So ein Glück
„Jetzt kommt da eine Frau vorbei, eine jüngere Frau, sieht gut aus, wäre was für uns, wenn wir nicht hier liegen müssten.“
„Was hat sie an?“
„Einen kurzen Rock und eine weiße Bluse. Hochhackige Schuhe trägt sie auch“.
„Wie sehen die Beine aus?“
„Prima Beine, lang sind sie.“
„Und die Haare?“
„Schwarze Haare, lange schwarze Haare.“
„Ist sie allein?“
„Nein, ein Mann geht neben ihr, vielleicht ihr Freund.“
„Sag mal, Wanitzki, können wir nicht endlich einmal die Plätze tauschen? Mein Bett sollte auch mal am Fenster stehen. Wir wechseln dann täglich ab.“
„Kommt nicht in Frage, ich liege schon drei Wochen länger hier als du. Du brauchst, nicht immer wieder zu fragen, diesen Platz behalte ich. Außerdem beschreibe ich dir ja immer alles genau, was sich draußen abspielt.“
Dieser Wanitzki! Beide sind wir dreißig Jahre alt, beide liegen wir seit Wochen hier in diesem Zimmer im Bett, können nicht aufstehen, nicht einmal aufs Klo gehen. Wir beide müssen in die Pfannen scheißen!
Besuch kommt auch nie, ich kann nur die Decke anglotzen.
Aber Wanitzki liegt in seinem Bett am Fenster, kann sehen, was da auf der Straße abläuft, kann das Leben sehen.
Manchmal schläft er auch am Tag, berichtet dann nichts.
Er will nicht einmal für kurze Zeit seinen Platz wechseln, unfair, egoistisch ist er.
Geld habe ich ihm schon angeboten, aber der lässt sich auf nichts ein.
Manchmal wünsche ich, er würde verrecken, dann hätte ich endlich seinen Platz, könnte etwas vom Leben sehen.
Eigentlich ist er ein Scheißkerl. Gestern habe ich ihn erwischt, er beschreibt nicht immer genau, was er sieht, erzählt nicht alles, ich muss oft nachfragen.
Da hat er wieder mal gesagt, dass eine junge, schöne Frau vorbeigeht, aber ihre Freundin oder Schwester hätte er fast unterschlagen. Die war noch viel schöner! Die wollte er für sich alleine behalten, nicht mit mir teilen! Dieser Mistkerl!
Der kann nicht anständig beschreiben, was er sieht. Immer wieder muss ich nachfragen, ihm die Würmer aus der Nase ziehen.
Abend ist es mal wieder geworden, jetzt passiert nichts mehr draußen.
Die Schwester ist noch mal vorbei gekommen, hat uns irgendwelche Tabletten gegeben, damit wir besser schlafen können.
Wanitzki erhält immer noch andere, die sollen seinen Schleim lösen. Er röchelt öfter so merkwürdig. Geschieht ihm recht, dem Schweinehund.
Mitten in der Nacht wache ich auf, Wanitzki röchelt fürchterlich. Ich mache das Licht an.
Merkwürdig sieht er aus, sein Gesicht ist ganz rot, er fuchtelt mit seinen Händen herum, seine Augen fallen ihm fast aus dem Kopf, er greift sich an den Hals, wirft sich hin und her oder versucht es zumindest.
Jetzt wird sein Gesicht blau.
Ich sollte auf den Notknopf drücken und die Nachtwache rufen, zögere aber.
Das ist meine einzige Chance, den Fensterplatz zu ergattern.
Ich mache das Licht wieder aus, Wanitzki röchelt immer schwächer, dann höre ich nichts mehr.
Als ich am Morgen aufwache, schieben sie gerade Wanitzki aus dem Zimmer, der braucht jetzt keinen Aussichtsplatz mehr. Wo der hinkommt, ist nichts mehr zu sehen, alles dunkel.
Die Schwester fragt mich, ob ich denn nichts gehört hätte. Tief geschlafen hätte ich, sage ich zu ihr.
Wanitzki sei verschieden, sagt sie.
Ja, den Fensterplatz bekäme ich.
Endlich, denke ich, endlich kann ich etwas anderes als die Decke sehen, endlich kann ich nachholen, was mir so lange Zeit entgangen ist.
Nach dem Frühstück kommt die Schwester mit einem Pfleger. Sie schieben mein Bett ans Fenster.
Ein schöner Tag heute, die Sonne scheint, auf der Straße wird viel los sein.
Ich hebe den Kopf ein wenig, schaue aus dem Fenster und sehe eine Mauer.
So ein Glück
So ein Glück
Ab Ende November bin ich für 3 Monate in Südamerika, ich werde also in dieser Zeit keine Texte einstellen, keine Kommentare abgeben und keine beantworten.
Wünsche alen eine gute Zeit.
Wünsche alen eine gute Zeit.
-
Lady Shakespeare
- Medusa
- Beiträge: 31
- Registriert: 07.10.2009, 10:51
Re: So ein Glück
Ich hoffe, meine Meinung als Laie ist dir etwas wert. Ich finde den Text sehr gut, kann auch ehrlich gesgt nicht verstehen, warum noch niemand geantwortet hat. Ich finde die Erzählform gut gelungen, man kann sich - nun ja, nicht in den Protagonisten hineinversetzen, aber seinen Standpunkt nachvollziehen. Sein Dreckscharakter, wenn ich das sagen darf, kommt sehr gut zur Geltung. Wie er seinen Bettnachbarn beschreibt und damit eigentlich wie er selbst auf den Leser wirkt. Am Ende bekommt er, was er will. Ich hätte mir etwas Reue vorgestellt, aber du hast Recht: Das käme im wahren Leben wohl kaum vor. Das Ende gefällt mir auch. Die Mauer. Es ist trotz allem in gewisser Weise gerecht.
Meintest du noch etwas anderes mit der Mauer?
Ich meine, man kann alles in alles hineininterpretieren, aber was mir fehlt, wenn ich Texte lese, ist zu erfahren, was der Autor sagen wollte. Das kann man in einem Forum leicht fragen.
Meintest du noch etwas anderes mit der Mauer?
Ich meine, man kann alles in alles hineininterpretieren, aber was mir fehlt, wenn ich Texte lese, ist zu erfahren, was der Autor sagen wollte. Das kann man in einem Forum leicht fragen.
Re: So ein Glück
Hallo Lady Shakespeare,
- wir sind hier alle "Laien", deine Meinung ist mir viel wert!
- im wahren Leben kommt leider noch viel Schlimmeres vor, denke ich.
- mag sein, aber mir ging es nicht um Gerechtigkeit.
- man kann sie auch als Metapher sehen, er bleibt ein Gefangener. Der Leser kann viel hinein interpretieren, wie
du auch sagst.
Ich freue mich, dass dir mein Schreibversuch gefallen hat.
Gruß
Pedro
Ich hoffe, meine Meinung als Laie ist dir etwas wert. I
- wir sind hier alle "Laien", deine Meinung ist mir viel wert!
Das käme im wahren Leben wohl kaum vor.
- im wahren Leben kommt leider noch viel Schlimmeres vor, denke ich.
Es ist trotz allem in gewisser Weise gerecht.
- mag sein, aber mir ging es nicht um Gerechtigkeit.
Meintest du noch etwas anderes mit der Mauer?
- man kann sie auch als Metapher sehen, er bleibt ein Gefangener. Der Leser kann viel hinein interpretieren, wie
du auch sagst.
Ich freue mich, dass dir mein Schreibversuch gefallen hat.
Gruß
Pedro
Ab Ende November bin ich für 3 Monate in Südamerika, ich werde also in dieser Zeit keine Texte einstellen, keine Kommentare abgeben und keine beantworten.
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