem Spezi voll eine in die Seite mit den Schuhen, ein-, zweimal – oh Mann, hör auf! Ich kann gar nicht hinschau'n!'
„Schieijie!“
O Mann, das muss ganz schön wehtun, bei dem schrillen Schrei. Klar, so eine Fußspitze in die Nieren und, oh nein, jetzt auch noch gegen den Schädel – der ist nicht zimperlich, der nicht!
Und jetzt hau'n die ab.
Hinterher, aber langsam.
Aber wie?
Ohne, dass sie mich seh'n?
Ganz professionell ziehen sie aber, der eine vorneweg, der andere immer zurückblickend, mit der Pistole fuchtelnd und zielend. Ich aber, ich muss ihnen folgen, auch wenn's gefährlich ist wegen dieser Pistole, Mann o Mann, wer rechnet gleich mit so etwas?
Besser klotzen als kleckern, oder wie man so schön sagt, jedenfalls nichts überstürzen, schneller als man denkt wird man zu Hackfleisch verarbeitet und landet in der Tonne.
Apropos Hackfleisch? Wo ist mein Bruder? Klar, den haben sie bestimmt im Haus gelassen; hoffentlich unversehrt.
Apropos Tonne!
Jetzt duscht es aus Kübeln.
Die anderen rennen bestimmt schnurstracks zum Auto. Wenn ich nur vor ihnen da wäre? Wo ist der kürzeste Weg.
Eine Abkürzung? Dort durch die zwei Hütten des Segelvereins, da am Segelboot vorbei. Und wie windig es ist, wie ein Skalpell schneidet er durch die Dunkelheit und in die Haut. Aber Schulter hochgezogen, Kopf in den Nacken und gebückt los, um den Elementen möglichst wenig Angriffsflächen zu bieten, jawohl!
He, wie schnell die schweren Wolken am Himmel ziehen. Man muss sich mit aller Kraft gegen Regen, Schauer und Sturmböen stemmen, um überhaupt die paar Terrassenstufen hinunterzukommen. Am Geländer festhalten und nach unten ziehen, dann schaffe ich es.
So – und jetzt durch die Mitte der beiden Holzhäuser. Der Regen pladdert auf das Blechdach, dass es richtig laut ist.
Wo parkt ihr Auto? Dahinter verstecke ich mich, wenn ich vor ihnen angekommen bin.
Es gießt nicht schlecht aus Kübel und weil der Asphaltparkplatz leicht gesenkt zum See hin abfällt und von zu vielem Wasser überschwemmt wird, entsteht Aquaplaning. Und die Rohre laufen voll, der Kanal hält das viele Wasser nicht aus, das so viel Druck aufbaut, dass es dort, dort aus dem Gully in Kaskaden heraussprudelt. Wenn das nicht mal zu Rohrbrüchen führt! Das gibt wieder Arbeit für unsere Spezialfirma, juhe! So gesehen. Aber soll sich nicht über Schäden anderer freuen!
Ist schon ein beeindruckender Anblick, so ein Unwetter, auf jeden Fall.
Und außerdem habe ich jetzt auch einen leichten Schaden, nämlich leicht durchnässte Schuhe, igitt!
Jetzt bläst der Wind schon so stark, dass ich mich richtig dagegen stemmen muss, um ein paar Meter vorwärts zu kommen. Da stemmen sich bestimmt 50 Kilogramm gegen mich, mannomann!
Dort steht auch ihr Auto.
Dahinter verstecken!?
Aber halt, das ist keine gute Idee, sich dahinter auf Lauer zu legen, denn erstens könnten sie um das Auto herumgehen und zweitens, was, wenn sie losfahren? Mit plattem Reifen? Auf keinen Fall. Die steigen aus und schauen, was los ist und entdecken mich natürlich.
Nee, lieber zurück in meinen Beobachtungswagen.
Jetzt aber schnell, bevor die da sind – aufstehen wie ein Springteufel und laufen wie ein Hase, weiter und ganz schnell!
Und jepp, Tür auf, Tür zu. Nein, auflassen, wenigstens eine auflassen, um sie anzulocken - mit Speck fängt man Mäuse. Und Schlüssel stecken lassen. Ich krabble hinten in den Transporter, zum Ausguck!
Da, den Platten erkennen sie sofort. Einer zeigt auf den Reifen. Schau'n ganz blöd aus der Wäsche, haha. Mach'n die Tür auf, zerr'n die Frau raus, stoß'n sie vor sich her und komm'n auf mich zu. Die werden tatsächlich angelockt, super. Die Falle schnappt zu!
Wohin? Unter die Bank, da ist 'ne Decke drüber. Schnell!
Und dunkel wird's, wunderbar! Wie ein Hecht, ein Fisch, der den Kopf ins dunkle Loch steckt, nur der Schwanz schaut noch heraus. Also rein mit den Füßen.
Was liegt denn hier für'n Krempel rum? Ach, zum Glück nur weiches Zeug. Mappen, Ordner, Broschüren, Kopierschablonen. Auch gut, das dämpft beim Fahren, wenn's holpert und stolpert ...
„Wohin mit der Schnalle?“
„Da, auf die Bank!“
„Hmmm!“
„Bleib ruhig, sonst polier ich dir die Fresse, du Schlampe, verstanden!“
„Die kann nicht reden, die hat 'nen Pfropfen im Maul, Mann!“
„Ich weiß! Aber nicken kann sie.“
„Die macht das!“
„Sag ich doch!“
Die sitzt über mir. Über mir. Aua, das ist ein ganz schöner Krach, wenn sie die Schiebetür zuhau'n. Da kriegt man gleich Ohrenschmerzen.'
„Da steckt sogar der Zündschlüssel!“
„Um so besser. Wer hätte das gedacht. Lass das Auto schon an! Worauf wartest du noch?“
„Moment mal. Hier stimmt vielleicht etwas nicht. Ein Bus, herrenlos, nicht verschlossen und der Zündschlüssel steckt. Ich sage dir, die Sache stinkt. Hier ist doch etwas faul. Hier will uns jemand in eine Falle locken. Wer lässt schonen seinen Schlüssel im Auto stecken, zumal wenn es regnet?“
„Versteh ich nicht. Was spielt da der Regen für eine Rolle? Ist doch egal, so oder so ist das nicht ganz normal.“
„Naja, ich meine nur!“
„Du meinst nur. Dann sag ich dir mal etwas. Niemand stellt uns hier eine Falle. Die Bullen nicht oder meinst du etwa unsere Geldgeber? Falle locken? Nur Vollidioten machen so etwas, dass sie Schlüssel stecken lassen. Und wahrscheinlich handelt es sich gerade hier um einen solchen! Es gibt ja mittlerweile schon ganz schön viele davon, die frei herumlaufen. Und es werden immer mehr!“
Ich schau mal kurz nach, was sich da tut.
Aha, zwei Personen.
Der Muskelmann ist wütend, der fuchtelt wie wild mit den Fäusten herum. Der andere zuckt darüber zusammen, scheint es. Hat er mit Vollidioten ihn gemeint?
Eine hohe Fistelstimme ertönt. Aha, das ist vermeintliche Vollidiot.
„Vielleicht sollen wir doch einmal genauer in den Laderaum des Bus schauen, kurz mal die Decke dort auf der Bank lüpfen, dauert ja nicht länger als fünf Sekunden.“
Ein lautes Gebrüll eines Baritons erschallt. Dumpf und keinen Widerspruch duldend.
„Du machst jetzt gar nichts außer dich an das Lenkrad zu klemmen. Du hast schon genug Mist gebaut. Den Wirt gleich die Pistole unter die Nase zu halten. War das nötig gewesen?“
„Naja, der hät uns ganz schön gefährlich werden können.“
„Ach, du leidest doch unter Verfolgungswahn, Mann!“
„Nein, glaub ich nicht!“
„Dann unter anderen anderen Wahnvorstellungen! Auf jeden Fall unter unkontrollierten Kurzschlusshandlungen.“
Jetzt hört man, wie jemand gegen Blech schlägt, wahrscheinlich gegen die Karosserie. Oh Mann, hoffentlich lässt der mir das Auto heil, mein Chef wird ganz schön ärgerlich sein.
„Hörst ja die Sirenen! Ich habe die Schnauze voll von dir.“
„Wo?“
Jetzt hört ja endlich das Blechschlagen auf. Und Sirenen sind in der Ferne zu hören, gelobt sei's!
Nun sprechen sie nicht mehr. Lauschen wohl, ha ha! Jetzt geht es ihnen an den Kragen, jawohl!
„Tatsächlich. Sirenen!“
„Mann, lass uns keine Zeit vertrödeln. Die Bullen sind uns am Nacken.“
„Am Hals!“
„Hä!“
„Das heißt: Die Bullen sind uns am Hals, nicht am Nacken.“
„Nacken, Hals ist ja wohl das Gleiche!“
„Ja. Ungefähr. Es heißt aber trotzdem: Jemand hat man am Hals und nicht Nacken, verstehst!“
Der ist wirklich saudumm. Denn es stimmt nicht: Hals und Nacken sind nicht dasselbe. Außerdem stimmt das so auch nicht. Man kann doch die Faust im Nacken haben. Das hat er bestimmt gemeint damit. Aber er hat es nicht ausdrücken können und ist nun zu unrecht von dem Vollidioten gemaßregelt worden, tja.
„Was klugscheisserst du da noch lang rum, wenn uns die Bullen am Hals oder Nacken, verdammt, wie auch immer, sind, he! Du bist voll durchgeknallt, Mann. Dir ist die Pistole ins Gehirn gestiegen. Meinst, damit kann man alle Probleme lösen. Zumal so eine Lappalie mit dem Wirt. Wir wollten eh schon gehen, das wäre nicht nötig gewesen. Aber du musst den großen Macker mimen. Weil du jetzt ne Knarre, he. Du denkst, dass du dir jetzt alles erlauben kannst und andere nach deiner Pfeife tanzen!“
Dann krachte erneut Blech, aber noch dumpfer und noch härter. Er schlägt schon wieder gegen mein Auto, der Wahnsinnige.
„Dem Wirt die Knarre unter die Nase halten war nicht gut, sag ich dir! Damit hast du jetzt Hühner aufgescheucht!“ Es hört auf zu klopfen, gelobt sei's, was erzähle ich da nur meinem Chef morgen? Wenn alles gutgeht. Ernst reiß Dich am Riemen. Man lobe nicht den Tag vor dem Abend!
„Hühner aufscheuchen. Sprachlich korrekt – Respekt!“
„Ähm, ach so. Gut. Danke. Nein Mann, hör mal lieber in die Ferne, kannst du da überhaupt was hören oder bist du schon taub? Wundern würde es mich nicht, wenn du stattdessen über etwas wie „Hühner aufscheuchen“ grübelst.“
„Grübelst, auch gut!“
„Mann, hör endlich auf damit.“
O je, das klingt aber jetzt brutal.
„Ich stopf dir gleich das Maul. Verpiss dich lieber in den Fahrersitz, aber dalli!“
Erstaunlich, was die zu bereden haben, bedenkt man schließlich, unter welchen Umständen sie sich befinden. Die müssen es aber ganz schön nötig haben, ha!
Türknallen. Türöffnen. Türknallen. Zündschlüsselbetätigung, Motor springt an. Kupplung wird getreten, Gang krächzt im Getriebe.
Die kennen mein Fahrzeug nicht, logisch.
Aber jetzt fahren sie ja endlich los! Ist auch Zeit geworden.
Soll ich der Frau an die Füße fassen? Sicher, das beruhigt sie, wenn sie weiß, dass jemand bei ihr ist. Schreien kann sie nicht, sie hat einen Knebel im Mund. Also kann ich es machen.
Vorsicht, sie schlägt zurück. Aber jetzt hört sie auf. Zuerst hat sie sich gewehrt, bis sie gemerkt hat, dass ich es bin. Ihr. Ihr Retter, ihr Helfer, ihr Erlöser.
Hab Geduld, Mädel. Dein Messias kommt.
He, die fahr'n wie die gesenkten Säue, da muss mich irgendwo festhalten, sonst werd ich wie nasse Säcke hin und her geworfen. Ich leide eh schon wie Jesus am Kreuz. Fehlt nur noch der Essigschwamm im Mund.
Aua, bald spüre ich nichts mehr, nur noch ein großes Ziehen und Schmerzen im Schmerzzentrum. Ich werd zehn Kerzen in unserer Kirche opfern, wenn ich das heil übersteh, das schwöre ich!
Und ich merk schon, wie ich bald anfang zu weinen. Das ist nur der Schmerz! Ist aber immerhin besser als schrei'n!
Ruhig bleiben, auch wenn sie bei dem Tempo eh nichts hören.
Eigentlich läuft alles gut. Gut, dass ich meine Feinde so dicht bei mir habe. Jetzt können sie bestimmt nicht mehr entkommen und wegfahren.
Ha!
Und ich fühl mich so stark. Ja, ich bin kräftig. Ich bin stabil. Ich bin cool, weil diese Gefahr, diese Herausforderung, die macht mich so richtig stark.
Was für ein Heulen? Sirenen. Klar, die Polizei. Die hat der zusammengeschlagene Wirt gerufen und die schnappen mir jetzt den großen Hecht vor der Nase weg – wenn ich nicht schnell mach.
WER ZU SPÄT KOMMT, BESTRAFT DAS LEBEN!, sagte der 4. Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Willi Brandt zum Fall der Mauer.
Sagen wir „Wende“ oder „Fall der Mauer“?
Ach, liebe Cousine, nach diesem Abenteuer habe ich einige Fragen an dich.
Vergiss jetzt alles andere und fühl deine Stärke!
Ja, ich fühle sie, ich kann es, jetzt muss ich zuschlagen!
So, krieche ich aus meinem Versteck – he, ich tu's wirklich und bleib lieber auf allen Vieren, ja, ja, so ist's richtig und krabbel zum Vordersitz. Ja, die Knie tun nicht schlecht weh! Und jetzt mit dem Rücken an die Cockpitwand.
Geschafft! Hat auf die Frau bestimmt nicht so cool gewirkt, wie ich da auf den Knien durch den schaukelnden Bus gerutscht bin, oder? War aber effektiv.
Und nun?
Jetzt langsam, langsam aufstehen und dem Beifahrer mit irgendwas auf den Kopf schlagen.
Aber wie? Eher womit? Harter Gegenstand, wo bist du?
Ein Schraubenschlüssel wäre gut.
Aber wo hier?
Keine Ahnung, hm.
Oder 'n Drahtseil, irgendwas verdammt und zugenäht!
Tja, Präsidenten; Politiker müssen Ideen haben, jede Situation meistern, reagieren können, egal, was kommt.
So!
Mir fällt einfach nichts ein...
Aber ich bin stark, stark, und die Sirene wird lauter und lauter. Da traue ich mich aufzustehen.
Ja, aber ohne mit etwas zu schlagen hat auch keinen Sinn.
Wie die Frau mich anstarrt?
Ja, dein Retter naht! Ich bin es! Das kann ich dir leider nicht sagen. Aber, du weißt schon.
Vielleicht Daumen hoch, damit alles klar ist, wie Nero das gemacht hat und die Gladiatoren wussten, die Freiheit winkt.
Glaub mir, Sklavin, die Freiheit winkt!
Noch nicht, sie ist noch nicht frei. Die Hände sind nach hinten gefesselt, wahrscheinlich Kabelbinder.
Aber ich seh's genau, du hast verstanden.
Alles wird gut, Mädel!
Ja, nick nur kräftig, du hast Grund zur Freude.
Alles wird gut, bald bist du erlöst, aber übertreibe es nicht mit dem Nicken, sonst sehen es die Entführer im Rückspiegel und merken, dass etwas nicht stimmt.
Ich nehm lieber die flache Hand und senk sie. Bedeutung: Immer mit der Ruhe!
Siehst du, es ist gut, du beruhigst dich ...
Aber wo ist ein Gegenstand?
Auf dem Boden liegt nichts, was man benutzen könnte. Und an den Wänden hängen die Sachen der Handwerker. Eine Eisensäge, Bohrer, Zangen, Drahtschneider, Scheren, eine ölverschmierte Schürze. Andere Sachen sind Lederbeutel und Etuis, meist mit Klettverschluss. Wenn ich sie öffne, macht es ein Geräusch und ich verrate mich.
Aber ist es wirklich so laut? Sind die Fahrgeräusche nicht lauter?
Aber da liegt doch ein Eisenrohr.
Wenn ich mich aber bemüh, rutsch ich vielleicht. Wenn ich aufstehe und auf sie zugeh, sehen die mich im Rückspiegel. Vielleicht verlier ich das Gleichgewicht bei diesem Geschunckel und wumms lieg ich wieder flach wie Ebbe nach der Flut.
Ich habe aber keine Zeit mehr. Das ist das Problem. Ich muss jetzt reagieren, unbedingt und brauche jetzt einen harten Gegenstand, verflixt noch mal.
Das Heulen kommt immer näher. Wenn ich den Fahrer zum Anhalten bringe, habe ich gewonnen!
Moment, jetzt blüht euch etwa!
Ja, ich schaffe es trotz des Schaukelns aufzustehen und kann brüllen: „Halt, oder ich schlag zu!“
Ach, Mensch, bin ich blöd. Ich hab ja noch nichts zum Schlagen. Was jetzt?
Aber da falle ich über die Kante direkt auf den Beifahrer, das ist auch nicht gut!
Meine Füße hängen dem einen vor der Nase und vorm Gesicht, so dass ich ihm die Sicht versperre.
Und draußen schüttet es wie aus Eimern. Die Scheibenwischer kommen gar nicht nach. Die Sicht ist nicht frei. Ein Wasserfilm verdeckt die Scheiben.
Man sieht nicht genau, was vor einem passiert. Ist das nicht ein LKW, der auf uns zukommt?
Und der Idiot von Fahrer drückt jetzt noch voll aufs Pedal, statt auf die Bremse. Unter diesen Umständen ist es verdammt gefährlich so schnell zu fahren.
Das ist die reinste Kamikazifahrt!
Autsch, der greift mir brutal in die Seite.
Aber warte, dir tret ich ins Gesicht. Auch wenn du der Fahrer bist. Vielleicht bremst du dann endlich!
Tatsächlich, der tritt aber jetzt voll auf die Bremse, dieser Blödmann. Das Fahrzeug driftet nach links auf die andere Fahrbahn.
Zu spät!
Der dicke Brummer kommt auf uns zu. Er hupt. Er blinkt auf mit seinen großen Scheinwerfern, rauf und runter und …
Oh Mann oh Mann ...
21 . Wenn Engel im Himmel singen...
Als der Transporter gegen den LKW kracht, geht ein Ruck durch ihn und er wird mit solcher Wucht zur Seite geschleudert, dass er ein paar Mal um die eigene Achse wirbelt, während er sich durch das gerade gemähte Stoppelwiese pflügte. Dabei rattert er wie ein hämmernder Presslufthammer.
Es erfolgt kein Aufprall, kein Baum, Zaun oder Mäuerchen stellt sich ihm im Weg und nachdem sich das Fahrzeug ausgedrallt hat, kommt es zum Stehen.
Der Zusammenstoß ist so heftig gewesen, dass die Kühlerhaube bis zur Windschutzscheibe eingedrückt worden ist. Die Scheiben zersplittern, überall fliegen gefährliche Geschosse herum: Splitter und Trümmer aus Eisen und Plastik, die die Karosserie zusammenhalten. Fahrer und Beifahrer sind sofort tot. Ernst hat Glück und prallt über den Sitz nach hinten auf den Boden, mit einem Knall, einer Wucht und einem Schmerz, dass er das Bewusstsein verliert.
Die Krankenschwester ist unverletzt. Durch Schräglage und Verformung des Fahrzeugrahmen fällt sie vom Sitz Richtung Ernst. Sie entgeht nur einem Aufprall auf Ernst, indem es ihr gelingt, sich beim Fallen mit den Füßen voran an der Blechwand abzufangen und gleichzeitig die Beine zu spreizen. Der reglose Körper von Ernst liegt unversehrt zwischen ihren gespreizten Beinen.
Sie verharrt in dieser Stellung, die Schultern an den schiefen Karosserierahmen gelehnt. Ihr Rücken schmerzt in einem Punkt heftig, aber sie kann nicht zurückschauen. Ist es ein spitzer oder stumpfer Gegenstand, der sich in ihren Rücken bohrt und drückt? Sie verdreht die Augen, bis sie sieht, dass da zum Glück nichts ist, was den Schmerz verursacht. Sie hat nur Schmerzen.
Verkrampft, starr und steif liegt sie eine Weile in aufrechter Haltung über Ernst. Sie ist völlig gelähmt. Der Schock steckt ihr wie Blei in den Gliedern. Mit dem langsam zurückkehrenden Leben setzt ihr Verstand ein und sie denkt sofort an das Naheliegendste, an die Erstversorgung des Verletzten und will das tun, was unter diesen Umständen zu tun ist.
Aber - Erste Hilfe, Betreuung und medizinische Erstversorgung – wie ist das wieder?
Es ist lange her, dass sie in einer solchen Notsituation professionell gehandelt hat, muss sie sich eingestehen. Wird schon werden, das Wissen kommt mit dem Tun. Darauf muss sie zunächst vertrauen.
Zuerst fühlt sie mit dem Daumen den Puls von Ernst: noch intakt.
Das Gesicht war übersät von schrecklichen Platzwunden verschiedener Größe. Hämatome! Sein Atem rasselt wie ein Sägewerk, aber sie hat weder ein Stethoskop noch eine Sauerstoffmaske zur Hand. Sie kennt die Fachbegriffe, erkennt die Symptome, weiß, welche Werkzeuge es gibt, aber kann nichts tun. Ihr sind die Hände gebunden. Ein unangenehmes Gefühl.
In der Ferne der Ton einer Sirene. Sie atmet durch. Gerade noch rechtzeitig kam Hilfe. Wie kann sie jetzt noch helfen? Irgend etwas vorbereiten, was man tun muss, wenn ein Notarzt im Anzug ist.
Vielleicht erst einmal für frische Luft sorgen! Bewegung für den Verletzten! Auch für sich selbst.
Nicht vergessen, die Erstversorgung für Sanitäter und Notarzt, so gut wie möglich vorbereiten: Türen öffnen, freien Zugang zum Patienten schaffen ...
Sie bewegt sich zur klemmenden Tür, die trotz Drücken blockiert ist. In der fast waagrechten Lage und im schrägen Raum ist sie sehr eingeengt. Metallspitzen und Glassplitter liegen verstreut herum, so dass sie sich vorsichtig zur Tür bewegen muss, darauf bedacht, dass sich keines dieser heimtückischen Teile in ihr Haut bohrt. Mit spitzen Fingern auf Blechteile tastet sie sich vor, im Affengang der Schimpansen, Hände voran, Füße hinterher.
Die Tür ist verklemmt.
Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sie mit den Füßen aufzubrechen. Sie tritt so heftig gegen diese, dass sie sofort aufspringt. Das geht nicht ohne Lärm. Blech kann ganz schön laut sein!
Dumm, dass sie nicht daran gedacht hat und sich dabei nicht die Ohren zugehalten hat.
Vorsichtig schlüpft mit dem Hintern aus dem Bus und sowie sie den Boden unter den Füßen spürt, langt sie in den Bus hinein, um zwei Decken von der Sitzbank zu nehmen, eine auf dem schiefen Boden des Bus auszubreiten, die andere neben sich auf dem nassen Boden. Daraufhin krabbelt sie vorsichtig zu Ernst zurück. Sie packt ihn von hinten, mit den Händen unter dem Arm und schleift ihn langsam zur Tür. Als Erste kriecht sie aus dem Bus. Sie zieht dann den schweren Körper heraus und legt ihn auf die Decke am Boden.
Zum Glück hat der Regen aufgehört, es nieselt nur leicht.
Ernst hat die Augen geschlossen. Sie beugt sich über ihn und legt ihr Ohr an seine Brust, um seinen Herzschlag zu hören. Aber in dem Lärm um sie herum, ist sie sich nicht sicher, ob sie etwas gehört hat. Sie fühlt den Puls an seinem Hals und spürt, wie die Aorta unter ihren Fingern kräftig schlägt. Das ist beruhigend. Da ist noch viel Leben drin. Sie hebt die Lider und nähert sich den Pupillen, die ziemlich verengt und leblos sind.
Mensch, was bedeutet das?
Ein komatöser Zustand!
Sie überlegt, was zu tun ist. Ein Verbandskasten? Der Bus müsste doch einen haben. Aber wo? Vorne oder hinten, unter der Sitzbank, mit einem Gummiband befestigt?
Wieder hört sie schrille Signale.
Ein Krankenwagen rast heran, ein Mann springt vom Beifahrersitz, er trägt eine leuchtend rote Jacke. Ihm folgt auf der Fahrerseite ein anderer, er trägt eine leuchtend grüne Jacke und hält blinkende Warnlichter in Hand, mit denen er die Unfallstelle absichert.
Der erste ist inzwischen zum Heck des Rot-Kreuz-Busses geeilt, hat die Heckklappe geöffnet, ist in das Fahrzeug gesprungen und schließlich mit einem Rollwagen herausgekommen, mit dem er zu Ernst und der Krankenschwester fährt.
Die Schiebetür des Busses öffnet sich, ein weiß gekleideter Arzt springt heraus, gefolgt von zwei Sanitätern, die mit einem tragbaren Beatmungsgerät bewehrt sind, das sie über das Gesicht des Patienten stülpen und am Ohr hinten fixieren, damit es nicht durch die Fortbewegung verrutscht. Der Arzt hält ein Stethoskop auf Ernst nackte Brust, die aus seinem zerrissenem Hemd hervorschaut.
Es dauert einen Moment, bis er ein zufriedenes Gesicht macht.
Inzwischen spürt der Verunglückte, zerzaust und zerwühlt, zerkratzt und verwundet, den warmen Körper eines Menschen, der ihn umarmt, das beruhigende Streicheln einer Hand über seine erhitzte Stirn, den warmen Atem, der wie ein sanfter Windhauch aus seinem Mund in sein Gesicht weht. Er öffnet die Augen und blickt in ein Engelsgesicht. Die Muskeln entspannen sich, der Schmerz lässt nach, er bettet seinen Kopf in die Arme des Engels und lächelt selig.
Er hat immer gewusst, dass es einen Gott gibt und dass er in den Himmel kommen wird. Aber dass es so schön sein würde, dass er die Berührung eines anderen Wesens als so liebevoll, warmherzig und herzerwärmend erleben würde, wo er doch in seinem irdischen Dasein weiß Gott nicht mit körperlicher Zuneigung und Zärtlichkeit verwöhnt worden ist, das hätte er nicht im Geringsten geahnt.
Aber Engel.
Halt!
Vor lauter Glück wird er wieder ohnmächtig. Halbohnmächtig. Er will gar nicht aufwachen, so gut er sich.
Irgendwann muss auch der größte Held selbstkritisch werden. Sicher, seine Heldentat war nicht wie im Bilderbuch verlaufen, aber er hatte Heldenmut bewiesen. Schließlich war er es, der die Bösewichte zur Strecke gebracht hatte. Zwar mit viel Lärm, Blut und gebrochenen Rippen. Aber das Ziel war erreicht - und nur das zählte.
Er hat bewiesen, dass etwas in ihm steckt!
Weitere Heldentaten sollten folgen!
In Berlin und mit weniger Materialverschleiß, dafür mit mehr Worten, das wäre gewiss! Ob seine Partei ihn wegen dieser Heldentat als Kandidaten aufstellen wird? Sie muss! Man wird noch viel von ihm hören. Das ist gewiss!
Momentan liegt er noch wie tot auf dem Asphalt - keine Sorge, die Unfallstelle ist schon mit Absperrzäunen gesichert, wofür Männer des THW mit knallroten und knallgrünen Jacken sorgen. Zudem rennen weißgekleidete Sanitäter zwischen grell-blinkenden Blau- und Weißlicht der Rettungs- und Polizeiwagen herum. Ein großer blauer Bus des THW komplettiert das Sicherheitsszenario.
Dann wird der Patient in den Rettungswagen geschoben. Ein Bild der Hoffnung.
Die Krankenschwester keucht heftig, spürt die ganze Aufregung und fühlt sich so schwach, dass sie sich gegen das Blech des Transporters lehnen muss. Sie bekommt kaum noch Luft.
Langsam fährt der Bus an, im Schneckentempo, so dass man durch die noch offene Tür sehen kann, wie Ernst eine Druckmanschette um den Oberarm gelegt und ein Blutzuckersensor auf einen Zeigefinger gesetzt wird, bevor sich die Tür schließt. Der Bus fährt in einem Bogen los und als er beschleunigt, ertönt wieder das rot-blaue Martinshorn.
Es wuseln immer noch weiter viele Männer und Frauen herum. Leichen werden aus dem Wagen gezerrt, wozu sie freigelegt werden müssen. Funken von einer Flex sprühen, verbogene Blechteile werden von Hämmern abgeschlagen.
Plötzlich liegt ein Toter zu Füßen Hildes. Man hat ihn absichtslos hier abgelegt.
Es ist Bully.
Der Kopf ist sehr verrenkt, fast nicht mehr dran, jedenfalls sehr weit nach links gedreht. Die Halswirbelsäule scheint völlig überstreckt zu sein. Seine Augen sind weit aufgerissen mit einem wirren, toten Blick und Augäpfeln, die seitlich nach ganz oben gewandert sind, als wollten sie aus den Augenhöhlen fliehen. Das verzerrte Gesicht ist eine bösartige Fratze, die im Todeskampf die Zunge herausgestreckt hat.
Ein Arzt dreht ihn vom Rücken auf den Bauch.
Sie sieht, dass sein Rücken schwer verletzt ist, wahrscheinlich ist die Wirbelsäule gebrochen. Arme, Knöchel und Handgelenke sind bis zum Äußersten gebeugt, verrenkt und verschoben. Mehrere Körperteile sind plattgedrückt. Überall ist Rot, vom Blut und herausquellendem Fleisch.
Sie schließt die Augen. Sie spürt Erlösung. Aber keine Genugtuung.
Dazu müsste ein anderer hier zu ihren Füssen liegen. Müsste leiden, wie sie gelitten hat. Das war doch nur ein frommer Wunsch, oder?
Nächste zwei Kapitel nicht so relevant, stehen im E-book
https://www.neobooks.com/ebooks/werner- ... JQNBbdngtS
Es erfolgt kein Aufprall, kein Baum, Zaun oder Mäuerchen stellt sich ihm im Weg und nachdem sich das Fahrzeug ausgedrallt hat, kommt es zum Stehen.
Der Zusammenstoß ist so heftig gewesen, dass die Kühlerhaube bis zur Windschutzscheibe eingedrückt worden ist. Die Scheiben zersplittern, überall fliegen gefährliche Geschosse herum: Splitter und Trümmer aus Eisen und Plastik, die die Karosserie zusammenhalten. Fahrer und Beifahrer sind sofort tot. Ernst hat Glück und prallt über den Sitz nach hinten auf den Boden, mit einem Knall, einer Wucht und einem Schmerz, dass er das Bewusstsein verliert.
Die Krankenschwester ist unverletzt. Durch Schräglage und Verformung des Fahrzeugrahmen fällt sie vom Sitz Richtung Ernst. Sie entgeht nur einem Aufprall auf Ernst, indem es ihr gelingt, sich beim Fallen mit den Füßen voran an der Blechwand abzufangen und gleichzeitig die Beine zu spreizen. Der reglose Körper von Ernst liegt unversehrt zwischen ihren gespreizten Beinen.
Sie verharrt in dieser Stellung, die Schultern an den schiefen Karosserierahmen gelehnt. Ihr Rücken schmerzt in einem Punkt heftig, aber sie kann nicht zurückschauen. Ist es ein spitzer oder stumpfer Gegenstand, der sich in ihren Rücken bohrt und drückt? Sie verdreht die Augen, bis sie sieht, dass da zum Glück nichts ist, was den Schmerz verursacht. Sie hat nur Schmerzen.
Verkrampft, starr und steif liegt sie eine Weile in aufrechter Haltung über Ernst. Sie ist völlig gelähmt. Der Schock steckt ihr wie Blei in den Gliedern. Mit dem langsam zurückkehrenden Leben setzt ihr Verstand ein und sie denkt sofort an das Naheliegendste, an die Erstversorgung des Verletzten und will das tun, was unter diesen Umständen zu tun ist.
Aber - Erste Hilfe, Betreuung und medizinische Erstversorgung – wie ist das wieder?
Es ist lange her, dass sie in einer solchen Notsituation professionell gehandelt hat, muss sie sich eingestehen. Wird schon werden, das Wissen kommt mit dem Tun. Darauf muss sie zunächst vertrauen.
Zuerst fühlt sie mit dem Daumen den Puls von Ernst: noch intakt.
Das Gesicht war übersät von schrecklichen Platzwunden verschiedener Größe. Hämatome! Sein Atem rasselt wie ein Sägewerk, aber sie hat weder ein Stethoskop noch eine Sauerstoffmaske zur Hand. Sie kennt die Fachbegriffe, erkennt die Symptome, weiß, welche Werkzeuge es gibt, aber kann nichts tun. Ihr sind die Hände gebunden. Ein unangenehmes Gefühl.
In der Ferne der Ton einer Sirene. Sie atmet durch. Gerade noch rechtzeitig kam Hilfe. Wie kann sie jetzt noch helfen? Irgend etwas vorbereiten, was man tun muss, wenn ein Notarzt im Anzug ist.
Vielleicht erst einmal für frische Luft sorgen! Bewegung für den Verletzten! Auch für sich selbst.
Nicht vergessen, die Erstversorgung für Sanitäter und Notarzt, so gut wie möglich vorbereiten: Türen öffnen, freien Zugang zum Patienten schaffen ...
Sie bewegt sich zur klemmenden Tür, die trotz Drücken blockiert ist. In der fast waagrechten Lage und im schrägen Raum ist sie sehr eingeengt. Metallspitzen und Glassplitter liegen verstreut herum, so dass sie sich vorsichtig zur Tür bewegen muss, darauf bedacht, dass sich keines dieser heimtückischen Teile in ihr Haut bohrt. Mit spitzen Fingern auf Blechteile tastet sie sich vor, im Affengang der Schimpansen, Hände voran, Füße hinterher.
Die Tür ist verklemmt.
Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sie mit den Füßen aufzubrechen. Sie tritt so heftig gegen diese, dass sie sofort aufspringt. Das geht nicht ohne Lärm. Blech kann ganz schön laut sein!
Dumm, dass sie nicht daran gedacht hat und sich dabei nicht die Ohren zugehalten hat.
Vorsichtig schlüpft mit dem Hintern aus dem Bus und sowie sie den Boden unter den Füßen spürt, langt sie in den Bus hinein, um zwei Decken von der Sitzbank zu nehmen, eine auf dem schiefen Boden des Bus auszubreiten, die andere neben sich auf dem nassen Boden. Daraufhin krabbelt sie vorsichtig zu Ernst zurück. Sie packt ihn von hinten, mit den Händen unter dem Arm und schleift ihn langsam zur Tür. Als Erste kriecht sie aus dem Bus. Sie zieht dann den schweren Körper heraus und legt ihn auf die Decke am Boden.
Zum Glück hat der Regen aufgehört, es nieselt nur leicht.
Ernst hat die Augen geschlossen. Sie beugt sich über ihn und legt ihr Ohr an seine Brust, um seinen Herzschlag zu hören. Aber in dem Lärm um sie herum, ist sie sich nicht sicher, ob sie etwas gehört hat. Sie fühlt den Puls an seinem Hals und spürt, wie die Aorta unter ihren Fingern kräftig schlägt. Das ist beruhigend. Da ist noch viel Leben drin. Sie hebt die Lider und nähert sich den Pupillen, die ziemlich verengt und leblos sind.
Mensch, was bedeutet das?
Ein komatöser Zustand!
Sie überlegt, was zu tun ist. Ein Verbandskasten? Der Bus müsste doch einen haben. Aber wo? Vorne oder hinten, unter der Sitzbank, mit einem Gummiband befestigt?
Wieder hört sie schrille Signale.
Ein Krankenwagen rast heran, ein Mann springt vom Beifahrersitz, er trägt eine leuchtend rote Jacke. Ihm folgt auf der Fahrerseite ein anderer, er trägt eine leuchtend grüne Jacke und hält blinkende Warnlichter in Hand, mit denen er die Unfallstelle absichert.
Der erste ist inzwischen zum Heck des Rot-Kreuz-Busses geeilt, hat die Heckklappe geöffnet, ist in das Fahrzeug gesprungen und schließlich mit einem Rollwagen herausgekommen, mit dem er zu Ernst und der Krankenschwester fährt.
Die Schiebetür des Busses öffnet sich, ein weiß gekleideter Arzt springt heraus, gefolgt von zwei Sanitätern, die mit einem tragbaren Beatmungsgerät bewehrt sind, das sie über das Gesicht des Patienten stülpen und am Ohr hinten fixieren, damit es nicht durch die Fortbewegung verrutscht. Der Arzt hält ein Stethoskop auf Ernst nackte Brust, die aus seinem zerrissenem Hemd hervorschaut.
Es dauert einen Moment, bis er ein zufriedenes Gesicht macht.
Inzwischen spürt der Verunglückte, zerzaust und zerwühlt, zerkratzt und verwundet, den warmen Körper eines Menschen, der ihn umarmt, das beruhigende Streicheln einer Hand über seine erhitzte Stirn, den warmen Atem, der wie ein sanfter Windhauch aus seinem Mund in sein Gesicht weht. Er öffnet die Augen und blickt in ein Engelsgesicht. Die Muskeln entspannen sich, der Schmerz lässt nach, er bettet seinen Kopf in die Arme des Engels und lächelt selig.
Er hat immer gewusst, dass es einen Gott gibt und dass er in den Himmel kommen wird. Aber dass es so schön sein würde, dass er die Berührung eines anderen Wesens als so liebevoll, warmherzig und herzerwärmend erleben würde, wo er doch in seinem irdischen Dasein weiß Gott nicht mit körperlicher Zuneigung und Zärtlichkeit verwöhnt worden ist, das hätte er nicht im Geringsten geahnt.
Aber Engel.
Halt!
Vor lauter Glück wird er wieder ohnmächtig. Halbohnmächtig. Er will gar nicht aufwachen, so gut er sich.
Irgendwann muss auch der größte Held selbstkritisch werden. Sicher, seine Heldentat war nicht wie im Bilderbuch verlaufen, aber er hatte Heldenmut bewiesen. Schließlich war er es, der die Bösewichte zur Strecke gebracht hatte. Zwar mit viel Lärm, Blut und gebrochenen Rippen. Aber das Ziel war erreicht - und nur das zählte.
Er hat bewiesen, dass etwas in ihm steckt!
Weitere Heldentaten sollten folgen!
In Berlin und mit weniger Materialverschleiß, dafür mit mehr Worten, das wäre gewiss! Ob seine Partei ihn wegen dieser Heldentat als Kandidaten aufstellen wird? Sie muss! Man wird noch viel von ihm hören. Das ist gewiss!
Momentan liegt er noch wie tot auf dem Asphalt - keine Sorge, die Unfallstelle ist schon mit Absperrzäunen gesichert, wofür Männer des THW mit knallroten und knallgrünen Jacken sorgen. Zudem rennen weißgekleidete Sanitäter zwischen grell-blinkenden Blau- und Weißlicht der Rettungs- und Polizeiwagen herum. Ein großer blauer Bus des THW komplettiert das Sicherheitsszenario.
Dann wird der Patient in den Rettungswagen geschoben. Ein Bild der Hoffnung.
Die Krankenschwester keucht heftig, spürt die ganze Aufregung und fühlt sich so schwach, dass sie sich gegen das Blech des Transporters lehnen muss. Sie bekommt kaum noch Luft.
Langsam fährt der Bus an, im Schneckentempo, so dass man durch die noch offene Tür sehen kann, wie Ernst eine Druckmanschette um den Oberarm gelegt und ein Blutzuckersensor auf einen Zeigefinger gesetzt wird, bevor sich die Tür schließt. Der Bus fährt in einem Bogen los und als er beschleunigt, ertönt wieder das rot-blaue Martinshorn.
Es wuseln immer noch weiter viele Männer und Frauen herum. Leichen werden aus dem Wagen gezerrt, wozu sie freigelegt werden müssen. Funken von einer Flex sprühen, verbogene Blechteile werden von Hämmern abgeschlagen.
Plötzlich liegt ein Toter zu Füßen Hildes. Man hat ihn absichtslos hier abgelegt.
Es ist Bully.
Der Kopf ist sehr verrenkt, fast nicht mehr dran, jedenfalls sehr weit nach links gedreht. Die Halswirbelsäule scheint völlig überstreckt zu sein. Seine Augen sind weit aufgerissen mit einem wirren, toten Blick und Augäpfeln, die seitlich nach ganz oben gewandert sind, als wollten sie aus den Augenhöhlen fliehen. Das verzerrte Gesicht ist eine bösartige Fratze, die im Todeskampf die Zunge herausgestreckt hat.
Ein Arzt dreht ihn vom Rücken auf den Bauch.
Sie sieht, dass sein Rücken schwer verletzt ist, wahrscheinlich ist die Wirbelsäule gebrochen. Arme, Knöchel und Handgelenke sind bis zum Äußersten gebeugt, verrenkt und verschoben. Mehrere Körperteile sind plattgedrückt. Überall ist Rot, vom Blut und herausquellendem Fleisch.
Sie schließt die Augen. Sie spürt Erlösung. Aber keine Genugtuung.
Dazu müsste ein anderer hier zu ihren Füssen liegen. Müsste leiden, wie sie gelitten hat. Das war doch nur ein frommer Wunsch, oder?
Nächste zwei Kapitel nicht so relevant, stehen im E-book
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24 . Lieber rächen als klagen
Die Besucherin schleppt sich in den Büroraum, als hätte sie Bleiklumpen an den Schuhen. Die Kleider hängen locker an ihr, hier ein Knopf von der Bluse abgerissen, dort ein anderer in den falschen Haken gesteckt. Sie schlürft mit den Füßen, als könne sie sie vor Erschöpfung kaum heben. Dazu der gebeugte Rücken, auf dem zwei Zentner Betonsäcke lasten würden. Ein zu starkes Parfüm raubt einem den Atem.
Sie wirkte so verloren, als frage sie sich, was sie hier zu suchen habe.
Rasch erhob sich der Kriminalbeamte, ging um seinen großen Schreibtisch herum, stellte sich hinter sie und nahm ihr den Mantel ab. Er bat sie, Platz zu nehmen und angesichts ihrer steifen, abgehackten und unsicheren Bewegungen rückte er ihr den Stuhl aufmerksam zurecht. Sie plumpste darauf.
Ein Häufchen Elend.
Ein paar rote Kratzer auf der rechten Stirn. Die Haare stehen ab wie eine Krone. Unkontrolliert wandern die Hände mal hierhin, mal dorthin. Am Handgelenk eine fleischige, rosa-rote Schürfwunde, die an eine Fessel erinnert. Die Augen über den violett leuchtenden Krähenfüßen flackern unstet. Die Stirn ist in Falten gelegt.
Mit einem plötzlichen Ruck verschränkt sie die Finger wie zum Gebet und legt sie auf den Tisch.
Der Kriminalbeamte deutet das als Aufforderung, das Gespräch zu beginnen. Nur weiß er noch nicht, wie. Er ist befangen, kann sich noch nicht von der Peinlichkeit ihres Anblicks lösen.
Plötzlich kommt ihn eine Idee. Er muss sich vorher räuspern, als er sagt: „Möchten Sie einen Kaffee?“ Diese Ausflucht in ein konventionelles Handeln, war gut. Damit vermeidet er es, mit der Tür ins Haus zu fallen und gewinnt Zeit. Es ist klar, dass man mit diesem zerbrechlichen Wesen sehr vorsichtig umgehen muss.
Während der Kriminalbeamte alle Utensilien für den Kaffee herbeischafft, hat er Zeit, sich eine Strategie für das kommende Gespräch zu überlegen. Er tappt völlig im Dunkeln.
Der Anblick dieses Häufchens Elend scheint zu beweisen: Sie ist keine Täterin. Dazu ist sie schlecht weggekommen und zu sehr die Leidtragende der ganzen Unternehmung. Bei den Familienmitglieder dagegen, dem Arzt, seinem eigenartiger Bruder Ernst und dem Neffen, dem Polizisten, finden sich kaum körperliche Spuren der Entführung. Außer den oberflächlichen roten Striemen am Hals des Arztes ist das alles.
Aber sie hier. Allein psychisch. Soweit man das sagen kann. Nein, wirklich, so wie diese Frau auf ihn wirkt, muss man sagen: Es hat sie bis ins Mark hinein getroffen, was da in der letzten Woche vonstatten gegangen ist.
Aber nach einem Schluck kommt er zu dem Schluss, dass die Ermittlungen weitergehen müssen. Sonst müsste er diese Person erneut vorladen. Er hat nicht beliebig Zeit.
„Ich muss Ihnen ein paar Fragen zur Entführung stellen. Sind Sie damit einverstanden?“ Vorsichtiger geht es kaum.
Sie reagiert nicht, als wäre sie von einer dicken Mauer umgehen. Ist die Frage überhaupt zu ihr durchgedrungen? Ihre Finger krallen sich krampfhaft um den Henkel der Tasse und sind schweißnass. Ihr Kopf schwankt leicht.
Gleichgewichtsstörungen? Oder von den Tabletten, den Beruhigungs- oder Schmerzmitteln?
„Ich verstehe, dass es Ihnen nach dem, was Sie durchgemacht haben, schwerfällt, meine Fragen zu beantworten, aber leider muss es sein. Ich muss ermitteln. Ich hoffe, Sie verstehen? ...“
Das war jetzt ein taktischer Fehler: Mit „ich“ zu sprechen. Es ist immer besser, das unpersönliche Pronomen „man“ zu verwenden. Das klang nach Sachzwang. Und das war es hier auch, könnte man sagen.
In Wirklichkeit wusste er überhaupt nicht, in welche Richtung seine Fragen gehen sollten. Aber das war ein anderes Problem. In dem er allgemein formulierte, hoffte er wenigstens Stichworte zu erhalten, auf die er sich beziehen und an die er anknüpfen konnte.
Woher kamen die Verbrecher? Wie wurden sie von ihnen entdeckt? Sackelzement, irgendetwas in dieser Richtung.
Er atmet auf, als er endlich eine zaghafte Stimme vernimmt, die ihn etwas fragt, wenn auch nur ganz allgemein. Die Frage deutet an, dass sie nur gestellt wurde, damit die Fragende die bedrückende Stille, die auf ihr lastet, etwas auflockern kann.
„Wie ist der Stand der Ermittlungen?“
Was denn genau sagen?
„Wir tappen ziemlich im Dunkeln, muss ich gestehen.“
Er wiederholt sich sogar: "Ja, wir tappen noch ziemlich im Dunkeln, muss ich gestehen."
Soll er seine Vermutung einer Verschwörung noch andeuten?
"Aber alles deutet darauf hin, dass es sich um eine geplante Tat, ein ausgeheckter Komplott gehandelt haben muss."
In dieser Aussage schwingt Zuversicht mit, mehr noch, die Gewissheit, dass der Ermittler bereits belastende Beweise in der Hand hält. Doch dem ist nicht so.
Der Kriminalbeamte beginnt wieder zu zweifeln, ob das nicht sein zweiter taktischer Fehler war.
Zu spät.
Schließlich hat er keine Namen von Personen genannt, zum Beispiel den Arzt, den Verkehrspolizisten, den verrückten Bruder. Außerdem könnte es ja sein, dass unbekannte Dritte im Hintergrund die Fäden gezogen haben. Aber sehr unwahrscheinlich!
Das war wieder ein Versuch der Selbstbeschwichtigung gewesen, musste er sich eingestehen.
Aber auch die Krankenschwester selbst könnte doch dahinter stecken.
Ihre Verletzungen, die dagegen sprachen?
Na ja, vielleicht war ihre selbst geplante Entführung aus dem Ruder gelaufen und sie hatte ungeplant einiges abbekommen.
Wer weiß?
Alles ist möglich!
'Mensch, du bist Profi, da musst du doch auf alles vorbereitet sein!'
Die Krankenschwester starrt aus dem Fenster, als wäre sie nicht da. An ihrem Blick konnte man kaum erkennen, ob sie nachdachte, ob sie etwas beschäftigte, ob überhaupt etwas in ihr vorging. Genauso gut konnte sie an gar nichts denken, so starr war die Gesichtsmaske.
Doch plötzlich bewegte sich etwas in ihrem Gesicht, ja, sie begann offensichtlich nachzudenken. Ihre Augen wurden schmaler. Es schien, als versuche sie nachzuspüren, was ihr verloren gegangen war. Hoffentlich dachte sie über das Geschehene nach.
Sie dachte in der Tat nach, aber über etwas, von dem die Vermutungen des Kriminalbeamten meilenweit entfernt waren. Um Rache kreisten ihre Gedanken. Nur darum.
'Wie kann ich mich rächen? Rächen. Rächen.'
Endlich fiel ihr Blick auf ihr Gegenüber.
„Ja!“, sagt sie. „Diese Entführung könnte ein abgekartetes Spiel gewesen sein. Dieser Ernst hat sich so merkwürdig verhalten.“
Der Polizist beugt sich vor. Er ist gespannt wie ein Flitzebogen. Jetzt kommt etwas, endlich wird es heiß.
„Wie?“
Zuerst kommt nichts. Er muss sie anscheinend anstupsen, ermutigen, also nickt er jetzt übertrieben. Immer wieder. Er sagt jetzt nichts wie zum Beispiel: „Was, sagen Sie schon!“ Das wäre kontraproduktiv.
Tatsächlich redet jetzt die Schwester von sich aus.
„Als wäre er ein Held, ein Retter, ein Lebensretter."
„Was wollen Sie damit andeuten?“ Es kommt verzögert, er will sie ja nicht gleich entmutigen, da sie schon einmal angefangen hat, überhaupt zu reden.
Es kommt die langsam gesprochene, aber sehr bestimmt klingende Antwort: „Der ist nicht normal! Größenwahnsinnig ...“
Dann erstirbt ihre Redefreudigkeit wieder und endet mit einem stummen Blick aus dem Fenster, über die grauen Haare des Beamten hinweg.
Natürlich waren sie und Ernst sich inzwischen näher gekommen. Sie hatten ein fast freundschaftliches Verhältnis. Sie hatte sich auch nach dem Unfall weiter pflegerisch um ihn gekümmert, der durch schwere Schürfwunden und Prellungen verletzt und geschwächt war. Sie besuchte ihn regelmäßig an seinem Krankenbett in dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete. Sie pflegte also eine lose Verbindung zu ihm. Und mittlerweile besuchte er sie nun regelmäßig in ihrem Schwesternwohnheim, das dem Krankenhaus angeschlossen war und nicht nur, wenn zur medizinischen Nachbehandlung dorthin musste.
Warum sie sich auf ihn einließ, weiß sie nicht genau. Bestimmt wieder ihr Helfersyndrom. Denn auch ihr ging es schlecht. Auch sie hätte Ruhe, Erholung und Schonung gebraucht.
Aber sie fühlt sich nicht als Verräterin, wenn sie sagt, dass Ernst etwas seltsam, labil und psychisch krank ist. Schließlich gehört er zur Familie jenes Mannes, der ihr so übel mitgespielt hat, jenes Chefarztes, der sich ihrem Schicksal gegenüber so gleichgültig, gefühllos und tatenlos gezeigt hat. Die bestialischen Vergewaltigungen, Demütigungen und Erniedrigungen, denen sie ausgesetzt war, hatten ihn völlig kalt gelassen.
Seine Gleichgültigkeit hat sie bis heute nicht verwunden. Im Gegenteil, das Geschehene brennt wie eine infektiöse Wunde.
Und der Arzt musste für all das büßen, das wurde ihr immer klarer – und wenn es dabei seinen Bruder traf, diesen Ernst, dann traf es auch ihn. Also war es richtig, dass sie ihn verriet, dass sie ihn schlecht machte, wenn sie behauptete, Ernst sei nicht normal. Es stimmte schließlich auch.
Der Polizist hatte sich inzwischen zurückgelehnt und sich seine eigenen Gedanken gemacht.
Er meinte, die Behauptung, Ernst sei nicht ganz richtig im Kopf, passe trotzdem ganz gut in seine Version, dass alles geplant gewesen sei. Auch wenn die Entführung im Grunde genommen ein einziges Desaster gewesen ist. Natürlich gingen sie vom Gegenteil aus. Dass alles klappen würde.
Aber recht besehen, konnte das von vornherein nicht gutgehen. Mit diesen Stümpern von Entführern, diesen Drogensüchtigen und Kleinkriminellen wie sie im Buche stehen.
Verdächtig war doch, dass dieser Ernst, den er bislang nur ein einziges Mal erlebt hatte, trotz der desaströsen Begebenheiten ziemlich fröhlich, geradezu euphorisch wirkte. Weil der Plan, den sie unter sich Brüdern ausgeheckt hatten, aufgegangen war? Zum Ende. Letztendlich. Und vor allem, weil er jetzt bald nach Berlin kommen konnte?! Das war es doch, was diesen Ernst antrieb, diese politische Karriere in Berlin.
War die Entführung die Voraussetzung dafür?
Damit hätten die Brüderbande ihr Ziel erreicht.
Hm?
Aber! Großes Aber!! Sehr großes!!!
Es klingelt.
„Entschuldigung!“
Während er spricht, blickt er direkt in die Augen der Krankenschwester und sie blickt zurück. Wahrscheinlich dreht sich das Gespräch um sie. Ja, sie glaubt wohl zu wissen, wer der Anrufer ist.
Das ist empörend, sehr empörend.
Der Kriminalbeamte schaut jetzt ein paar Mal ganz schüchtern in die eine oder andere Ecke, was ihre Vermutung bestätigt.
Ihr Zorn, ihr Hass, ihre Rachsucht wachsen.
Der Beamte legt auf, die Krankenschwester sagt: „Ich glaube zu wissen, wovon Sie gesprochen haben.“
Er schaut sie einen Moment fragend an, antwortet aber nicht.
Jetzt hat sie Sicherheit.
„Habe ich recht?“
„Wie meinen Sie?“
Was sie noch mehr ärgert, dass der Beamte, obwohl er genau weiß, was sie andeutet, Mein-Name-ist-Hase-ich-weiß-von-nichts spielt.
„Sie haben über ein Video gesprochen.“
Zögernd stimmt er zu. Einerseits ist es ihm hochnotpeinlich, andererseits weiß er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, was es mit ihr gemacht hat. Er hätte besser getan zu schweigen.
Damit war es klar für die Krankenschwester. Sie platz vor Ärger und Wut. Die Finger ihrer Hand krallen sich in das Fleisch der Handinnenfläche, ihre Handknochen sind leichenblass. 'Ich muss mich rächen, rächen, an ihm rächen...'
Sie wirkte so verloren, als frage sie sich, was sie hier zu suchen habe.
Rasch erhob sich der Kriminalbeamte, ging um seinen großen Schreibtisch herum, stellte sich hinter sie und nahm ihr den Mantel ab. Er bat sie, Platz zu nehmen und angesichts ihrer steifen, abgehackten und unsicheren Bewegungen rückte er ihr den Stuhl aufmerksam zurecht. Sie plumpste darauf.
Ein Häufchen Elend.
Ein paar rote Kratzer auf der rechten Stirn. Die Haare stehen ab wie eine Krone. Unkontrolliert wandern die Hände mal hierhin, mal dorthin. Am Handgelenk eine fleischige, rosa-rote Schürfwunde, die an eine Fessel erinnert. Die Augen über den violett leuchtenden Krähenfüßen flackern unstet. Die Stirn ist in Falten gelegt.
Mit einem plötzlichen Ruck verschränkt sie die Finger wie zum Gebet und legt sie auf den Tisch.
Der Kriminalbeamte deutet das als Aufforderung, das Gespräch zu beginnen. Nur weiß er noch nicht, wie. Er ist befangen, kann sich noch nicht von der Peinlichkeit ihres Anblicks lösen.
Plötzlich kommt ihn eine Idee. Er muss sich vorher räuspern, als er sagt: „Möchten Sie einen Kaffee?“ Diese Ausflucht in ein konventionelles Handeln, war gut. Damit vermeidet er es, mit der Tür ins Haus zu fallen und gewinnt Zeit. Es ist klar, dass man mit diesem zerbrechlichen Wesen sehr vorsichtig umgehen muss.
Während der Kriminalbeamte alle Utensilien für den Kaffee herbeischafft, hat er Zeit, sich eine Strategie für das kommende Gespräch zu überlegen. Er tappt völlig im Dunkeln.
Der Anblick dieses Häufchens Elend scheint zu beweisen: Sie ist keine Täterin. Dazu ist sie schlecht weggekommen und zu sehr die Leidtragende der ganzen Unternehmung. Bei den Familienmitglieder dagegen, dem Arzt, seinem eigenartiger Bruder Ernst und dem Neffen, dem Polizisten, finden sich kaum körperliche Spuren der Entführung. Außer den oberflächlichen roten Striemen am Hals des Arztes ist das alles.
Aber sie hier. Allein psychisch. Soweit man das sagen kann. Nein, wirklich, so wie diese Frau auf ihn wirkt, muss man sagen: Es hat sie bis ins Mark hinein getroffen, was da in der letzten Woche vonstatten gegangen ist.
Aber nach einem Schluck kommt er zu dem Schluss, dass die Ermittlungen weitergehen müssen. Sonst müsste er diese Person erneut vorladen. Er hat nicht beliebig Zeit.
„Ich muss Ihnen ein paar Fragen zur Entführung stellen. Sind Sie damit einverstanden?“ Vorsichtiger geht es kaum.
Sie reagiert nicht, als wäre sie von einer dicken Mauer umgehen. Ist die Frage überhaupt zu ihr durchgedrungen? Ihre Finger krallen sich krampfhaft um den Henkel der Tasse und sind schweißnass. Ihr Kopf schwankt leicht.
Gleichgewichtsstörungen? Oder von den Tabletten, den Beruhigungs- oder Schmerzmitteln?
„Ich verstehe, dass es Ihnen nach dem, was Sie durchgemacht haben, schwerfällt, meine Fragen zu beantworten, aber leider muss es sein. Ich muss ermitteln. Ich hoffe, Sie verstehen? ...“
Das war jetzt ein taktischer Fehler: Mit „ich“ zu sprechen. Es ist immer besser, das unpersönliche Pronomen „man“ zu verwenden. Das klang nach Sachzwang. Und das war es hier auch, könnte man sagen.
In Wirklichkeit wusste er überhaupt nicht, in welche Richtung seine Fragen gehen sollten. Aber das war ein anderes Problem. In dem er allgemein formulierte, hoffte er wenigstens Stichworte zu erhalten, auf die er sich beziehen und an die er anknüpfen konnte.
Woher kamen die Verbrecher? Wie wurden sie von ihnen entdeckt? Sackelzement, irgendetwas in dieser Richtung.
Er atmet auf, als er endlich eine zaghafte Stimme vernimmt, die ihn etwas fragt, wenn auch nur ganz allgemein. Die Frage deutet an, dass sie nur gestellt wurde, damit die Fragende die bedrückende Stille, die auf ihr lastet, etwas auflockern kann.
„Wie ist der Stand der Ermittlungen?“
Was denn genau sagen?
„Wir tappen ziemlich im Dunkeln, muss ich gestehen.“
Er wiederholt sich sogar: "Ja, wir tappen noch ziemlich im Dunkeln, muss ich gestehen."
Soll er seine Vermutung einer Verschwörung noch andeuten?
"Aber alles deutet darauf hin, dass es sich um eine geplante Tat, ein ausgeheckter Komplott gehandelt haben muss."
In dieser Aussage schwingt Zuversicht mit, mehr noch, die Gewissheit, dass der Ermittler bereits belastende Beweise in der Hand hält. Doch dem ist nicht so.
Der Kriminalbeamte beginnt wieder zu zweifeln, ob das nicht sein zweiter taktischer Fehler war.
Zu spät.
Schließlich hat er keine Namen von Personen genannt, zum Beispiel den Arzt, den Verkehrspolizisten, den verrückten Bruder. Außerdem könnte es ja sein, dass unbekannte Dritte im Hintergrund die Fäden gezogen haben. Aber sehr unwahrscheinlich!
Das war wieder ein Versuch der Selbstbeschwichtigung gewesen, musste er sich eingestehen.
Aber auch die Krankenschwester selbst könnte doch dahinter stecken.
Ihre Verletzungen, die dagegen sprachen?
Na ja, vielleicht war ihre selbst geplante Entführung aus dem Ruder gelaufen und sie hatte ungeplant einiges abbekommen.
Wer weiß?
Alles ist möglich!
'Mensch, du bist Profi, da musst du doch auf alles vorbereitet sein!'
Die Krankenschwester starrt aus dem Fenster, als wäre sie nicht da. An ihrem Blick konnte man kaum erkennen, ob sie nachdachte, ob sie etwas beschäftigte, ob überhaupt etwas in ihr vorging. Genauso gut konnte sie an gar nichts denken, so starr war die Gesichtsmaske.
Doch plötzlich bewegte sich etwas in ihrem Gesicht, ja, sie begann offensichtlich nachzudenken. Ihre Augen wurden schmaler. Es schien, als versuche sie nachzuspüren, was ihr verloren gegangen war. Hoffentlich dachte sie über das Geschehene nach.
Sie dachte in der Tat nach, aber über etwas, von dem die Vermutungen des Kriminalbeamten meilenweit entfernt waren. Um Rache kreisten ihre Gedanken. Nur darum.
'Wie kann ich mich rächen? Rächen. Rächen.'
Endlich fiel ihr Blick auf ihr Gegenüber.
„Ja!“, sagt sie. „Diese Entführung könnte ein abgekartetes Spiel gewesen sein. Dieser Ernst hat sich so merkwürdig verhalten.“
Der Polizist beugt sich vor. Er ist gespannt wie ein Flitzebogen. Jetzt kommt etwas, endlich wird es heiß.
„Wie?“
Zuerst kommt nichts. Er muss sie anscheinend anstupsen, ermutigen, also nickt er jetzt übertrieben. Immer wieder. Er sagt jetzt nichts wie zum Beispiel: „Was, sagen Sie schon!“ Das wäre kontraproduktiv.
Tatsächlich redet jetzt die Schwester von sich aus.
„Als wäre er ein Held, ein Retter, ein Lebensretter."
„Was wollen Sie damit andeuten?“ Es kommt verzögert, er will sie ja nicht gleich entmutigen, da sie schon einmal angefangen hat, überhaupt zu reden.
Es kommt die langsam gesprochene, aber sehr bestimmt klingende Antwort: „Der ist nicht normal! Größenwahnsinnig ...“
Dann erstirbt ihre Redefreudigkeit wieder und endet mit einem stummen Blick aus dem Fenster, über die grauen Haare des Beamten hinweg.
Natürlich waren sie und Ernst sich inzwischen näher gekommen. Sie hatten ein fast freundschaftliches Verhältnis. Sie hatte sich auch nach dem Unfall weiter pflegerisch um ihn gekümmert, der durch schwere Schürfwunden und Prellungen verletzt und geschwächt war. Sie besuchte ihn regelmäßig an seinem Krankenbett in dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete. Sie pflegte also eine lose Verbindung zu ihm. Und mittlerweile besuchte er sie nun regelmäßig in ihrem Schwesternwohnheim, das dem Krankenhaus angeschlossen war und nicht nur, wenn zur medizinischen Nachbehandlung dorthin musste.
Warum sie sich auf ihn einließ, weiß sie nicht genau. Bestimmt wieder ihr Helfersyndrom. Denn auch ihr ging es schlecht. Auch sie hätte Ruhe, Erholung und Schonung gebraucht.
Aber sie fühlt sich nicht als Verräterin, wenn sie sagt, dass Ernst etwas seltsam, labil und psychisch krank ist. Schließlich gehört er zur Familie jenes Mannes, der ihr so übel mitgespielt hat, jenes Chefarztes, der sich ihrem Schicksal gegenüber so gleichgültig, gefühllos und tatenlos gezeigt hat. Die bestialischen Vergewaltigungen, Demütigungen und Erniedrigungen, denen sie ausgesetzt war, hatten ihn völlig kalt gelassen.
Seine Gleichgültigkeit hat sie bis heute nicht verwunden. Im Gegenteil, das Geschehene brennt wie eine infektiöse Wunde.
Und der Arzt musste für all das büßen, das wurde ihr immer klarer – und wenn es dabei seinen Bruder traf, diesen Ernst, dann traf es auch ihn. Also war es richtig, dass sie ihn verriet, dass sie ihn schlecht machte, wenn sie behauptete, Ernst sei nicht normal. Es stimmte schließlich auch.
Der Polizist hatte sich inzwischen zurückgelehnt und sich seine eigenen Gedanken gemacht.
Er meinte, die Behauptung, Ernst sei nicht ganz richtig im Kopf, passe trotzdem ganz gut in seine Version, dass alles geplant gewesen sei. Auch wenn die Entführung im Grunde genommen ein einziges Desaster gewesen ist. Natürlich gingen sie vom Gegenteil aus. Dass alles klappen würde.
Aber recht besehen, konnte das von vornherein nicht gutgehen. Mit diesen Stümpern von Entführern, diesen Drogensüchtigen und Kleinkriminellen wie sie im Buche stehen.
Verdächtig war doch, dass dieser Ernst, den er bislang nur ein einziges Mal erlebt hatte, trotz der desaströsen Begebenheiten ziemlich fröhlich, geradezu euphorisch wirkte. Weil der Plan, den sie unter sich Brüdern ausgeheckt hatten, aufgegangen war? Zum Ende. Letztendlich. Und vor allem, weil er jetzt bald nach Berlin kommen konnte?! Das war es doch, was diesen Ernst antrieb, diese politische Karriere in Berlin.
War die Entführung die Voraussetzung dafür?
Damit hätten die Brüderbande ihr Ziel erreicht.
Hm?
Aber! Großes Aber!! Sehr großes!!!
Es klingelt.
„Entschuldigung!“
Während er spricht, blickt er direkt in die Augen der Krankenschwester und sie blickt zurück. Wahrscheinlich dreht sich das Gespräch um sie. Ja, sie glaubt wohl zu wissen, wer der Anrufer ist.
Das ist empörend, sehr empörend.
Der Kriminalbeamte schaut jetzt ein paar Mal ganz schüchtern in die eine oder andere Ecke, was ihre Vermutung bestätigt.
Ihr Zorn, ihr Hass, ihre Rachsucht wachsen.
Der Beamte legt auf, die Krankenschwester sagt: „Ich glaube zu wissen, wovon Sie gesprochen haben.“
Er schaut sie einen Moment fragend an, antwortet aber nicht.
Jetzt hat sie Sicherheit.
„Habe ich recht?“
„Wie meinen Sie?“
Was sie noch mehr ärgert, dass der Beamte, obwohl er genau weiß, was sie andeutet, Mein-Name-ist-Hase-ich-weiß-von-nichts spielt.
„Sie haben über ein Video gesprochen.“
Zögernd stimmt er zu. Einerseits ist es ihm hochnotpeinlich, andererseits weiß er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, was es mit ihr gemacht hat. Er hätte besser getan zu schweigen.
Damit war es klar für die Krankenschwester. Sie platz vor Ärger und Wut. Die Finger ihrer Hand krallen sich in das Fleisch der Handinnenfläche, ihre Handknochen sind leichenblass. 'Ich muss mich rächen, rächen, an ihm rächen...'
25 . Wie man Öl ins Feuer schütten
Der scharfsinnige Kommissar kam plötzlich ins Grübeln.
Weshalb durfte die Krankenschwester die Flüchteten begleiten und nicht der Arzt? Wäre dieser nicht das größere Faustpfand gewesen? Von ihm, vielmehr seiner Familie hatten sie das Lösegeld erhalten und sollte es zu Zwischenfällen kommen, konnten sie vielleicht noch mehr erpressen. Warum hatten sie sich nicht gesagt und dementsprechend gehandelt: Wir nehmen den Arzt als den wertvolleren Menschen auf unsere Flucht mit.
Vielleicht, weil sie mit den beiden Entführern unter einer Decke steckte? Immerhin hatte sie die meiste Zeit der Gefangenennahme unmittelbar mit ihnen verbracht, in der Küche, angeblich in der engen Besenkammer eingesperrt, aber wer wusste dies schon genau, dafür gab es keinen Zeugen, der die Dinge so berichten könnte, dass man sie richtig einordnen konnte.
Schon eigenartig.
Sie war ja bereits als Ehebrecherin entlarvt worden. Insofern lag es allzu nahe, anzunehmen, dass sie, da sie auf sexuellem Gebiet gute Fähigkeiten aufzuweisen hatte … Nein, er ist sehr wohl weit davon entfernt, diese Eigenschaft als Indiz für kriminelle Energie einzuordnen, aber na ja! Das Umfeld, der Rahmen, in dem sich diese Entführung abspielte, nämlich, dass sie gerade zu dem Zeitpunkt geschah, als diese sexuelle Geschichte im Cabrio stattfand, scheint doch auf eine gewisse moralische Verrohung hinzudeuten. Wie sollte er sich ausdrücken: Wer so weit ging, sich in eine Ehe einzumischen, dem fehlte schon ein gut Teil normales Gewissen.
Das wirkte sehr verdächtig.
Narben frischer Wunden würde er aufschürfen, in schlecht verheilte herumstochern, bereits bandagierte Glieder erneut brechen – aber die Wahrheit musste ans Licht. Pflicht ist Pflicht. Schließlich müsse er als Staatsdiener, jede Missetat zur Anzeige bringen, auf dass sie abgeurteilt werde. Klar, der Mensch, er ist ein fühlendes Individuum, aber letztlich ...
Er bestellte das Opfer erneut ein. Jetzt war sie Täterin, vielmehr noch Verdächtige.
"Warum musste ich noch einmal kommen?"
Er war nicht blind, nahm sehr wohl wahr, dass die Vernommene immer noch sehr mitgenommen wirkte oder - es spielte? Was hatte er in seiner Laufbahn nicht schon alles für Simulanten erlebt?
Da er wusste, dass er ein einfühlsamer, gefühlvoller Mensch war, eigentlich zu sehr, gab es nur eins: Cool bleiben, Empathie so weit wie möglich zurückzufahren. Keine einfache Sache, aber für einen Profi nicht völlig unmöglich.
Doch er hatte ein schwerwiegendes Argument, ein Indiz für die Kumpanei der betroffenen Personen.
Im Obduktionsbericht der Verunglückten war der Hinweis einer Tätowierung auf den Arm einer toten Person: Diese Liebe werde ich niemals bereuen - mit dem Logo von einem einheimischen Fußballclub. Es kam ihm, wie ein Blitz: Wo hatte er diesen Spruch schon einmal gesehen? Er brauchte nicht lang warten, bis er sich erinnerte: Bei der Krankenschwester. Er las genau noch einmal nach: Am linken Unterarm des Toten. Allein schon deshalb musste sie einberufen werden, um ihre Stelle der Tätowierung festzustellen.
"Ich wette, es ist die Gleiche", sagte er sich.
Der Polizist fällt mit der Tür ins Haus.
"Ich frage mich, warum die Entführer Sie zum Flughafen mitnahmen und nicht ihren Freund, den Arzt?“
"Er ist nicht mein Freund!", kam es abwehrend, kein Wunder, nach allem, was ihr jener während der Entführung angetan hatte, oder besser gesagt, nach allem, was er nicht getan hatte. Vergeblich bemühte sie sich, die Sache richtig zu stellen, fand aber keine Worte, stammelte herum: "Also ..."
Das machte sie in den Augen des Kommissars sofort verdächtig.
'Aha, sie weicht meiner Frage aus, sie weiß nicht, mit wem sie es hier zu tun hat. Dafür musst du früher aufstehen, nicht bei mir, einem echten Profi." Während sie noch um den heißen Brei herumredete, starrte er auf hren linken Unterarm und siehe da: die gleiche Tätowierung. Er fühlte sich bestätigt. Jetzt hieß es volle Kraft voraus.
Er lehnte sich zurück und schnellte abrupt nach vorne, als er die nächste Frage herausschleuderte: " ...“
Während sie mit Fragen bombardiert wurde, begriff Hilde allmählich, in welcher Situation sie sich befand. Sie war bei der Entführung wirklich tausend Tode gestorben und obendrein wurde sie hier und jetzt unschuldig so behandelt, als hätte sie diese Qualen anderen zugefügt, als sei sie die Täterin, sie eine Verbrecherin!
Hilde war jedoch nicht dumm. Allmählich, auch das war schmerzlich, wurde sie sich ihrer Rolle hier bewusst. Sie wurde peinlich genau auf Herz und Nieren bezüglich kriminellen Machenschaften abgecheckt und gequält, während sie gleichzeitig völlig „am Arsch“ war.
Mensch, was hilft es da, wenn man versteht, dass die Polizei ihre Pflicht tut und du darunter wie ein Schwein leidest? Man fühlt nur Wut und Zorn!
Doch die Hände waren ihr gebunden. Durchstehen! - das war die einzige Lösung.
Unmerklich lenkte sie ihre Wut auf eine andere Person, auf denjenigen, der hinter der ganzen Sache steckte. Natürlich waren die Entführer schuld an dem ganzen Fiasko. Hätten sie nicht die Entführung gemacht, hätte sie nicht diese schreckliche Seite des Arztes kennengelernt, seine wahren Natur. Zunächst gab sie wegen der Entführung den Verbrechern die Schuld. Sie hatten sie misshandelt und vergewaltigt, stimmt schon!
Wieder überfiel sie ein Blitzgewitter der einen oder anderen demütigenden Erfahrung.
Aber: Die leben nicht mehr, hatten ihre mehr oder weniger gerechte Strafe bekommen und waren raus aus dem Spiel.
Wer aber noch lebte, das war der Arzt.
Der hatte sich ihr gegenüber in einer Weise gezeigt, die sich völlig überrascht hat.
Aber bei klaren Verstand bleiben, Hilde.
Aber doch, er hatte letztlich am meisten Dreck am Stecken.
Wenn er nicht das Schwarzgeld dabei gehabt hätte, auf das die Entführer gestoßen waren, wäre der Stein gar nichts ins Rollen gekommen. Sie wären nur mit einem Schrecken davongekommen. So aber.
Ja, und dann erst!
Gerade sein Verhalten, seine Gefühlskälte gegenüber, seine Geringschätzung und Gleichgültigkeit ihr, der Geschundenen, gegenüber!
Sie dachte insbesondere an den seelischen Striptease, an die Offenbarung ihres Wunsches, von ihm geheiratet zu werden.
Das war so etwas von beschämend!
Sie fühlte sich plötzlich in einem siedenden Geysirestrahl des Hasses brennen: Wie sie sich zum Narren und dummen Landei gemacht hatte - dass, dass er jetzt dafür büßen müsse! Blut schoss ihr in den Kopf und sie drehte sich ein wenig zur Seite, kniff mit den Fingern in die Lippen - der Schmerz tat gut - und schüttelte ihr langes, gewelltes Haar ins Gesicht, damit es halb verdeckt und geschützt war. Denn sie durchlebte Emotionen, Schauer von höchster Eindringlichkeit, ein Gefühl der Hochnotpeinlichkeit, welches sie diesem Fremden vor sich keinesfalls zeigen wollte und konnte.
Immerhin, der Polizist merkte, dass mit seinem Gegenüber etwas nicht stimmte, dass etwas sehr Emotionales losgetreten und eingetreten war. Er war ein Profi, also würde er ihr helfen, immer getreu dem Motto "Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Er war kein Unmensch war, zum einen. Noch wichtiger, sie hatte bis jetzt kein vernünftiges Wort herausgebracht, nunmehr wohl erst recht nicht.
Fast flüsternd sagte er höflich: „Möchten Sie ein Glas Wasser?" Sie nickte, ohne ihn anzusehen und die Kopfstellung zu verändern.
Er stand auf, ging zu einem Beiwagen, auf dem eine Flasche Mineralwasser stand und schenkte ein Glas ein. Behutsam stellte er das sprudelnde Getränk vor sie hin, ging um den Schreibtisch herum und ließ sich so leise wie möglich in den Sessel fallen, um keinen unnötigen Wind zu machen, wie es so schön heißt.
Wollte er überhaupt nicht. Im Grunde. Aber Dienst ist Dienst, er musste ermitteln ...
Hilde, in ihrem Schamgefühl geschüttelt, kam sie sich wie der sprichwörtliche Frosch vor, der in den heißen, brodelnden Kessel gefallen war und vor sich hin siedete - bei dem Gedanken, wem sie dies alles zu verdanken hatte.
Wäre doch nur jemand da gewesen, hätte sie bei der Hand genommen und von hier weggeführt: Komm, Hilde, schuld an diesen explodierenden Gefühlen ist nur dieser Scheißtyp von Polizist mit seinen Fragen; lass uns von hier verschwinden, wo du doch nur wieder in die Entführungssituation hinein versetzt wirst und vor allem vergiss deinen Traummann, der dich so so eiskalt liegen und deinem Schicksal überlassen hat, nur darauf bedacht, heil aus der Sache herauszukommen und sonst nichts.
Dieser hundsgemeiner, fieser Kerl, der!
Und den sie heiraten wollte – schnell, schnell weg damit, nur nicht mehr daran denken!
Von sich aus ließ sich Hilde regelmäßig einmal im Monat untersuchen, beim medizinischen Dienst des Krankenhauses. Es konnte festgestellt werden, ob sie sich mit Viren, Bakterien oder ähnlichem angesteckt hatte. Eine gute Sache! Und eine sehr genaue. Natürlich wurde auch ihre Gebärmutter untersucht. Sie wünschte dies. Denn sie hatte ständig Panik, schwanger zu werden. Die Vorstellung, ein Kind zu bekommen, stand entgegen ihrer Lebensplanung.
Hätte sie nun ihr Sexualpartner betrogen, hätte sie das an ihrem Bakterienstamm erkennen können. Aber er hatte sie niemals „betrogen“. Er hatte nur mit seiner Ehefrau Sex gehabt. Und zwar regelmäßig. Das konnte sie am immer gleichen Bakterienstamm erkennen. Wenn er einen Monat lang mit seiner Frau keinen gehabt hätte, wäre ihr das aufgefallen. Hätte er mit einer anderen Frau geschlafen, gleichfalls. Das Diagramm des Bakterienstamms wäre verändert gewesen.
Die Untersuchung in diesem Monat würde sie sich sparen können. Der Kriminaler hielt jetzt einen ärztlichen Bericht in Händen.
Dass sie mit dem schlimmsten Fall konfrontiert werden würde, war ihr nur vage bewusst. Sie war vergewaltigt worden. Sie hätte schwanger sein können. Aber gegen diesen Gedanken versteifte sie sich, allein schon aus der gerechten Empörung heraus, dass dies einfach zu infam war, um wahr zu sein.
Sie war nach dem schweren Unfall benommen gewesen. Die Sanitäter hatten sie ins Klinikum gebracht. Dort war sie gründlich untersucht worden, während sie manchmal in einem Dämmerzustand, manchmal besinnungslos gewesen war. Die Ärzte hatten sie in diesem Zustand gründlich untersucht und wohl auch eine Gebärmutteruntersuchung durchgeführt.
Der Polizist verfiel plötzlich in einen offiziellen Ton, distanziert, sachlich, metallisch, als er das Ergebnis verkündete. In ihrer Gebärmutter hatten sich Spuren von Sperma gefunden.
Das war das Letzte. „Sperma, in meiner Gebärmutter. Das ist nicht möglich!“, murmelte sie.
Doch plötzlich verdunkelte sich ihr Sinn. Vom Arzt konnten diese Spermienspuren nicht sein, aber … natürlich, die zwei Entführer. Sie hatten sie schließlich vergewaltigt.
Kann es möglich sein – mit dem Arzt hatte sie seit Monaten keinen Geschlechtsverkehr gehabt - also war es so!
Noch bevor sie die Tragweite dieses Umstandes richtig fassen konnte, setzte der Polizist die Tragödie auf den Punkt: „Diese Spermaspuren stammen nicht von der anderen enführten Person. Dem Chefarzt.“ Ja, der Ermittler hatte gründlich ermittelt und wusste über gewisse Umstände Bescheid wusste, die ihr hier jetzt auch peinlich sein müssten. Aber das andere überschattete jegliche diesbezügliche Scham.
Da der Polizist sehr darauf bedacht war, genau und korrekt vorzugehen, war seine ganze Aufmerksamkeit auf die Buchstaben des Attestes gerichtet gewesen. Als er jetzt seinen Kopf aufrichtete, sah er, was sich im Gesicht der Betroffenen abspielte. Verstand er, was die Tragweite der Verkündigung des Ergebnisses bedeutete? Tat er!
Aber natürlich war diese Sache eine große Ungeheuerlichkeit, so dass selbst er jetzt erschüttert und doch betroffen war. Seine Stimme versagte. Ärgerlich, er hätte sich schon etwas mehr Professionalität gewünscht.
Aber endlich kam er damit heraus, das der Verkündigung der Todesstrafe glich: "Die Spermaspuren stammen von jemand anderem als dieser Person. Und sie stammen auch nicht von einer.“
Mist, den ersten Satz hätte er sich eigentlich sparen können, den Inhalt hatte er bereits vorhin verkündet. Pause.
"Leider muss ich es sagen: Sie stammen von zwei Personen.“
Das war doppelt ungeheuerlich. Denn was sich darum rankte, welche Assoziationen sich da aufbauten, was dahinter stecken musste!? Die Betroffene wusste es natürlich nur zu gut, sie hatte es inzwischen begriffen.
Sie bekam einen völlig trockenen Mund. Die schreckliche Szene der Doppelvergewaltigung war mit einem Mal wieder präsent.
Aber der damit verbundene Vorwurf traf sie nicht weniger heftig und unvermutet.
Je länger der Vorwurf, besser die Tatsache im Raum stand, desto beklemmender fühlte sie sich.
Ihr blieb der Atem weg, aber sie schnappte nicht nach Luft. Sie fühlte sich geradezu wie von einer Steinlawine erschlagen. Es war sinnlos, sich dagegen zu erwehren, man kann sie nur erleiden.
Sie hatte nun den tiefsten Scheitelpunkt der Strapazen erreicht: nach den körperlichen im Zusammenhang mit der Entführung jetzt die psychische.
Die unausgesprochene, ungeheure Unterstellung war damit verbunden: Wenn man Spermien von zwei Personen in sich trug, schloss das nicht gerade auf Freiwilligkeit.
Gegen diese gemeine Anklage, wenn auch unausgesprochen, erhob sich ein Trotzgefühl in ihr, das ihr befahl: Schweig dazu!
Doch das sprach gegen sie. Der Kriminaler deutete ihr Schweigen als Schuldeingeständnis.
"Na gut!“, sagte er, was so klang: ich habe verstanden.
Das war empörend. Nichts war gut. Im Gegenteil!
Sie war vergewaltigt worden von zwei brutalen, rücksichtslosen Idioten. Und nun sah es so aus, als hätte sie mit ihnen unter einer Decke gesteckt und frisch-froh-fröhlich mit ihnen herumgevögelt.
Und der Polizist bohrte sogar noch weiter, grub tiefer in das Loch, das sich aufgetan hatte: Ob sie die Erpresser schon einmal getroffen habe? Man musste ihm zugute halten, dass er die Frage immerhin so zaghaft wie möglich ausdrückte: "Sind sie Ihnen schon einmal begegnet? Haben Sie sie schon einmal gesehen – vor der Entführung, meine ich.“
Sie konnte noch immer aus verständlichen Gründen nichts sagen. Vom Blickwinkel des Kriminaler aus gesehen war es das natürlich nicht, sondern verdächtiges, beharrliches Schweigen. Trotzdem zeigte er sich entgegenkommend und baute ihr sogar eine Brücke.
„Ich meine, im Bezirkskrankenhaus, zum Beispiel. Die waren bestimmt mal als Süchtige, Drogenabhängige, wie ich annehme … das sie waren … dort untergebracht. Und da hätte es sein können, Sie haben sie gesehen, so von weitem… „
in gewisser Weise war das aber die pure Heuchelei. Er hatte recherchiert und feststellen können, dass sich dort, wo die Krankenschwester arbeitete, sich weit und breit keine Entzugsstation für Suchtkranke befand, sondern im ziemlich entgegengesetzten Trakt des weiten Komplexes. Aber man konnte nie wissen.
Als wieder keine Antwort kam, hielt er sich weiterhin zurück und wiederholte höflicherweise diese Frage nicht mehr nicht mehr. Insgeheim nahm er sich jetzt vor, seine Nachforschungen auszuweiten hinsichtlich des Umstandes, ob sie sich vielleicht früher einmal in diesem Bereich des Drogenentzugs eingesetzt gewesen war.
Die Annahme, dass es sich bei den Erpressern um Drogensüchtige gehandelt haben musste, die noch dazu im Bezirkskrankenhaus behandelt worden waren, in dem der Krankenschwester und des Arztes, und die die Schwester wohl dort kennengelernt hatte, um einen geheimen Komplott auszuhecken, spross aus dem gleichen Nährboden wie das Vorurteil: Wer Geschlechtsverkehr mit Ehemänner pflegt, muss nymphomanisch sein. Von dieser Gier ist es nicht weit bis zur nächsten, der Geldgier. Wer Kontakt zu Kleinkriminellen pflegte, steckte schon mit einem Bein im Drogensumpf und im Erpressermodus!
Eins hing doch mit dem anderen zusammen. Wie, wie, wer einmal lügt, dem glaubt man nicht - obwohl das passt jetzt hier nicht so recht. Aber es ist klar, was gemeint ist. Leider kann er sich nicht so gut ausdrücken. Aber das kommt schon noch. Spätestens wenn er über die Anklageschrift sitzt, jawohl!
Jetzt nimmt der Polizist ihr beharrliches Schweigen beinahe persönlich auf, aber zum Glück ist er ein Profi.
Klar, die Schweigemauer der Zu-Befragenden, gegen die er stieß, konnte nicht anders, als ein Schuldeingeständnis gewertet werde. Aber sie sich hätte durchaus zugänglicher, kooperativer zeigen können, wie der technicus terminus hieß. Wo er doch sehr sensibel vorgegangen, behutsam nachgefragt und vorgefühlt, sogar seinen Ton beinahe bis zum Flüstern gesenkt hatte. Höchstwahrscheinlich war er aber direkt in ein Wespennest gestoßen und die Betroffene vermochte darüber nicht mehr den Mund aufzumachen. So wird es gewesen sein!
Kann nur so gewesen sein.
Aha, so ist das, Nymphomanin bekommt ihre Sucht nicht mehr unter Kontrolle, zwei Sexpartner genügen nicht, sie wollte noch mehr, nämlich, was liegt näher: Geld, Geld, Geld.
Wer keinen Stopp kennt, rennt ins Uferlose und verrennt sich. So sieht es aus!
Er dachte: Aber ich krieg dich schon. Dein Schweigen hilft dir auch nicht. Irgend jemand wird dich mit den Zweien schon gesehen haben, die Nachbarn, Passanten, Irgendeiner. Ich habe Zeit. Ich werde nachfragen, recherchieren, bis ich dich habe. Darauf gib ich mir mein Wort! Er machte sich eine Notiz, auf der Stand: Nachbarn der Erpresser befragen. Er war ein Profi.
Er versuchte noch einmal Blickkontakt aufzunehmen, in ihre Augen zu schauen, sie in Grund und Boden zu starren. Er glaubte, eine leichte Traurigkeit in ihren Augen schimmern zu sehen. Wischte diese Halluzination aber sofort vom Tisch. Täuschen ließ er sich nicht, auf so etwas fiel er nicht herein.
Er schaute sie ein letztes Mal eindringlich an.
Nein, da war keine Regung in ihren Augen. Sie starrte aus dem Fenster oder sonst wohin, eher schien sie blind zu sein.
Da war nicht zu machen momentan.
Na gut, im Augenblick hatte er keine Chance.
Dennoch schloss er befriedigt die Akte, in das er anschließend noch ein Ergebnisprotokoll einfügen würde.
„Halten Sie sich zu unserer Verfügung. Ich werde Sie wohl noch ein paar Mal einbestellen.“
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Weshalb durfte die Krankenschwester die Flüchteten begleiten und nicht der Arzt? Wäre dieser nicht das größere Faustpfand gewesen? Von ihm, vielmehr seiner Familie hatten sie das Lösegeld erhalten und sollte es zu Zwischenfällen kommen, konnten sie vielleicht noch mehr erpressen. Warum hatten sie sich nicht gesagt und dementsprechend gehandelt: Wir nehmen den Arzt als den wertvolleren Menschen auf unsere Flucht mit.
Vielleicht, weil sie mit den beiden Entführern unter einer Decke steckte? Immerhin hatte sie die meiste Zeit der Gefangenennahme unmittelbar mit ihnen verbracht, in der Küche, angeblich in der engen Besenkammer eingesperrt, aber wer wusste dies schon genau, dafür gab es keinen Zeugen, der die Dinge so berichten könnte, dass man sie richtig einordnen konnte.
Schon eigenartig.
Sie war ja bereits als Ehebrecherin entlarvt worden. Insofern lag es allzu nahe, anzunehmen, dass sie, da sie auf sexuellem Gebiet gute Fähigkeiten aufzuweisen hatte … Nein, er ist sehr wohl weit davon entfernt, diese Eigenschaft als Indiz für kriminelle Energie einzuordnen, aber na ja! Das Umfeld, der Rahmen, in dem sich diese Entführung abspielte, nämlich, dass sie gerade zu dem Zeitpunkt geschah, als diese sexuelle Geschichte im Cabrio stattfand, scheint doch auf eine gewisse moralische Verrohung hinzudeuten. Wie sollte er sich ausdrücken: Wer so weit ging, sich in eine Ehe einzumischen, dem fehlte schon ein gut Teil normales Gewissen.
Das wirkte sehr verdächtig.
Narben frischer Wunden würde er aufschürfen, in schlecht verheilte herumstochern, bereits bandagierte Glieder erneut brechen – aber die Wahrheit musste ans Licht. Pflicht ist Pflicht. Schließlich müsse er als Staatsdiener, jede Missetat zur Anzeige bringen, auf dass sie abgeurteilt werde. Klar, der Mensch, er ist ein fühlendes Individuum, aber letztlich ...
Er bestellte das Opfer erneut ein. Jetzt war sie Täterin, vielmehr noch Verdächtige.
"Warum musste ich noch einmal kommen?"
Er war nicht blind, nahm sehr wohl wahr, dass die Vernommene immer noch sehr mitgenommen wirkte oder - es spielte? Was hatte er in seiner Laufbahn nicht schon alles für Simulanten erlebt?
Da er wusste, dass er ein einfühlsamer, gefühlvoller Mensch war, eigentlich zu sehr, gab es nur eins: Cool bleiben, Empathie so weit wie möglich zurückzufahren. Keine einfache Sache, aber für einen Profi nicht völlig unmöglich.
Doch er hatte ein schwerwiegendes Argument, ein Indiz für die Kumpanei der betroffenen Personen.
Im Obduktionsbericht der Verunglückten war der Hinweis einer Tätowierung auf den Arm einer toten Person: Diese Liebe werde ich niemals bereuen - mit dem Logo von einem einheimischen Fußballclub. Es kam ihm, wie ein Blitz: Wo hatte er diesen Spruch schon einmal gesehen? Er brauchte nicht lang warten, bis er sich erinnerte: Bei der Krankenschwester. Er las genau noch einmal nach: Am linken Unterarm des Toten. Allein schon deshalb musste sie einberufen werden, um ihre Stelle der Tätowierung festzustellen.
"Ich wette, es ist die Gleiche", sagte er sich.
Der Polizist fällt mit der Tür ins Haus.
"Ich frage mich, warum die Entführer Sie zum Flughafen mitnahmen und nicht ihren Freund, den Arzt?“
"Er ist nicht mein Freund!", kam es abwehrend, kein Wunder, nach allem, was ihr jener während der Entführung angetan hatte, oder besser gesagt, nach allem, was er nicht getan hatte. Vergeblich bemühte sie sich, die Sache richtig zu stellen, fand aber keine Worte, stammelte herum: "Also ..."
Das machte sie in den Augen des Kommissars sofort verdächtig.
'Aha, sie weicht meiner Frage aus, sie weiß nicht, mit wem sie es hier zu tun hat. Dafür musst du früher aufstehen, nicht bei mir, einem echten Profi." Während sie noch um den heißen Brei herumredete, starrte er auf hren linken Unterarm und siehe da: die gleiche Tätowierung. Er fühlte sich bestätigt. Jetzt hieß es volle Kraft voraus.
Er lehnte sich zurück und schnellte abrupt nach vorne, als er die nächste Frage herausschleuderte: " ...“
Während sie mit Fragen bombardiert wurde, begriff Hilde allmählich, in welcher Situation sie sich befand. Sie war bei der Entführung wirklich tausend Tode gestorben und obendrein wurde sie hier und jetzt unschuldig so behandelt, als hätte sie diese Qualen anderen zugefügt, als sei sie die Täterin, sie eine Verbrecherin!
Hilde war jedoch nicht dumm. Allmählich, auch das war schmerzlich, wurde sie sich ihrer Rolle hier bewusst. Sie wurde peinlich genau auf Herz und Nieren bezüglich kriminellen Machenschaften abgecheckt und gequält, während sie gleichzeitig völlig „am Arsch“ war.
Mensch, was hilft es da, wenn man versteht, dass die Polizei ihre Pflicht tut und du darunter wie ein Schwein leidest? Man fühlt nur Wut und Zorn!
Doch die Hände waren ihr gebunden. Durchstehen! - das war die einzige Lösung.
Unmerklich lenkte sie ihre Wut auf eine andere Person, auf denjenigen, der hinter der ganzen Sache steckte. Natürlich waren die Entführer schuld an dem ganzen Fiasko. Hätten sie nicht die Entführung gemacht, hätte sie nicht diese schreckliche Seite des Arztes kennengelernt, seine wahren Natur. Zunächst gab sie wegen der Entführung den Verbrechern die Schuld. Sie hatten sie misshandelt und vergewaltigt, stimmt schon!
Wieder überfiel sie ein Blitzgewitter der einen oder anderen demütigenden Erfahrung.
Aber: Die leben nicht mehr, hatten ihre mehr oder weniger gerechte Strafe bekommen und waren raus aus dem Spiel.
Wer aber noch lebte, das war der Arzt.
Der hatte sich ihr gegenüber in einer Weise gezeigt, die sich völlig überrascht hat.
Aber bei klaren Verstand bleiben, Hilde.
Aber doch, er hatte letztlich am meisten Dreck am Stecken.
Wenn er nicht das Schwarzgeld dabei gehabt hätte, auf das die Entführer gestoßen waren, wäre der Stein gar nichts ins Rollen gekommen. Sie wären nur mit einem Schrecken davongekommen. So aber.
Ja, und dann erst!
Gerade sein Verhalten, seine Gefühlskälte gegenüber, seine Geringschätzung und Gleichgültigkeit ihr, der Geschundenen, gegenüber!
Sie dachte insbesondere an den seelischen Striptease, an die Offenbarung ihres Wunsches, von ihm geheiratet zu werden.
Das war so etwas von beschämend!
Sie fühlte sich plötzlich in einem siedenden Geysirestrahl des Hasses brennen: Wie sie sich zum Narren und dummen Landei gemacht hatte - dass, dass er jetzt dafür büßen müsse! Blut schoss ihr in den Kopf und sie drehte sich ein wenig zur Seite, kniff mit den Fingern in die Lippen - der Schmerz tat gut - und schüttelte ihr langes, gewelltes Haar ins Gesicht, damit es halb verdeckt und geschützt war. Denn sie durchlebte Emotionen, Schauer von höchster Eindringlichkeit, ein Gefühl der Hochnotpeinlichkeit, welches sie diesem Fremden vor sich keinesfalls zeigen wollte und konnte.
Immerhin, der Polizist merkte, dass mit seinem Gegenüber etwas nicht stimmte, dass etwas sehr Emotionales losgetreten und eingetreten war. Er war ein Profi, also würde er ihr helfen, immer getreu dem Motto "Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Er war kein Unmensch war, zum einen. Noch wichtiger, sie hatte bis jetzt kein vernünftiges Wort herausgebracht, nunmehr wohl erst recht nicht.
Fast flüsternd sagte er höflich: „Möchten Sie ein Glas Wasser?" Sie nickte, ohne ihn anzusehen und die Kopfstellung zu verändern.
Er stand auf, ging zu einem Beiwagen, auf dem eine Flasche Mineralwasser stand und schenkte ein Glas ein. Behutsam stellte er das sprudelnde Getränk vor sie hin, ging um den Schreibtisch herum und ließ sich so leise wie möglich in den Sessel fallen, um keinen unnötigen Wind zu machen, wie es so schön heißt.
Wollte er überhaupt nicht. Im Grunde. Aber Dienst ist Dienst, er musste ermitteln ...
Hilde, in ihrem Schamgefühl geschüttelt, kam sie sich wie der sprichwörtliche Frosch vor, der in den heißen, brodelnden Kessel gefallen war und vor sich hin siedete - bei dem Gedanken, wem sie dies alles zu verdanken hatte.
Wäre doch nur jemand da gewesen, hätte sie bei der Hand genommen und von hier weggeführt: Komm, Hilde, schuld an diesen explodierenden Gefühlen ist nur dieser Scheißtyp von Polizist mit seinen Fragen; lass uns von hier verschwinden, wo du doch nur wieder in die Entführungssituation hinein versetzt wirst und vor allem vergiss deinen Traummann, der dich so so eiskalt liegen und deinem Schicksal überlassen hat, nur darauf bedacht, heil aus der Sache herauszukommen und sonst nichts.
Dieser hundsgemeiner, fieser Kerl, der!
Und den sie heiraten wollte – schnell, schnell weg damit, nur nicht mehr daran denken!
Von sich aus ließ sich Hilde regelmäßig einmal im Monat untersuchen, beim medizinischen Dienst des Krankenhauses. Es konnte festgestellt werden, ob sie sich mit Viren, Bakterien oder ähnlichem angesteckt hatte. Eine gute Sache! Und eine sehr genaue. Natürlich wurde auch ihre Gebärmutter untersucht. Sie wünschte dies. Denn sie hatte ständig Panik, schwanger zu werden. Die Vorstellung, ein Kind zu bekommen, stand entgegen ihrer Lebensplanung.
Hätte sie nun ihr Sexualpartner betrogen, hätte sie das an ihrem Bakterienstamm erkennen können. Aber er hatte sie niemals „betrogen“. Er hatte nur mit seiner Ehefrau Sex gehabt. Und zwar regelmäßig. Das konnte sie am immer gleichen Bakterienstamm erkennen. Wenn er einen Monat lang mit seiner Frau keinen gehabt hätte, wäre ihr das aufgefallen. Hätte er mit einer anderen Frau geschlafen, gleichfalls. Das Diagramm des Bakterienstamms wäre verändert gewesen.
Die Untersuchung in diesem Monat würde sie sich sparen können. Der Kriminaler hielt jetzt einen ärztlichen Bericht in Händen.
Dass sie mit dem schlimmsten Fall konfrontiert werden würde, war ihr nur vage bewusst. Sie war vergewaltigt worden. Sie hätte schwanger sein können. Aber gegen diesen Gedanken versteifte sie sich, allein schon aus der gerechten Empörung heraus, dass dies einfach zu infam war, um wahr zu sein.
Sie war nach dem schweren Unfall benommen gewesen. Die Sanitäter hatten sie ins Klinikum gebracht. Dort war sie gründlich untersucht worden, während sie manchmal in einem Dämmerzustand, manchmal besinnungslos gewesen war. Die Ärzte hatten sie in diesem Zustand gründlich untersucht und wohl auch eine Gebärmutteruntersuchung durchgeführt.
Der Polizist verfiel plötzlich in einen offiziellen Ton, distanziert, sachlich, metallisch, als er das Ergebnis verkündete. In ihrer Gebärmutter hatten sich Spuren von Sperma gefunden.
Das war das Letzte. „Sperma, in meiner Gebärmutter. Das ist nicht möglich!“, murmelte sie.
Doch plötzlich verdunkelte sich ihr Sinn. Vom Arzt konnten diese Spermienspuren nicht sein, aber … natürlich, die zwei Entführer. Sie hatten sie schließlich vergewaltigt.
Kann es möglich sein – mit dem Arzt hatte sie seit Monaten keinen Geschlechtsverkehr gehabt - also war es so!
Noch bevor sie die Tragweite dieses Umstandes richtig fassen konnte, setzte der Polizist die Tragödie auf den Punkt: „Diese Spermaspuren stammen nicht von der anderen enführten Person. Dem Chefarzt.“ Ja, der Ermittler hatte gründlich ermittelt und wusste über gewisse Umstände Bescheid wusste, die ihr hier jetzt auch peinlich sein müssten. Aber das andere überschattete jegliche diesbezügliche Scham.
Da der Polizist sehr darauf bedacht war, genau und korrekt vorzugehen, war seine ganze Aufmerksamkeit auf die Buchstaben des Attestes gerichtet gewesen. Als er jetzt seinen Kopf aufrichtete, sah er, was sich im Gesicht der Betroffenen abspielte. Verstand er, was die Tragweite der Verkündigung des Ergebnisses bedeutete? Tat er!
Aber natürlich war diese Sache eine große Ungeheuerlichkeit, so dass selbst er jetzt erschüttert und doch betroffen war. Seine Stimme versagte. Ärgerlich, er hätte sich schon etwas mehr Professionalität gewünscht.
Aber endlich kam er damit heraus, das der Verkündigung der Todesstrafe glich: "Die Spermaspuren stammen von jemand anderem als dieser Person. Und sie stammen auch nicht von einer.“
Mist, den ersten Satz hätte er sich eigentlich sparen können, den Inhalt hatte er bereits vorhin verkündet. Pause.
"Leider muss ich es sagen: Sie stammen von zwei Personen.“
Das war doppelt ungeheuerlich. Denn was sich darum rankte, welche Assoziationen sich da aufbauten, was dahinter stecken musste!? Die Betroffene wusste es natürlich nur zu gut, sie hatte es inzwischen begriffen.
Sie bekam einen völlig trockenen Mund. Die schreckliche Szene der Doppelvergewaltigung war mit einem Mal wieder präsent.
Aber der damit verbundene Vorwurf traf sie nicht weniger heftig und unvermutet.
Je länger der Vorwurf, besser die Tatsache im Raum stand, desto beklemmender fühlte sie sich.
Ihr blieb der Atem weg, aber sie schnappte nicht nach Luft. Sie fühlte sich geradezu wie von einer Steinlawine erschlagen. Es war sinnlos, sich dagegen zu erwehren, man kann sie nur erleiden.
Sie hatte nun den tiefsten Scheitelpunkt der Strapazen erreicht: nach den körperlichen im Zusammenhang mit der Entführung jetzt die psychische.
Die unausgesprochene, ungeheure Unterstellung war damit verbunden: Wenn man Spermien von zwei Personen in sich trug, schloss das nicht gerade auf Freiwilligkeit.
Gegen diese gemeine Anklage, wenn auch unausgesprochen, erhob sich ein Trotzgefühl in ihr, das ihr befahl: Schweig dazu!
Doch das sprach gegen sie. Der Kriminaler deutete ihr Schweigen als Schuldeingeständnis.
"Na gut!“, sagte er, was so klang: ich habe verstanden.
Das war empörend. Nichts war gut. Im Gegenteil!
Sie war vergewaltigt worden von zwei brutalen, rücksichtslosen Idioten. Und nun sah es so aus, als hätte sie mit ihnen unter einer Decke gesteckt und frisch-froh-fröhlich mit ihnen herumgevögelt.
Und der Polizist bohrte sogar noch weiter, grub tiefer in das Loch, das sich aufgetan hatte: Ob sie die Erpresser schon einmal getroffen habe? Man musste ihm zugute halten, dass er die Frage immerhin so zaghaft wie möglich ausdrückte: "Sind sie Ihnen schon einmal begegnet? Haben Sie sie schon einmal gesehen – vor der Entführung, meine ich.“
Sie konnte noch immer aus verständlichen Gründen nichts sagen. Vom Blickwinkel des Kriminaler aus gesehen war es das natürlich nicht, sondern verdächtiges, beharrliches Schweigen. Trotzdem zeigte er sich entgegenkommend und baute ihr sogar eine Brücke.
„Ich meine, im Bezirkskrankenhaus, zum Beispiel. Die waren bestimmt mal als Süchtige, Drogenabhängige, wie ich annehme … das sie waren … dort untergebracht. Und da hätte es sein können, Sie haben sie gesehen, so von weitem… „
in gewisser Weise war das aber die pure Heuchelei. Er hatte recherchiert und feststellen können, dass sich dort, wo die Krankenschwester arbeitete, sich weit und breit keine Entzugsstation für Suchtkranke befand, sondern im ziemlich entgegengesetzten Trakt des weiten Komplexes. Aber man konnte nie wissen.
Als wieder keine Antwort kam, hielt er sich weiterhin zurück und wiederholte höflicherweise diese Frage nicht mehr nicht mehr. Insgeheim nahm er sich jetzt vor, seine Nachforschungen auszuweiten hinsichtlich des Umstandes, ob sie sich vielleicht früher einmal in diesem Bereich des Drogenentzugs eingesetzt gewesen war.
Die Annahme, dass es sich bei den Erpressern um Drogensüchtige gehandelt haben musste, die noch dazu im Bezirkskrankenhaus behandelt worden waren, in dem der Krankenschwester und des Arztes, und die die Schwester wohl dort kennengelernt hatte, um einen geheimen Komplott auszuhecken, spross aus dem gleichen Nährboden wie das Vorurteil: Wer Geschlechtsverkehr mit Ehemänner pflegt, muss nymphomanisch sein. Von dieser Gier ist es nicht weit bis zur nächsten, der Geldgier. Wer Kontakt zu Kleinkriminellen pflegte, steckte schon mit einem Bein im Drogensumpf und im Erpressermodus!
Eins hing doch mit dem anderen zusammen. Wie, wie, wer einmal lügt, dem glaubt man nicht - obwohl das passt jetzt hier nicht so recht. Aber es ist klar, was gemeint ist. Leider kann er sich nicht so gut ausdrücken. Aber das kommt schon noch. Spätestens wenn er über die Anklageschrift sitzt, jawohl!
Jetzt nimmt der Polizist ihr beharrliches Schweigen beinahe persönlich auf, aber zum Glück ist er ein Profi.
Klar, die Schweigemauer der Zu-Befragenden, gegen die er stieß, konnte nicht anders, als ein Schuldeingeständnis gewertet werde. Aber sie sich hätte durchaus zugänglicher, kooperativer zeigen können, wie der technicus terminus hieß. Wo er doch sehr sensibel vorgegangen, behutsam nachgefragt und vorgefühlt, sogar seinen Ton beinahe bis zum Flüstern gesenkt hatte. Höchstwahrscheinlich war er aber direkt in ein Wespennest gestoßen und die Betroffene vermochte darüber nicht mehr den Mund aufzumachen. So wird es gewesen sein!
Kann nur so gewesen sein.
Aha, so ist das, Nymphomanin bekommt ihre Sucht nicht mehr unter Kontrolle, zwei Sexpartner genügen nicht, sie wollte noch mehr, nämlich, was liegt näher: Geld, Geld, Geld.
Wer keinen Stopp kennt, rennt ins Uferlose und verrennt sich. So sieht es aus!
Er dachte: Aber ich krieg dich schon. Dein Schweigen hilft dir auch nicht. Irgend jemand wird dich mit den Zweien schon gesehen haben, die Nachbarn, Passanten, Irgendeiner. Ich habe Zeit. Ich werde nachfragen, recherchieren, bis ich dich habe. Darauf gib ich mir mein Wort! Er machte sich eine Notiz, auf der Stand: Nachbarn der Erpresser befragen. Er war ein Profi.
Er versuchte noch einmal Blickkontakt aufzunehmen, in ihre Augen zu schauen, sie in Grund und Boden zu starren. Er glaubte, eine leichte Traurigkeit in ihren Augen schimmern zu sehen. Wischte diese Halluzination aber sofort vom Tisch. Täuschen ließ er sich nicht, auf so etwas fiel er nicht herein.
Er schaute sie ein letztes Mal eindringlich an.
Nein, da war keine Regung in ihren Augen. Sie starrte aus dem Fenster oder sonst wohin, eher schien sie blind zu sein.
Da war nicht zu machen momentan.
Na gut, im Augenblick hatte er keine Chance.
Dennoch schloss er befriedigt die Akte, in das er anschließend noch ein Ergebnisprotokoll einfügen würde.
„Halten Sie sich zu unserer Verfügung. Ich werde Sie wohl noch ein paar Mal einbestellen.“
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G. Wochen später: 26 . Die Kunst der Rufschädigung.
Hilde fürchtete sich vor der Begegnung mit dem Chefarzt.
Sie durfte sich nicht verraten. Ihre Gefühle verraten. Da sie so eine ehrliche Haut war, würde ihr das schwer fallen. Wahrscheinlich würde sie dauernd auf den Boden schauen, wenn sie sich begegneten. Das würde dem Arzt wieder das Gefühl geben, er habe sie in der Hand und stünde über den Dingen.
Sie hatte zwar den unbedingten Willen, ihm zu schaden, nur wie? Noch hatte sie keinen Plan. Wenn sie sich nur Einzelheiten vorstellte, merkte sie, wie sie die Angst davor lähmte. Sie konnte gar keine klaren Gedanken fassen.
Aber ihr Unterbewusstsein spielte bereits sein eigenes Spiel.
Sie würde ihm entfliehen, so bald sie sah, wie er ihr auflauerte, hier und dort, wo es sich nicht vermeiden ließ, sich aufzuhalten. Es könnten Dutzende von Orten sein. Aber immer wieder konnte sich ihm entwischen - bis er eines Tages vor ihr stand und sich vor ihr aufplusterte: Würde sie vor Angst schmelzen wie Schnee im Frühling, sich am Ende erweichen lassen, keine Rachepläne mehr zu schmieden und zu verfolgen? Weil, weil sie seinem Charme erlag?
Nein, seinem Charme - Charme, Liebreiz, Aura oder was auch immer würde sie bestimmt nicht unterliegen. Wenn überhaupt je! Ha, ha, ha. Wo denkst sie hin? Nicht dieser technokratische Doktor. Hatte er nie für sie gehabt. Ihre Beziehung hatte nur dazu gedient, besser die Einsamkeit zu ertragen.
Sie erinnerte sich, wie sie verzweifelt über den Tod gewesen war, über den Tod anderer Menschen, die sie behandelt und gemocht und sich darüber in seine Arme geworfen hatte, um der Todeskälte zu entfliehen. Schließlich, darüber waren sie sich näher gekommen und wie sollte man dies bezeichnen: Wenn man etwas aus Angst vor dem Tod tut? Todesangst-Liebe?
Eine gute Grundlage?
Fraglich!
Aber egal.
Höchste Zeit, zur Tat zu schreiten, ihn zu treffen und verletzen, zu schlagen, zu geißeln und zu quälen, wie er es mit ihr getan hatte. Möglichst heimlich, aus dem Verborgenen heraus, wo immer es möglich ist.
Sie fürchtete seine Macht, seine Autorität, die er als Chefarzt in der mächtigen Krankenhaushierarchie hatte. Aber konnte er ihr beruflich schaden?
Eher zu verneinen.
Selbst der mächtigste Chef musste Gründe haben, um Personal zu kündigen. Immerhin gab es einen Betriebsrat. Schließlich waren sie eine öffentliche Einrichtung, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts oder wie das hieß.
Er konnte nicht einfach etwas gegen eine unliebsame Kollegin unternehmen. Dazu bräuchte er Komplizen, Helfershelfer, Spitzel, die sich auf eine Hetzkampagne gegen sie einließen und ihn unterstützten. Sie mussten ihm Beweise liefern, Indizien, Fehlverhalten bezeugen und so weiter ...
Der Wind weht nicht von dieser Seite.
Und doch!
Sie dachte an die kürzliche Entlassung ihrer Kollegin Mächthilde. Eine Jüngere hatte ihren Platz eingenommen. Von einem Tag auf den anderen.
Alle wunderten sich. Aber niemand konnte es sich erklären.
Der Fall warf ein Schlaglicht auf die undurchsichtige Verwaltung des Krankenhauses. Wie diese Maschinerie funktionierte, war ein Buch mit sieben Siegeln. Die Einstellung von Personal schien ein Glücksspiel zu sein. Dahinter steckte natürlich Vetternwirtschaft. Aber niemand wusste, wie die Seilschaften funktionierten. Niemand von denen, die sie kannte. Schließlich, wer war sie auch? Ein kleines Rädchen nur.
Dann überkam sie wieder der Wunsch nach Rache.
Aber sie merkte, dass sie noch keinen Schritt weitergekommen war. Dass sie nur der Gedanken allein befriedigte, war nicht genug. Nur zu sehen, wie sie ihm gegenüber stand und merkte, wie er unter ihren Schlägen litt ... Ja, er sollte genauso leiden wie sie. Ihm sollte es genau so schlecht ergehen wie ihr in diesem Haus … in diesem … mit diesen Schweinen ...
Sie schloss die Augen vor Schmerz.
Zunächst musste sie schauen, ihm um jeden Preis aus dem Weg zu gehen, bevor sie endlich zu Potte kam mit einem Plan.
Nur wie?
Eine Begegnung konnte im Prinzip nur in der Mittagszeit stattfinden. Beim Mittagessen, zum Abendbrot. Um diese Zeit hielten sich in der Kantine immer viele Leute auf. Er konnte sich nicht einfach an ihren Tisch setzen, sie einladen oder ein Gespräch beginnen, das nur ihn und sie betraf. Nein, vor fremden Leuten über Probleme zu sprechen, würde er nicht wagen. Dazu kannte sie seine steife, verschlossene Art zu gut.
Außerdem ziemt sich das für einen Chefarzt? Nein, die hochgestellten Damen und Herren blieben lieber unter sich. Das sollte ihr recht sein.
Andererseits war es auch für sie nicht leicht, irgendwo im Speisesaal mit Hunderten von Besuchern jemanden zu finden, den sie ansprechen konnte. Im Falle, dass nicht, konnte sie immerhin das tun: Setz dich immer mindesten zwei Stühle neben einem anderen hin. Halte Kopf und Oberkörper immer in Richtung jemanden, so dass der Eindruck entsteht, man säße mit Freunden und Bekannten an einem Tisch, nur nicht allein. Das Wichtigste ist, dass es so scheint, als wärst du nicht alleine. Das heißt, immer wieder lächeln, hin und wieder nicken, versuchen, egal mit wem, auf Teufel komm raus ein paar Worte zu wechseln und ihn irgendwie in ein Gespräch zu verwickeln.
Doch plötzlich war es erstaunlich einfach, sich anderen anzuschließen. Die Entführung war in aller Munde und seit Wochen Gesprächsthema Nummer eins. Und Hilde war eine Hauptfiguren dieser ominösen, skandalträchtigen Entführung!
"Ach Hilde, schön, dass du da bist. Wir sind gerade bei der Frage, warum man euch entführt hat? Also, wie sind die Gauner darauf gekommen, dass man von euch, vielmehr von unserem Chefarzt so viel Geld erpressen kann? Man munkelt immerhin von einer Million Euro. So viel kann doch kaum jemand aufbringen.“
„Ich habe gehört, dass ihr in einem Cabrio entführt worden seid. Wer so ein Auto fährt, der muss ja auch Geld haben wie Heu!“
„Moment!“, entgegnete ein anderer. „Auch wenn jemand einen Mercedes Caprio fährt, ist er noch lange kein Millionär. Viele können sich zwar ein Luxusauto leisten, wohnen aber zur Miete und führen ansonsten ein ganz normales, bescheidenes Leben. Mit wenig ausgehen, kaum teuer essen gehen, höchsten alle paar Jahre Urlaub machen, mehr nicht. Sie beziehen kaum mehr als ein knapp überdurchschnittliches Einkommen. Also, ich frage mich: Wie kommen die Entführer auf die Idee, den Arzt und seine Familie zu erpressen?"
"Na ja, der Arzt schwimmt wirklich in Geld. Ich weiß das. Ihr könnte euch davon ganz leicht ein Bild machen, wenn ihr hört, was ich euch jetzt erzähle.“
Hilde senkt ihre Stimme zum Flüstern. Die anderen rücken ihre Stühle näher an den Tisch. Doch bevor sie spricht, schaut sie sich nach rechts und links um. Sitzen irgendwo unliebsame Zuhörer? Oder schleichen sich heimlich neue Zuhörer an, um zu lauschen, was sie so Wichtiges zu verkünden hat. Freilich, je mehr Zuhörer, vor allem unbekannte, desto besser.
„Also, es fing damit an, dass er paar Tausend Euro in bar einstecken gehabt hat. Wirklich! Volle Hunderter. In seiner Hosentasche. So viel Geld hat der mit sich rumgetragen! Das hätte ich auch nicht für möglich gehalten."
"Nicht wahr?"
"Oder es kann noch viel mehr gewesen sein. Auf jeden Fall eine ganze Menge Geld. Es hat förmlich aus den Hosentaschen gequollen."
„So muss es gewesen sein, das glaube ich dir aufs Wort!“
„Das haben halt auch die Gauner bemerkt und sich gedacht: Wer so viel in der Tasche mit sich herumträgt, der hat bestimmt noch viel mehr auf der Bank.“
„Logo!“
"Ich kann euch sagen, woher das stammte, das viele Geld. Aber bitte nicht an die große Glocke hängen.“
"Wir sind verschwiegen wie ein Grab, Hilde, das weißt du doch!"
Der Kreis schließt sich, einige rücken naher an die Tischplatte heran und stecken wie eine verschworene Gesellschaft die Köpfe zusammen. Von weitem sieht es aus: Da wird eine sehr heiße Suppe gekocht. Am wenigsten wollte sich da der Arzt die Finger verbrennen, wenn er Hilde als Köchin ausmachte.
Nun, mit diesen drei oder vier Leuten kann man so reden. Bei den Personen, die ihr gestern zugehört haben, hätte das wie Verleumdung geklungen. Sie musste aufpassen, wie sie das Essen antrug, damit der Schuss nicht nach hinten losging und sie als Waschweib, eifersüchtiger Hahnrei oder rachsüchtige, verlassene Geliebte dastand.
Seltsamerweise fragte keiner ihrer Zuhörer, welche Rolle sie in diesem ganzen Szenario gespielt habe. Unangenehme Fragen wurden ihr nicht gestellt: Warum warst du im Cabrio? Was haben die Entführer mit dir gemacht? Wie hast du eigentlich mit dem Chefarzt zu tun? Nichts. Das interessierte niemanden. Das war auch nicht interessant. Das war nicht spektakulär.
"Der Chefarzt hat ein ganzes Haus vermietet. Da geht er jeden Ersten des Monats persönlich hin und lässt sich das Geld bar auf die Hand auszahlen, ihr versteht. Und da hatte er an dem Tag der Entführung das Schwarzgeld in seiner Tasche gehabt. Und als die beiden abgebrannten Penner zufällig die aus der Hose herausstehenden Tausender erblickten, haben sie zugeschlagen. Wer kann es ihnen verübeln, hätte ich beinahe gesagt.“
„Na, na!“
„Ist ja gut. Ich mein's ja nicht so!“
"Ach ja. Schwarzgeld. Was verdient man eigentlich als Chefarzt?"
"Gute Frage. Aber für eine vierköpfige Familie dürfte es allemal reichen.“
„Das meine ich auch.“
"Und für die Unterhaltskosten eines zweistöckigen Einfamilienhauses mit riesigem Garten ..."
"Gepflegten Garten wohlgemerkt!"
"Gepflegt?"
"Hat der Chefarzt dafür noch Zeit?"
"Was glaubst du denn? Natürlich hat er einen Gärtner."
"Deshalb die akkurat geschnittenen Kunstwerke aus allen möglichen Sträuchern und Hecken."
„Und der künstlich angelegte Teich auf dem riesigen Gelände …“
"Mit Springbrunnen, nicht zu vergessen Wasserfontänen."
"Und der moderne Vorbau, wie eine Halle. Ist das die Überdachung eines Schwimmbeckens?"
"Ja, das habe ich mich auch schon gefragt, wozu die das gebaut haben.“
Man merkt, dass einige schon eigene Nachforschungen vorgenommen haben.
"Ich nehme an, dies ist wirklich ein Swimmingpool. Nur ist er schlecht einsehbar, weil er nach außen raus führt, zum angrenzenden Wald."
"Der hintere Teil des Hauses grenzt an einen Wald, der so dicht mit Büschen und Unterholz bepflanzt ist, dass man nicht hindurchgehen kann, um einen Blick in das Anwesen des Arztes zu werfen."
„Richtig!“
"Oder, um vor neugierigen Blicken geschützt und nicht belästigt zu werden."
"Da musst du entweder einen sehr guten Draht zur Gemeinde haben oder auch Eigentümer des Waldes sein.“
"Beides würde mich nicht wundern.“
"Muss toll sein, einen eigenen Pool zu haben mit einer großen halboffenen Terrasse nach draußen ..."
"Oh ja, das wäre schön."
"Zu schön..."
„Ich glaube, ich muss mal hinfahren und es mir aus der Nähe ansehen. Scheint etwas ganz Besonderes zu sein.“
„So etwas findest du im Umkreis von 200 Meilen kein zweites Mal, glaube ich.“
"Davon können wir Sterblichen nur träumen ..."
"So sieht's aus!"
„Und man glaubt gar nicht, dass Chefärzte so viel verdienen.“
„Tun sie auch nicht. Die haben noch ein paar Nebeneinkünfte. Was wir gerade gelernt haben.“
„Schwarzarbeit? Nein, das kann man in dem Fall auch nicht sagen.“
„Du sagst es. Es gibt Tätigkeiten, bei denen man sich nicht einmal die Hände schmutzig macht. Auch wenn die Begriffe Schwarzarbeit und Schwarzgeld das nahelegen.“
Es war erschreckend, was alles an Klatsch und Tratsch an die Oberfläche gespült wurde. Keine Wäsche war zu schmutzig, um nicht gewaschen zu werden.
Eigentlich widerlich.
Aber sie empfand eine überwältigende Befriedigung. Herrlich, dieser Duft, der aus dem brodelnden Sumpf der Gerüchteküche aufstieg.
Jedes Mal war sie danach völlig erschöpft.
Eigentlich war ihr dieses ganze viele Reden und Tratschen zuwider, denn es passte nicht zu ihrer von Natur aus zurückhaltenden Art. Aber was sein muss, muss sein.
Und das Schönste war: Endlich schlief sie wieder tief und fest.
Aber das war noch nicht alles. Das reichte noch lange nicht. Sie musste noch mehr tun, um ihn richtig zu treffen und zu verletzen.
Sie erinnerte sich daran, dass dieser Blonde doch dieses Video ins Internet gestellt hatte.
Sie griff zum Telefon.
„Herr Kommissar, ich hätte gerne den Link zu diesem Video. Ich möchte es mir anschauen. Schließlich bin ich eine Betroffene.“
Aha, sie sah das Video.
Aber, oh Freude, sie selbst war in dem Film nicht zu erkennen. Nur ihr Hinterkopf war zu sehen. Sie hatte sich nicht umgedreht, um zu sehen, was hinter ihr passierte und wer da hantierte. Stattdessen war sie rechtzeitig aus dem Bildausschnitt gehuscht.
Wunderbar.
Das war gut. Das war sehr gut. Das eröffnete neue Perspektiven.
Schnell reifte ein Plan. Der lag auf der Hand. Und am nächsten Morgen ging es los.
Sie hängte Flyer mit der Adresse der Website an die Pinnwände des Krankenhauses. Sie schickte aufklärende Briefe an die beiden Lokalredaktionen. Einen an die Pfarrei, der der Arzt und seine ganze Familie angehörten. Dann an die örtlichen Wohlfahrtsverbände. Sie konnte nichts falsch machen, dieser Familienclan tanzte auf jeder Hochzeit, ob ehrenamtlich oder bezahlt. Dann das katholische Altenheim in seiner Heimatstadt, in dem sicher einige nahe Verwandte von ihm untergebracht waren.
Und wenn es ins Leere lief, dann gab es wenigsten Klatsch und Tratsch. Rufschädigung ist in der Provinz der halbe Ruin, wie sie wusste.
Sogar das eine oder andere Geschäft in der Kleinstadt des Arztes belieferte sie.
Auch das Rathaus mit dem Bürgerforum, einer großen schwarzen Wand, an die jeder Bürger einen Zettel heften konnte, wurde gepinnt.
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Sie durfte sich nicht verraten. Ihre Gefühle verraten. Da sie so eine ehrliche Haut war, würde ihr das schwer fallen. Wahrscheinlich würde sie dauernd auf den Boden schauen, wenn sie sich begegneten. Das würde dem Arzt wieder das Gefühl geben, er habe sie in der Hand und stünde über den Dingen.
Sie hatte zwar den unbedingten Willen, ihm zu schaden, nur wie? Noch hatte sie keinen Plan. Wenn sie sich nur Einzelheiten vorstellte, merkte sie, wie sie die Angst davor lähmte. Sie konnte gar keine klaren Gedanken fassen.
Aber ihr Unterbewusstsein spielte bereits sein eigenes Spiel.
Sie würde ihm entfliehen, so bald sie sah, wie er ihr auflauerte, hier und dort, wo es sich nicht vermeiden ließ, sich aufzuhalten. Es könnten Dutzende von Orten sein. Aber immer wieder konnte sich ihm entwischen - bis er eines Tages vor ihr stand und sich vor ihr aufplusterte: Würde sie vor Angst schmelzen wie Schnee im Frühling, sich am Ende erweichen lassen, keine Rachepläne mehr zu schmieden und zu verfolgen? Weil, weil sie seinem Charme erlag?
Nein, seinem Charme - Charme, Liebreiz, Aura oder was auch immer würde sie bestimmt nicht unterliegen. Wenn überhaupt je! Ha, ha, ha. Wo denkst sie hin? Nicht dieser technokratische Doktor. Hatte er nie für sie gehabt. Ihre Beziehung hatte nur dazu gedient, besser die Einsamkeit zu ertragen.
Sie erinnerte sich, wie sie verzweifelt über den Tod gewesen war, über den Tod anderer Menschen, die sie behandelt und gemocht und sich darüber in seine Arme geworfen hatte, um der Todeskälte zu entfliehen. Schließlich, darüber waren sie sich näher gekommen und wie sollte man dies bezeichnen: Wenn man etwas aus Angst vor dem Tod tut? Todesangst-Liebe?
Eine gute Grundlage?
Fraglich!
Aber egal.
Höchste Zeit, zur Tat zu schreiten, ihn zu treffen und verletzen, zu schlagen, zu geißeln und zu quälen, wie er es mit ihr getan hatte. Möglichst heimlich, aus dem Verborgenen heraus, wo immer es möglich ist.
Sie fürchtete seine Macht, seine Autorität, die er als Chefarzt in der mächtigen Krankenhaushierarchie hatte. Aber konnte er ihr beruflich schaden?
Eher zu verneinen.
Selbst der mächtigste Chef musste Gründe haben, um Personal zu kündigen. Immerhin gab es einen Betriebsrat. Schließlich waren sie eine öffentliche Einrichtung, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts oder wie das hieß.
Er konnte nicht einfach etwas gegen eine unliebsame Kollegin unternehmen. Dazu bräuchte er Komplizen, Helfershelfer, Spitzel, die sich auf eine Hetzkampagne gegen sie einließen und ihn unterstützten. Sie mussten ihm Beweise liefern, Indizien, Fehlverhalten bezeugen und so weiter ...
Der Wind weht nicht von dieser Seite.
Und doch!
Sie dachte an die kürzliche Entlassung ihrer Kollegin Mächthilde. Eine Jüngere hatte ihren Platz eingenommen. Von einem Tag auf den anderen.
Alle wunderten sich. Aber niemand konnte es sich erklären.
Der Fall warf ein Schlaglicht auf die undurchsichtige Verwaltung des Krankenhauses. Wie diese Maschinerie funktionierte, war ein Buch mit sieben Siegeln. Die Einstellung von Personal schien ein Glücksspiel zu sein. Dahinter steckte natürlich Vetternwirtschaft. Aber niemand wusste, wie die Seilschaften funktionierten. Niemand von denen, die sie kannte. Schließlich, wer war sie auch? Ein kleines Rädchen nur.
Dann überkam sie wieder der Wunsch nach Rache.
Aber sie merkte, dass sie noch keinen Schritt weitergekommen war. Dass sie nur der Gedanken allein befriedigte, war nicht genug. Nur zu sehen, wie sie ihm gegenüber stand und merkte, wie er unter ihren Schlägen litt ... Ja, er sollte genauso leiden wie sie. Ihm sollte es genau so schlecht ergehen wie ihr in diesem Haus … in diesem … mit diesen Schweinen ...
Sie schloss die Augen vor Schmerz.
Zunächst musste sie schauen, ihm um jeden Preis aus dem Weg zu gehen, bevor sie endlich zu Potte kam mit einem Plan.
Nur wie?
Eine Begegnung konnte im Prinzip nur in der Mittagszeit stattfinden. Beim Mittagessen, zum Abendbrot. Um diese Zeit hielten sich in der Kantine immer viele Leute auf. Er konnte sich nicht einfach an ihren Tisch setzen, sie einladen oder ein Gespräch beginnen, das nur ihn und sie betraf. Nein, vor fremden Leuten über Probleme zu sprechen, würde er nicht wagen. Dazu kannte sie seine steife, verschlossene Art zu gut.
Außerdem ziemt sich das für einen Chefarzt? Nein, die hochgestellten Damen und Herren blieben lieber unter sich. Das sollte ihr recht sein.
Andererseits war es auch für sie nicht leicht, irgendwo im Speisesaal mit Hunderten von Besuchern jemanden zu finden, den sie ansprechen konnte. Im Falle, dass nicht, konnte sie immerhin das tun: Setz dich immer mindesten zwei Stühle neben einem anderen hin. Halte Kopf und Oberkörper immer in Richtung jemanden, so dass der Eindruck entsteht, man säße mit Freunden und Bekannten an einem Tisch, nur nicht allein. Das Wichtigste ist, dass es so scheint, als wärst du nicht alleine. Das heißt, immer wieder lächeln, hin und wieder nicken, versuchen, egal mit wem, auf Teufel komm raus ein paar Worte zu wechseln und ihn irgendwie in ein Gespräch zu verwickeln.
Doch plötzlich war es erstaunlich einfach, sich anderen anzuschließen. Die Entführung war in aller Munde und seit Wochen Gesprächsthema Nummer eins. Und Hilde war eine Hauptfiguren dieser ominösen, skandalträchtigen Entführung!
"Ach Hilde, schön, dass du da bist. Wir sind gerade bei der Frage, warum man euch entführt hat? Also, wie sind die Gauner darauf gekommen, dass man von euch, vielmehr von unserem Chefarzt so viel Geld erpressen kann? Man munkelt immerhin von einer Million Euro. So viel kann doch kaum jemand aufbringen.“
„Ich habe gehört, dass ihr in einem Cabrio entführt worden seid. Wer so ein Auto fährt, der muss ja auch Geld haben wie Heu!“
„Moment!“, entgegnete ein anderer. „Auch wenn jemand einen Mercedes Caprio fährt, ist er noch lange kein Millionär. Viele können sich zwar ein Luxusauto leisten, wohnen aber zur Miete und führen ansonsten ein ganz normales, bescheidenes Leben. Mit wenig ausgehen, kaum teuer essen gehen, höchsten alle paar Jahre Urlaub machen, mehr nicht. Sie beziehen kaum mehr als ein knapp überdurchschnittliches Einkommen. Also, ich frage mich: Wie kommen die Entführer auf die Idee, den Arzt und seine Familie zu erpressen?"
"Na ja, der Arzt schwimmt wirklich in Geld. Ich weiß das. Ihr könnte euch davon ganz leicht ein Bild machen, wenn ihr hört, was ich euch jetzt erzähle.“
Hilde senkt ihre Stimme zum Flüstern. Die anderen rücken ihre Stühle näher an den Tisch. Doch bevor sie spricht, schaut sie sich nach rechts und links um. Sitzen irgendwo unliebsame Zuhörer? Oder schleichen sich heimlich neue Zuhörer an, um zu lauschen, was sie so Wichtiges zu verkünden hat. Freilich, je mehr Zuhörer, vor allem unbekannte, desto besser.
„Also, es fing damit an, dass er paar Tausend Euro in bar einstecken gehabt hat. Wirklich! Volle Hunderter. In seiner Hosentasche. So viel Geld hat der mit sich rumgetragen! Das hätte ich auch nicht für möglich gehalten."
"Nicht wahr?"
"Oder es kann noch viel mehr gewesen sein. Auf jeden Fall eine ganze Menge Geld. Es hat förmlich aus den Hosentaschen gequollen."
„So muss es gewesen sein, das glaube ich dir aufs Wort!“
„Das haben halt auch die Gauner bemerkt und sich gedacht: Wer so viel in der Tasche mit sich herumträgt, der hat bestimmt noch viel mehr auf der Bank.“
„Logo!“
"Ich kann euch sagen, woher das stammte, das viele Geld. Aber bitte nicht an die große Glocke hängen.“
"Wir sind verschwiegen wie ein Grab, Hilde, das weißt du doch!"
Der Kreis schließt sich, einige rücken naher an die Tischplatte heran und stecken wie eine verschworene Gesellschaft die Köpfe zusammen. Von weitem sieht es aus: Da wird eine sehr heiße Suppe gekocht. Am wenigsten wollte sich da der Arzt die Finger verbrennen, wenn er Hilde als Köchin ausmachte.
Nun, mit diesen drei oder vier Leuten kann man so reden. Bei den Personen, die ihr gestern zugehört haben, hätte das wie Verleumdung geklungen. Sie musste aufpassen, wie sie das Essen antrug, damit der Schuss nicht nach hinten losging und sie als Waschweib, eifersüchtiger Hahnrei oder rachsüchtige, verlassene Geliebte dastand.
Seltsamerweise fragte keiner ihrer Zuhörer, welche Rolle sie in diesem ganzen Szenario gespielt habe. Unangenehme Fragen wurden ihr nicht gestellt: Warum warst du im Cabrio? Was haben die Entführer mit dir gemacht? Wie hast du eigentlich mit dem Chefarzt zu tun? Nichts. Das interessierte niemanden. Das war auch nicht interessant. Das war nicht spektakulär.
"Der Chefarzt hat ein ganzes Haus vermietet. Da geht er jeden Ersten des Monats persönlich hin und lässt sich das Geld bar auf die Hand auszahlen, ihr versteht. Und da hatte er an dem Tag der Entführung das Schwarzgeld in seiner Tasche gehabt. Und als die beiden abgebrannten Penner zufällig die aus der Hose herausstehenden Tausender erblickten, haben sie zugeschlagen. Wer kann es ihnen verübeln, hätte ich beinahe gesagt.“
„Na, na!“
„Ist ja gut. Ich mein's ja nicht so!“
"Ach ja. Schwarzgeld. Was verdient man eigentlich als Chefarzt?"
"Gute Frage. Aber für eine vierköpfige Familie dürfte es allemal reichen.“
„Das meine ich auch.“
"Und für die Unterhaltskosten eines zweistöckigen Einfamilienhauses mit riesigem Garten ..."
"Gepflegten Garten wohlgemerkt!"
"Gepflegt?"
"Hat der Chefarzt dafür noch Zeit?"
"Was glaubst du denn? Natürlich hat er einen Gärtner."
"Deshalb die akkurat geschnittenen Kunstwerke aus allen möglichen Sträuchern und Hecken."
„Und der künstlich angelegte Teich auf dem riesigen Gelände …“
"Mit Springbrunnen, nicht zu vergessen Wasserfontänen."
"Und der moderne Vorbau, wie eine Halle. Ist das die Überdachung eines Schwimmbeckens?"
"Ja, das habe ich mich auch schon gefragt, wozu die das gebaut haben.“
Man merkt, dass einige schon eigene Nachforschungen vorgenommen haben.
"Ich nehme an, dies ist wirklich ein Swimmingpool. Nur ist er schlecht einsehbar, weil er nach außen raus führt, zum angrenzenden Wald."
"Der hintere Teil des Hauses grenzt an einen Wald, der so dicht mit Büschen und Unterholz bepflanzt ist, dass man nicht hindurchgehen kann, um einen Blick in das Anwesen des Arztes zu werfen."
„Richtig!“
"Oder, um vor neugierigen Blicken geschützt und nicht belästigt zu werden."
"Da musst du entweder einen sehr guten Draht zur Gemeinde haben oder auch Eigentümer des Waldes sein.“
"Beides würde mich nicht wundern.“
"Muss toll sein, einen eigenen Pool zu haben mit einer großen halboffenen Terrasse nach draußen ..."
"Oh ja, das wäre schön."
"Zu schön..."
„Ich glaube, ich muss mal hinfahren und es mir aus der Nähe ansehen. Scheint etwas ganz Besonderes zu sein.“
„So etwas findest du im Umkreis von 200 Meilen kein zweites Mal, glaube ich.“
"Davon können wir Sterblichen nur träumen ..."
"So sieht's aus!"
„Und man glaubt gar nicht, dass Chefärzte so viel verdienen.“
„Tun sie auch nicht. Die haben noch ein paar Nebeneinkünfte. Was wir gerade gelernt haben.“
„Schwarzarbeit? Nein, das kann man in dem Fall auch nicht sagen.“
„Du sagst es. Es gibt Tätigkeiten, bei denen man sich nicht einmal die Hände schmutzig macht. Auch wenn die Begriffe Schwarzarbeit und Schwarzgeld das nahelegen.“
Es war erschreckend, was alles an Klatsch und Tratsch an die Oberfläche gespült wurde. Keine Wäsche war zu schmutzig, um nicht gewaschen zu werden.
Eigentlich widerlich.
Aber sie empfand eine überwältigende Befriedigung. Herrlich, dieser Duft, der aus dem brodelnden Sumpf der Gerüchteküche aufstieg.
Jedes Mal war sie danach völlig erschöpft.
Eigentlich war ihr dieses ganze viele Reden und Tratschen zuwider, denn es passte nicht zu ihrer von Natur aus zurückhaltenden Art. Aber was sein muss, muss sein.
Und das Schönste war: Endlich schlief sie wieder tief und fest.
Aber das war noch nicht alles. Das reichte noch lange nicht. Sie musste noch mehr tun, um ihn richtig zu treffen und zu verletzen.
Sie erinnerte sich daran, dass dieser Blonde doch dieses Video ins Internet gestellt hatte.
Sie griff zum Telefon.
„Herr Kommissar, ich hätte gerne den Link zu diesem Video. Ich möchte es mir anschauen. Schließlich bin ich eine Betroffene.“
Aha, sie sah das Video.
Aber, oh Freude, sie selbst war in dem Film nicht zu erkennen. Nur ihr Hinterkopf war zu sehen. Sie hatte sich nicht umgedreht, um zu sehen, was hinter ihr passierte und wer da hantierte. Stattdessen war sie rechtzeitig aus dem Bildausschnitt gehuscht.
Wunderbar.
Das war gut. Das war sehr gut. Das eröffnete neue Perspektiven.
Schnell reifte ein Plan. Der lag auf der Hand. Und am nächsten Morgen ging es los.
Sie hängte Flyer mit der Adresse der Website an die Pinnwände des Krankenhauses. Sie schickte aufklärende Briefe an die beiden Lokalredaktionen. Einen an die Pfarrei, der der Arzt und seine ganze Familie angehörten. Dann an die örtlichen Wohlfahrtsverbände. Sie konnte nichts falsch machen, dieser Familienclan tanzte auf jeder Hochzeit, ob ehrenamtlich oder bezahlt. Dann das katholische Altenheim in seiner Heimatstadt, in dem sicher einige nahe Verwandte von ihm untergebracht waren.
Und wenn es ins Leere lief, dann gab es wenigsten Klatsch und Tratsch. Rufschädigung ist in der Provinz der halbe Ruin, wie sie wusste.
Sogar das eine oder andere Geschäft in der Kleinstadt des Arztes belieferte sie.
Auch das Rathaus mit dem Bürgerforum, einer großen schwarzen Wand, an die jeder Bürger einen Zettel heften konnte, wurde gepinnt.
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