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"Täubchen"

Verfasst: 20.09.2011, 20:05
von NickSeeb
Sie war schon alt, sehr alt sogar. Sie kannte ihr Alter selber nicht mehr, wenn man sie denn danach gefragt hätte. Sie hatte niemanden, keinen Mann, keine Kinder und keine Verwandten. Die wenigen Freunde, die sie einmal hatte, waren ihr weggestorben. So sass sie in ihrer kleinen Wohnung – alleine. Die wenige Nahrung, die sie noch brauchte, besorgte sie sich noch ab und zu. Sie fiel niemandem auf, warum hätte auch gerade sie auffallen sollen. Die Tage zogen sich einen um den andern dahin. Sie stand auf, putzte sich die Zähne, wusch sich manchmal, trank ihren Kaffee, und setzte sich in ihren Stuhl vors Fenster, das auf die Strasse hinausging. Sie beobachtete die Menschen. Es waren im Grossen und Ganzen immer die gleichen. Auch für diese Menschen wiederholte sich Tag für Tag das Gleiche. Sie blieben an derselben Stelle stehen, zündeten sich vielleicht eine Zigarette an und gingen wieder ihres Weges: der eine salopp, der andere schleichend, der nächste gestresst. Die einen hatten stets einen freundlichen Gesichtsausdruck, die andern einen mürrischen. Einmal schien die Sonne, dann sah sie öfter ein Lachen, aber die Mürrischen blieben immer gleich. Fiel Regen, sah sie nur die verschiedenen Farben der Schirme, die schnell vorüber zogen. Nichts änderte sich, aber sie nahm ihr Schicksal gerne an, lange würde sie so oder so nicht mehr hier sein.

Gerade goss sie ihren morgendlichen Kaffee auf, als es ganz sachte ans Fenster klopfte. Sie musste sich geirrt haben, im zweiten Stock klopfte niemand ans Fenster. Doch der Laut liess nicht nach, also schaute sie nach. Auf dem Sims sass eine Taube, eine schneeweisse Taube, wenn man von ihrem Kröpfchen absah, das sich blau-grau von ihrem Kleidchen abhob. Sie näherte sich dem Fenster ganz behutsam, um das Tierchen ja nicht zu erschrecken, doch die Taube flog nicht davon, sie plusterte ihre Federchen und guckte sie aus ihren schwarzen Knopfaugen an. Vorsichtig öffnete sie das Fenster, und siehe da, die Taube blieb wo sie war. Schnell eilte sie in die Küche, schnitt eine Brotscheibe ab und kehrte zurück zum Fenster. Sie zupfte eins ums andere ein Stückchen von der Scheibe ab und warf es der Taube zu. Dieser schien es zu munden, denn kaum landete ein Stückchen auf dem Sims, schwupp, war es auch schon weg. Fast die ganze Brotscheibe hatte sie der Taube verfüttert, als diese plötzlich kurz mit den Füsschen scharrte, sich in ihre Richtung verneigte, so schien es ihr wenigstens, und dann davonflog. Sie war bezaubert, berauscht von diesem einmaligen Erlebnis. Sie legte sich hin und träumte von der weissen Taube.

Am nächsten Morgen klopfte es wiederum ans Fenster. Auf dem Sims sassen zwei Tauben. Die eine war die vom Tage zuvor, die andere war grau gefiedert, hatte weisse Striche, die sich durch die Flügel zogen, und einen weissen Tupfer auf der Brust. Schnell holte sie ein Stück Brot aus der Küche, öffnete das Fenster, und siehe da, die Tauben blieben wo sie waren. Abermals riss sie eine Scheibe in kleine Stücke und warf sie den beiden hungrigen Tauben zu. Es dauerte nicht lange, und die Brotscheibe war weg. Wiederum verneigte sich die weisse Taube, aber nur die weisse, so schien es ihr wenigstens, und dann flogen beide davon.

Am nächsten Tag wiederholte sich die gleiche Zeremonie, nur sassen jetzt drei Tauben auf dem Sims, die dritte war in einem smarten Beigeton. Nach dem Fressen verneigte sich wiederum die weisse Taube, aber nur die weisse, so schien es ihr wenigstens, und dann flogen alle drei davon.

Ihr blieb kein Brot übrig, und so machte sie sich schleunigst auf den Weg neues zu besorgen. Sie kaufte gleich zwei Laibe und ein Vogelbuch. Zuhause setzte sie sich in ihren Stuhl ans Fenster, und las alles, was sie über Tauben finden konnte. Endlich hatte sie eine Aufgabe! Dass Tauben sich vor allem von Samen und Körnern ernährten, hatte auch sie gewusst, aber dass sie auch alle Arten von Abfällen frassen, war ihr bisher nicht bekannt gewesen. Da sie ihren Tauben einen abwechslungsreichen Speiseplan bieten wollte, zog sie sich an diesem Tag das zweite Mal ihre Ausgehschuhe an, und kaufte beim Krämer um die Ecke einige Büchsen Katzenfutter. Wie würden die Tauben wohl darauf reagieren? Sie war sehr gespannt.

Am nächsten Morgen sassen sechs Tauben auf dem Sims. Eine der neuen Tauben hatte ein weisses Köpfchen, ansonsten war sie pechschwarz, die nächste war grau-weiss gepunktet, ein Flügel schwarz, der andere schneeweiss und die letzte trug ein langweiliges graues Federkleid, auf ihrer Brust aber, zeichnete sich, kaum wahrnehmbar, ein Totenkopf ab. Das war schon sehr speziell, aber sie machte sich keine weiteren Gedanken. Sie öffnete das Fenster und die Tauben blieben wo sie waren. Diesmal legte sie einige Häufchen Katzenfutter auf ihre Handfläche und siehe da, schwupp, und alles war weg. Eins ums andere belegte sie ihre Handfläche, bis sage und schreibe eine ganze Büchse leer war. Wiederum verneigte sich die weisse Taube, aber nur die weisse, so schien es ihr wenigstens, und dann flogen alle davon.

Am nächsten Morgen sassen wieder die sechs Tauben auf dem Sims, keine neue war dazu gekommen. Zuerst legte sie Brotstückchen auf ihre Handfläche, doch die Tauben verschmähten es. Das Katzenfutter, das sie schnell nachlegte, verschlangen sie im Nu. Wiederum verneigte sich die weisse Taube, aber nur die weisse, so schien es ihr wenigstens, und dann flogen alle davon.

Ob all dem Glück, dass sie jetzt nicht mehr alleine war, wurde es ihr ein bisschen schwindlig. Sie liess das Fenster einen Spalt breit geöffnet, um etwas Luft einfliessen zu lassen und legte sich in die Mitte des Zimmers auf den Boden, um bald darauf einzuschlafen.

Am nächsten Morgen klopfte es sachte ans Fenster. Sie war nicht fähig sich zu erheben, geschweige denn aufzustehen. Es klopfte und klopfte, bis sie plötzlich ein Flügelschlagen seitlich ihres Kopfes wahrnahm. Es war die weisse Taube, die nochmals kurz mit ihren Flügeln flatterte, gurrte, und sich schliesslich neben sie hinlegte. Dann folgten die andern. Sie hockten sich auf ihre Beine, ihren Bauch und die graue direkt auf ihren Brustkorb. Sie schaute ihr tief in die Augen, so schien es ihr wenigstens, und pickte dann mit ihrem Schnabel zuerst sanft, dann immer fester und härter auf ihren Leib. Die andern, ausser der weissen, taten es ihr gleich. Zuerst wehrte sie sich, aber bald sah sie ein, dass es keinen Sinn machte und liess es sein. Die Tauben pickten und pickten, bis sie für diesen Tag gesättigt waren. Dann, so schien es ihr wenigstens, verneigte sich die weisse Taube, aber nur die weisse, und dann flogen alle davon.

Die Menschen in dieser Strasse gingen ihres Weges, es war immer das Gleiche. Vielleicht zündete sich einmal einer an einer andern Stelle eine Zigarette an, oder ein anderer wunderte sich, warum im zweiten Stock eines alten Hauses, seit geraumer Zeit, Tauben ein und ausflogen.



Text von Christine Seebacher:
http://www.christineseebacher.ch