Nihil fit sine cause

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Lady Shakespeare
Medusa
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Nihil fit sine cause

Beitragvon Lady Shakespeare » 21.10.2009, 12:49

Ein kleiner Krimi, den ich für einen Schreibwettbewerb verfasst habe. Ein Kimi in Essen war das Thema. Ich habe deshalb ein bisschen was lokales in der Umgebung einfließen lassen. Ich hoffe er gefällt euch. Würde mich auf Rückmeldung freuen. :-)

Nihil fit sine cause
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Es war ein eisiger Novembermorgen. Es war früh und die Straßen noch wie ausgestorben. Dünner Nebel hing wie ein grauer Schleier über allem und ließ die kahlen, blattlosen Bäume gespenstisch wirken und es war als ob sie knotige, verkrümmte Hände nach den wenigen ausstreckten, die sich nicht der warmen Geborgenheit ihrer Betten hingegeben hatten. Sophie hätte es so gern getan. Ihre Schritte auf dem aufgesprungenen Pflasterstein hallten ungewöhnlich laut zwischen den Häuserwänden wieder und ihr Atem bildete kleine Wölkchen vor ihr. Ihr kroch lähmende Kälte in ihre Knochen und ihre Hände, die in ihrer Jacke steckten, waren schon taub, obwohl sie ihren dicksten Daunenanorak angezogen hatte. Es war erstaunlich wie anders heute alles für Sophie war; dabei nahm sie diesen Weg auch für gewöhnlich zur Schule- diesmal war es nicht das Gleiche. Die Jahreszeit ließ die Sybelstaße grauer erscheinen als sie es in Wirklichkeit war. Eigentlich mochte Sophie die Altbauten mit den verschnörkelten Ziffern neben den Türen, doch nicht heute. Die fein gearbeiteten Gesichter an den Hausfassaden sahen für sie nur so aus wie furchteinflößende Wasserspeier- das war nicht den Architekten vorzuwerfen; heute mochte Sophie nichts.Und sie hatte das Gefühl, dass sie von innen mit Raureif bedeckt war. An diesem Morgen hatte der Wecker geklingelt und als sie aufgewacht war, war dieser bittere Geschmack in ihrem Mund gewesen und er kam wieder, wenn sie an das dachte, was ihr bevorstand: Schule; Schule und trister Alltag. Jeden Morgen hatte sie Bauchschmerzen und während sie am Frühstückstisch saß und mit gedrückter Stimmung und offensichtlichem Desinteresse in ihrem Müsli herumstocherte, debattierten die beiden Stimmen in ihrem Kopf: Gehen oder nicht gehen, Gewissenhaftig- oder Verantwortungslosigkeit, Gehorsam oder Anarchie? Die Bücher in dem Rucksack auf ihren Schultern sagten wer schließlich gesiegt hatte, wer grundsätzlich immer siegte. Sophie seuftzte tief und sah auf ihre Digitaluhr. 7:35. Die Schule begann heute erst um neun und sie würde höchstens noch 10 Minuten brauchen um dort zu sein. Es war Montag und gestern war sie erst spät eingeschlafen. Sie musste gähnen, doch sie hielt sich zurück. Es war schrecklich, wenn die Stille zerrissen wurde und danach unausgefüllt blieb. Ihre Lider waren schwer. Sie wollte so gern wieder ins Bett. Zu spät., sagte sie sich selbst. Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du diese ganze Veantwortung übernommen hast. Doch Sophie fand, das war es wert. Sie war Klassenbuchführerin und hatte- worauf sie sehr stolz war- die Aufsicht über die Bücherstube. Sophie gab damit nicht an und sie glaubte, niemand würde sie beneiden, wenn sie es erzählte. Eigentlich war es eine Ehre, dass man ihr soetwas anvertraute und sie kannte den Grund. Wenn jemand fragte, sagte sie, sie sei relativ gut in der Schule, doch das war eine Lüge, denn es war maßlos untertrieben. Sophie war ehrgeizig, klug..., doch sie gab es nicht zu. Sie war ein Mensch, der sich nach Perfektion und Erfolg verzehrte und doch nie sehen wollte wie gut sie war, denn sie belastete sich selbst mit einem enormen Druck. Deshalb und trotz Sophies Zielstrebigkeit war ihr Selbstbewusstsein gleich null und der Schlüssel zur Bücherstube ein Segen. Sophie liebte es, keine Zeit mit ihren Mitschülern verbringen zu müssen, gab ihnen die Hausaufgaben, damit sie sie bloß in Ruhe ließen und flüchtete sich in jeder Pause in den Leseraum, wo die "Streber!"- Rufe sie nicht erreichten (als ob es ihr Spaß machte das zu sein). Kriminalromane waren ihre Liebsten, denn sie regten sie dazu an zu kombinieren, waren atemberaubend spannend- und gaben ihr einen Einblick wie mutig ein Mensch im Gegensatz zu Sophie sein konnte. Sie trottete an der Bibliothek vorbei, weiter die Straße entlang. Dann hielt sie inne und wandte sich nach links. Sophie wusste nicht woher der Drang kam, aber sie wollte unbedingt den Rielpark durchqueren. Sonst hoppelten ein paar junge Häschen über die Wiesen, doch nun erspähte Sophie nur eine schwarze Krähe. Der Sand unter ihren Füßen schluckte ihre Schritte wie ein dicker Teppich- der Gegensatz zum Bürgersteig fiel kaum auf, wenn man nicht darauf achtete. Die Schaniere der Schaukeln quietschten; natürlich waren sie rostig. Sophie entsann sich nicht, sie jemals in einem anderen Zustand erlebt zu haben. Sie war schon an den Bänken vorbei und betrachtete das kleine Holzhaus für Kleinkinder von dem in blauen und roten Flocken der Lack abblätterte, als ein markerschütternder Schrei ertönte. Er fiel wie ein schwerer Stein in die Stille und dann war es plötzlich ruhig. Sophies Herz schlug schnell und laut und sie meinte, derjenige, der dort war, müsse sie hören. Ihre Gedanken rasten als ihr Blick furchtsam in das Gebüsch fiel von woher der Schrei gekommen war. Da stand ein Junge, räudig gekleidet, mit blonden Haaren und blass wie der Tod. Er sah hinunter, vor sich, mit aphatischem Entsetzen in den Augen und Sophies Blick folgte seinem. Wer da am Boden lag, rührte sich nicht und das Gras um ihn war dunkel verfärbt, zinnoberrote Tropfen auf den Blättern und Halmen wie purpurner Tau und Sophies Herz setzte einen Schlag aus als sie auf das dolchartige Messer schaute, das der Junge in der Hand hielt; fest, fast krampfhaft umklammerte er den Griff, sodass seine Knöchel weiß hervortraten. Auf der metallenen Klinge waren bordeauxrote Schatten. Sophie wich einen Schritt zurück und ihre Gedanken kamen zum Stillstand und dennoch konnte sie währenddessen nicht ihre Augen von diesem grausamen Bild lösen, konnte der dunklen Fazination genauso wenig widerstehen wie der Junge selbst. Dann rasteten sie ein. Nur zwei Worte: Mord und Polizei. Das Präsidium war nicht weit von hier. Sophies Gedanken begannen wieder sich zu überschlagen. Wenn sie doch nur... Sie könnte... Was wenn... Es knackte und Sophie sah zu Boden. Unter der Sohle ihres Schuhs brach ein Zweig. Die Panik überkam sie noch ehe sie aufschaute. Der Junge sah sie direkt an.
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Sophie wollte sich umdrehen und rennen. Du bist nicht schnell genug mit Rucksack. Sie ließ ihn von ihrem Rücken gleiten. Egal. Egal, denn nun hing ihr Leben davon ab. Sie wollte lossprinten, doch sie spürte noch im selben Moment wie Finger ihr Handgelenk umschlossen und der Junge zog sie zurück. Er schlang den Arm um ihren Bauch und hielt sie fest. "Nein!" stieß Sophie ängstlich hervor und trat nach hinten aus, nach seinem Schienbein, seinem Fuß, im blinden Überlebenswillen und die Panik betäubte ihre Logik wie ein schweres Tuch. Er war ein Junge, stärker und einen Kopf größer als sie. Er hielt sie unerbittlich fest und ließ nicht los. Sein Griff gab nicht um einen Deut nach, bis Sophies Widerstand erlahmte und sie erschöpft keuchend in seinen Armen hing und ihr die braunen, langen Haare in wilden Strähnen ins Gesicht hingen. Sie konnte sich nichts darunter vorstellen, was jetzt geschah. Ihr wurde von innen noch kälter als die Temperaturen um sie je sein konnte, der Raureif gefror. Es war eine entgültige Kälte, die aus der Gewissheit erwuchs, was ein Mörder tun würde, wenn er einen Zeugen in die Finger bekam. Hätte sie es doch nicht mitangesehen. Sophie war klar, dass ein Mensch, der bereits ein Leben ausgelöscht hatte, es nicht scheute dies ein zweites Mal zu tun. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihre Uhr piepte schrill. 7:55. Sie sollte nun spätestens beim Hausmeister die Schlüssel holen. Man würde sie doch vermissen. Aber der Funken Hoffnung, der in ihr aufglomm, verlosch wieder. Dann wäre es wieder zu spät. Das Signal der Weckfunktion erstarb. Sophie war doch erst vierzehn. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Tränen stiegen ihr in die Augen. "HILFE!" schrie sie aus Leibeskräften. "HILFE!" Doch der Junge hielt ihr die Hand vor den Mund und erstickte den nächsten Ruf. Das Polizeipräsidium war so nahe. Es war Ironie. Ein Auto fuhr vorbei und das Radio spielte laut ´Killing me softly´. Es war pure, bittere Ironie. "Ich bin kein Mörder." sagte der Junge leise und eindringlich. Sophie lachte bitter auf, während ihr die Tränen heiß über die Wangen liefen. "Ich habe nichts getan." beteuerte er mit zitternder Stimme. Wüsste Sophie nicht, dass er jemanden umgebracht hatte, wäre er ihr fast sanft vorgekommen. Welches Spiel trieb er da mit ihr? "Du musst mir glauben." bat er fast flehend und Sophie spürte, dass sein Herz genauso raste wie ihres. "Ich lasse dich los, wenn du nicht schreist." kündigte er an und ließ seine Hand sinken, als sie nickte. "HILFE!" rief sie als ihr Mund frei war. Noch ehe er Sophie verstummen ließ, erkannte sie die Ausweglosigkeit ihres Vorhabens. "Bitte, schrei nicht." sagte er. "Sonst?" fragte sie dumpf. Allmählich glaubte sie nicht mehr, dass er ihr etwas antun wollte, denn wenn es seine Absicht gewesen wäre, hätte er es längst hinter sich bringen können. Sie stellte ihn auf die Probe. Was konnte sie schon noch verlieren? "Ich weiß es nicht." flüsterte der Junge verzagt, beinahe resigniert, als wäre er von seiner eigenen Situation vollkommen überfordert. "Ich schreie nicht." versprach Sophie und er gab sie frei. Sie wollte fortrennen, doch dann sah sie ihm in die Augen. Warme, grüne Augen und dunkle Augenringe, als habe er Tage lang nicht geschlafen. Er sah sie an, hilflos und bittend. Und sie rannte nicht fort. "Wer bist du?" wollte Sophie mit einem zitternden Atemzug wissen und sie konnte in dem Gewirr von Emotionen nicht ausmachen, warum sie diesem Jungen vertraute. "Raffael." antwortete er heiser. Was soll ich jetzt tun?, fragte Sophie sich. "Ich bin Sophie."rutschte ihr der eigene Name heraus, ohne dass sie darüber nachgedacht hatte. Das war ein Fehler. "G- Geh einfach nach Hause." schlug Sophie vor. "Und... wir vergessen das alles einfach." Denn das war das, was sie am meisten wollte und sie hielt es selbst für egoistisch und verwerflich, denn im Gebüsch vor ihnen lag eine Leiche. In was war sie da hineingeraten? "Ich kann nicht." erklärte Raffael. "Wieso?" fragte Sophie schrill und war kurz davor wieder in Panik zu verfallen. "Ich habe keins." erwiederte der Junge und lächelte gequält- und hinter ihm lag die Leiche. Sophie lachte hysterisch auf; was sollte sie nur tun? Verzweiflung dominierte ihre Gefühle. Ihr Blick wanderte wieder zu dem Gebüsch. Dann auf ihre Armbanduhr: 8:05. Sie mussten weg von hier. Egal ob sie- vielleicht sogar beide- unschuldig waren, wirkte es sehr verdächtig, wenn sie hier waren und man sie bei einem Toten fand. Mehr konnte sie nun nicht kombinieren. "Wir müssen weg." bestimmte Sophie, nahm ihren Tornister und packte Raffaels Handgelenk. er ließ sich anstandslos mitziehen zum Haupteingang der Alfred-Krupp-Schule und zum Takt ihrer Herzen schlugen ihre Schuhe auf den Asphalt. Innerhalb von 15 Minuten hatte sich Sophies Leben drastisch geändert.
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"Guten Morgen, Herr Döbke." grüßte Sophie mit einem gezwungen höflichen Ton. "Du bist spät." stellte der Hausmeister fest. Er war schmal und hochgewachsen und eigentlich Sophies Pünktlichkeit gewohnt. "Verzeihung, aber... ich wurde aufgehalten." erklärte sie ruhig, doch sie konnte ihre Nervosität nicht ganz und gar verbergen. Herr Döbke sah sie skeptisch an, fragte aber nicht weiter nach und übergab ihr die Schlüssel. "Danke." sagte Sophie und verließ das Büro des Hausmeisters. Sie winkte Raffael zu, der sich hinter einer Säule in der Eingangshalle versteckt hatte und er folgte ihr. Statt die breite Treppe nach oben zu nehmen eilten sie am Lehrerzimmer vorbei über die schmale mit dem hölzernen Geländer, damit der Junge ungesehen hinaufgelangte. Sophie hatte nie etwas Verbotenes getan. Das Adrenalin schoss in ihre Adern. Es gab ihr einen gewissen Kick, der mit der Angst einherging erwischt zu werden. Das kann doch wohl nicht wahr sein!, rief sie selbst in ihrem Inneren. Aber war es nicht das, was sie immer gewollt hatte? Sie spielte eine Rolle in einem Kriminalroman. Fahrig versuchte sie die Bücherstube aufzuschließen; sie benötigte 3 Ansätze. Hastig schob sie Raffael hinein und schloss bedächtig die Tür. Dann lehnte sie sich an und ließ sich hinuterrutschen. "Setz dich." forderte sie den Jungen auf, der verloren im Zimmer stand und wies auf einen der Sessel, die im Kreis aufgestellt waren. Unsicher ließ er sich hineinsinken und Sophie betrachtete ihn genauer. Raffael trug zerschlissene, ausgebleichte Jeans, an denen getrockneter Matsch klebte, fast durchgelaufene Turnschuhe und einen Kaputzenpullover, dessen Kaputze bereits nur noch an einem Faser hing; dort wo das Sweatshirt über die Hose hing, war es eigenartig ausgebeult. Seine blonden Haare waren strubbelig und dreckig. Er wirkte sehr verwildert."Du kannst nirgendwo hin?" vergewisserte Sophie sich abermals. Sie kam sich vor wie ein Verbrecher. Beihilfe zum Mord würde es heißen. Vertuschung einer Straftat, auch wenn er so aufrichtig wirkte. "Nein." bestätigte der Junge und widmete sich der ungewohnten Gemütlichkeit seiner Sitzgelegenheit. Für ihn riskierte sie ins Gefängnis zu kommen. Sie stellte sich selbst die Frage: Warum? Sophie warf ihm dann einen strafenden Blick zu und er erkannte, dass dies als Antwort nicht genügte. "Ich bin Waise. Vollwaise. Ich lebe auf der Straße. Bin abgehaun` als meine Mutter starb. Ich wollte nicht ins Heim." erklärte Raffael. "Oh." machte Sophie mitfühlend. "Schon okay." winkte der Junge ab. Es war nicht gelogen, die Aufrichtigkeit in seiner Stimme war unüberhörbar. Sophie raffte sich auf, warf Rucksack und Anorak in die Ecke und atmete tief ein. "Wir müssen zur Polizei." stellte sie fest. "Nein!" rief Raffael und sprang auf. "Leise!" ermahnte sie ihn gereizt. "Ich gehe nicht zur Polizei." klärte der Junge leise aber nachdrücklich. "Wieso?" wollte Sophie verständnislos wissen. "Wenn sie mich nicht in den Knast schicken, dann ins Heim!" gab er aufgebracht zurück. "Dann- wenn du wirklich unschuldig bist- musst du eben nicht mehr auf der Straße leben." erwiederte Sophie, schließlich ging sie fest in dieser Annahme, sonst hätte sie ihn nicht mitgenommen. "Heim ist Mord! Weißt du wie mies man da behandelt wird?! Du hast niemanden und niemanden interessiert`s wie übel die mit dir umspringen!" warf Raffael ihr vor. "Man muss sich um Staßenkinder kümmern. Lange läuft das sowieso nicht gut." erklärte Sophie. Der Junge schnaubte verächtlich. "Ich lebe schon seit 3 Jahren auf der Straße.Du bist reich, du weißt nicht wie das in Wirklichkeit ist. Du hast keine Ahnung wie viele Kinder obdachlos sind, ohne dass sich jemand darum kümmert."-"Ich bin nicht reich!" zischte Sophie zurück. "Meine Eltern haben Hartz VI !"-"Pah! Wenigstens hast du Eltern!" entgegnete Raffael scharf. "Gut. Es tut mir Leid." gab Sophie schließlich nach. "Du willst nicht zur Polizei." fasste sie die Lage zusammen. "Und du kannst nirgendwo hin." Sie stöhnte. "Ewig..." Das ´ kannst du nicht hierbleiben´ ging unter, als die Schulglocke ertönte. "Ich muss weg." entschuldigte Sophie sich hastig und schlüpfte mit ihrem Rucksack auf den Flur. Nach 45 Minuten würde diese Misere weitergehen. "Und du bleibst hier!" schärfte Sophie Raffael ein, bevor sie entgültig im Unterricht verschwand.
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In der Geschichtsstunde waren Sophies Gedanken in der Bücherstube, bei Raffael und der Leiche im Park. Er würde es ihr erklären müssen- und es musste eine verdammt gute Erklärung sein, nach dem, was sie mitangesehen hatte. Sie hätte ihn ausliefern können, doch jetzt kam es auf gegenseitiges Vertrauen an; sie steckten zusammen in dieser Sache. Außerdem hatte er etwas an sich, dass Sophie nicht beschreiben konnte und das sie bei keinem ihrer Mitschüler gesehen hatte. Ihr Sitzpartner Marvin schnupfte ein zu Pulver zermörsertes Vivil-bonbon. Angewidert schob sie ihren Stuhl von ihm weg und dachte wieder an Raffael, während wie von weit einige Fetzen des Vortrags ihres Geschichtslehrers in ihr Bewusstsein drangen: Es ging um Bonny und Clide.
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Als Sophie atemlos zur Bücherstube stürmte, schob sich ein Blondschopf aus dem Türrahmen und lugte vorsichtig über den Gang. Sophie schob sich schnell in das Zimmer und schlug Raffael die Tür vor der Nase zu. "Sag mal, was denkst du dir dabei?!" fragte sie voller Empören über solchen Leichtsinn. "Wir haben im Park eine Leiche liegen!" rief sie weiter und stieß ihm den Finger vor die Brust. "Und du beschließt mal eben auf Besichtigungstour zu gehen?" Sophie bemerkte selbst, dass der Druck Zeuge einer solchen Tat zu sein, schwer an ihr nagte. Unfassbar! Raffael hob abwehrend die Hände. "Hey. Ich hab´ noch ein ganz anderes Problem." rechtfertigte er sich. "Was?" wollte Sophie mit unterdrückter Wut wissen. "Ich müsste mal dringend wohin." informierte der Junge sie gewichtig und nun verlor Sophie wirklich die Fassung. "Was ist wohl wichtiger? Dass du aufs Klo musst, oder ein MORD?!" schrie sie ihm entgegen. Sie spürte wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Dann hörte sie Schritte im Flur, einen klimpernden Schlüsselbund. Sie sog scharf die Luft ein. Ihr Herz schlug schnell, aus nahender Angst entdeckt zu werden.Die Tür öffnete sich langsam.
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Sophie saß seelenruhig mit übergeschlagenen Beinen in einem der Sessel. "... schrie Marie Ann ihren Bruder wütend an." las sie einen Satz vor, der in dem Buch, welches sie in Händen hielt, überhaupt nicht vorkam. Erschrocken hob sie den Kopf, als habe sie den Leher, der sich nun vernehmlich räusperte, just in diesem Moment erst bemerkt. Sophie ließ das Buch sinken. "Ja bitte, Herr Maring?" erkundigte sie sich nach dem Anliegen des Mannes mit dem schütteren Haar und der Nickelbrille, der von den Schülern oft nur ´die Eule´ genannt wurde. "Ich dachte ich hätte jemanden gehört." meinte er ohne Umschweife und sah sich eingehend im Raum um; er hatte sich selbst für den Schulleiterposten zur Wahl gestellt und war nichteinmal Stellvertreter geworden, was ihn nicht daran hinderte, sich für alles verantwortlich zu fühlen. "Nein. Hier bin doch nur ich." belächelte Sophie Herr Maring. "Das Buch ist nur sehr fesselnd." Sie hielt die Lektüre empor, die sie im letzten Moment aus einem der Regale gezogen hatte. Erst als sie die steile Skepsisfalte auf der Stirn ihres Lehrers sah, bemerkte sie, dass sie es falschherum hielt. Statt diesen Fehler unverzüglich wieder zu berichtigen, bügelte sie ihn auf andere Weise aus. "Es ist ein Wendetitel,- eine besondere Spezial-Ausgabe des Buches." erklärte sie bedächtig und wunderte sich wie kühl sie lügen konnte. "Demnächst etwas leiser." brummelte er und schloss die Tür hinter sich. Sophie wartete bis sie Herr Marings Schritte nicht mehr hörte, ehe sie erleichtert wieder ausatmete. "Mein Problem ist noch nicht gelöst." machte Raffael sie wieder auf sich aufmerksam. Seine Stimme war etwas gedämpft durch den Paravon in der Ecke, hinter den Sophie ihn gestoßen hatte. Sie öffnete ihren Rucksack und fischte eine leere PET-Flache heraus. Sie warf dem Jungen die Plastikflasche zu. "Bleib lieber dahinter." riet sie ihm. "Tut mir Leid, aber du kannst nicht auf die Touilette- man könnte dich sehen."-"Och, schon easy." meinte Raffael. "Auf der Sraße ist´s nicht luxoriöser. Da hat man kein... Parawas?"-"Paravon. Das ist französisch, heißt soviel wie Trennwand- Ach, die Flasche lass lieber dahinter, ja?" schwang Sophie von ihrer Erläuterung um, womit sie verhinderte, dass Raffael das nun wieder volle Leergut mitbrachte. Lässig ließ der Junge sich wieder in seinen Sessel fallen. "So, was steht an?" fragte er dann nach. "Der Mord." half Sophie ihm auf die Sprünge. Sie begriff Raffael einfach nicht, seine ganze Art-, die jedenfalls noch besser war als die mancher anderer Jungen, die sie kannte- war ein wenig befremdlich (was noch ein milder Ausdruck war). "Jaah." sagte er gedehnt. "Das war ich nicht." Sophie atmete nocheinmal geduldig ein. Es war erstaunlich wie wenig er zu dem Vorfall zu sagen hatte, der ihrer beider Leben von Grund auf umgekrempelt hatte. "Sondern? Bitte, ich möchte dir nicht alles aus der Nase ziehen müssen." bat sie sanft. Vielleicht musste man nur etwas netter mit ihm umgehen, damit er sich öffnete. Recht besehen, war es ganz natürlich für einen Straßenjungen misstrauisch zu sein. Der Junge sah ihr tief in die Augen, als schaue er in ihre Seele und prüfe, ob man ihr vertrauen könnte, dann seufzte er und begann zu erzählen. "Der Tote, das war Ratten-Frankie."-"Ratten-Frankie?" unterbrach Sophie ihn ehe er richtig begonnen hatte. "Ja.Er mochte Ratten und sie mochten ihn. Sie haben ihm gezeigt, in welchen Mülltonnen es noch was Essbares gab. Frankie ist ein alter Hase in der Gosse, er kennt die trockensten Übernachtungsplätze." fuhr Raffael fort und bezog Sophies Frage mit ein. Er ließ sich weder Ekel, noch Bedauern oder Mitleid anmerken- Sophie empfand all das, doch der Junge kannte nichts anderes als dieses Leben. "Ich hatte nicht viel gegessen und er half mir, vorher hatte ich probiert zu stehlen; erst Brieftaschen, aber bei meinem Aufzug hat mir das niemand mehr abgekauft... Nun ja, zumindest sind wir oft zusammen rumgestreunt. Ich weiß nicht wieso, aber an dem Tag- ah, das war ja heute!- da war plötzlich so ein Mann. Er sah ganz normal aus und hatte Handschuhe an. Er kam ganz langsam auf uns zu, Frankie wollte wissen was er wollte, aber er schwieg und zog ein Messer. Der Typ drückte es mir in die Hand und-" Die Augen des Jungen weiteten sich bei der Erinnerung. "er ließ mich zustoßen... all das Blut..."-"Ist schon gut." tröstete Sophie ihn und legte beruhigend die Hand auf seine Schulter. Sie glaubte nicht mehr, dass er log; der Schreck, der nun wieder in seinem Gesicht stand, war echt. Konnte jemand wirklich so authentisch unehrlich sen? Sophie vermutete es nicht und selbst wenn sie in Gefahr käme, ... direkt neben der Tür war der Feueralarm-Schalter. Sophie fühlte sich hinterhältig diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. "Ich glaube dir." versicherte sie, doch sie mussten etwas unternehmen. "Weißt du, wer es hätte sein können?" erkundigte sie sich. Raffael schüttelte den Kopf. "Hast du vielleicht irgendetwas getan?"-"Ich wüsste nicht was und ich wüsste auch nicht, warum jemand einen Obdachlosen umbringen sollte. Wir tun niemandem was und wir haben auch nichts." erklärte er bedauernd. "Also," zog Sophie ein neues Fazit. "Du willst nicht zur Polizei, du kannst nirgendwo hin und wir haben keine Ahnung wie es weitergehen soll." Eine Weile herrschte Stille und sie beide überlegten fieberhaft, aber alles schien so ausweglos. Ihre Gedanken waren nur noch ein verworrenes Durcheinander und führten einfach zu nichts. "Wir sollten morgen weiterüberlegen. Heute war ein ereigisreicher, langer Tag. Vielleicht kommen wir dann zu etwas." schlug Sophie vor und schulterte ihren Tornister. "Darf ich bleiben?" fragte Raffael hoffnungsvoll. "Ja." erlaubte sie, weil ihr keine andere Lösung einfiel. "Korrekt!" jubelte der Junge. "Aber nur heute! Und bleib jadrin. Oder versuch rauszukommen, ich muss dich nämlich einschließen." Damit machte sie die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloss um. Sie ließ ihn in die Tasche gleiten. Biologie, Physik, Deutsch. Dann war Schulschluss und nichteinmal als der Gong ertönte, konnte sie das vergessen, was heute geschehen war.
Sophie war nervös als sie dem Hausmeister versicherte, dass er nicht mehr nach der Bücherstube schauen müsse und die Klassen ihn in den nächsten Tagen nicht betreten sollten, da sie den Boden des Raumes neu lackierte, was er ihr abkaufte (so lohnte es sich also ein Streber zu sein) und als äußerst löblich empfand. Er vertraute ihr. Auf dem Nachhauseweg machte sie einen großen Bogen um den Rielpark. Sie sah bewusst nicht hin. Vielleicht- sogar ganz sicher!- hatte man die Leiche bereits entdeckt. In ihrer Wohnung angekommen sprach sie nicht viel mit ihren Eltern, aß appetitlos ein paar Löffel ihres Mittag- und Abendessens und legte sich früh ins Bett. Es wurde dennoch spät bis sie einschlief. Die kleine Lampe auf dem Nachttisch strahlte nur schwach und tauchte das Zimmer in ein oranges Dämmerlicht. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen und es tanzten weiße Lichtflecken vor ihrem Blickfeld, als ihre Gedanken bald nur noch eine zäh dahinfließende, langsam begreifende Masse waren. Schließlich fielen ihr die Lider entgültig zu und sie versank in einem Alptraum aus Dornen, Dunkelheit und Blut mit nur einem Lichtblick: Einem merkwürdigen, blonden Straßenjungen.
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Der Wecker klingelte mit einem schrillen metallischen "Drrrring" und Sophie schreckte aus ihrem unruhigen Traum auf. Sie schlug schlaftrunken die Decke zurück und das Buch, das sie am Vorabend gelesen hatte, fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden. In silbernen Lettern stand der Titel auf dem schlichten Umschlag: `Die Deutsche Gesetzgebung`. Sophie legte es auf die Kommode zu der Metalldose mit den Lutschbonbons und strich sich fahrig eine Strähne hinters Ohr. Für einen seligen Augenblick wusste sie nichts, doch dann überwältigte die Erinnerung sie wieder. Sie wollte nicht wirklich wach werden, dennoch wusch sie sich schnell mit kaltem, ernüchternden Wasser und lief zum frühstücken in die Küche. Statt etwas zu essen, machte sie sich 2 großzügig belegte Brote für die Schule. Sophie verabschiedete sich und trat vor die Tür. Die Kälte stach auf der Haut und Sophie krempelte ihren Kragen hoch. Dann ging sie zur Schule und sie musste ihre Fassung halten, als sie ins Foyer trat.
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"Weißt du was das ist?" rief Sophie aufgebracht und warf Raffael die WAZ auf den Tisch. "Ja, ich habe sehr gut geschlafen. Danke der Nachfrage." murmelte er säuerlich. "Tolle Schlagzeile, oder?" wollte Sophie wissen; der Sarkasmus in ihrer Stimme war schneidend zynisch. Die druckfrische Tinte bildete eine blutrünstige Titelstory wie sie der BILD gerecht geworden wäre:
Rielpark-Massaker
Ein Mörder in Essen

"Soll ich mal vorlesen?" Sie wartete nichteinmal auf eine Antwort. "Die Wiese des Rielparks ist von Blut getränkt. Dort wo sonst ihre Kinder spielen zerreißt nun der Schatten eines grausamen Mordes die Idylle...Sind das Reporter oder Romanschreiber? Drama-Queens! Dieser Schund ist das Papier nicht wert auf dem es gedruckt wurde!" unterbrach Sophie ungehalten ihr Vorlesen. "Hörst du mir überhaupt zu?" erkundigte sie sich, als sie fortfahren wollte. Raffael spielte an einem Amulett herum, das um seinen Hals hing. Sophie ließ fassungslos die Zeitung sinken; diesmal war es nicht wegen der fehlenden Aufmerksamkeit ihres Gegenübers. Das Medallion war oval und schien aus purem Gold zu sein, darauf ringelte sich ein chinesischer Drache um einen Jadestein von hellem grün und türkis. Das Amulett hatte eine ebenso goldglänzende Kette mit feinen, dünnen Gliedern. "Woher hast du das?" fragte Sophie langsam. "Das hier?" Der Junge hob, unübersehbar erfreut über den Themenwechsel, das Schmuckstück hoch. Es reflektierte das Licht, das durchs Fenster hineinfiel; es sah wundervoll aus und verlieh dem Raum ein gelbes Schimmern. Sophie nickte. "Ich brauchte Klamotten und hab´ beim Flughafen ´nen Metallkoffer geklaut. Weißt du, da ist mehr Getümmel und die achten nicht wie Schießhunde auf einen wie im Limbecker Platz. Na ja, in dem Koffer waren nur uralte, vergilbte Papiere und das hier." Er schnippte gegen den Anhänger. Ein leichtes Pling ertönte. "Es gefiel mir, da hab´ ich´s mitgenommen. Den Koffer hab´ ich einfach am Bordstein stehen lassen." Sie glaubte, dass da mehr war, dass er ihr etwas verschwieg, doch die Erkanntnis wog in dieser Sekunde schwerer. Sophie gestikulierte triumphierend. "Das ist die Lösung! Das Ding ist wertvoll..." jubelte sie und für einen Moment fand sie es sogar ganz normal, dass es gestohlen war. "Warum? Willst du die Bullen bestechen? Könnte helfen..." Raffaels Verblüffung wich einem ernsthaften Überlegungston. "Nein." fiel Sophie ihm ins Wort, ehe der Gedanke Form annehmen konnte. "Wahrscheinlich ist das der Grund, dass man dir den Mord anhängen will. Sicherlich waren in dem Koffer Wertpapiere und es war eine Schmugglerbande, die bestimmt ihr Artefakt von dir zurück wollen. Aber..., wenn wir zur Polizei gehen würden, würde man es beschlagnahmen. Das würden sie sicherlich nicht zulassen..." Es war nicht schwer für sie, sich vorzustellen was ein Schmugglerring unter Druck entlarvt zu werden mit einem Straßenjungen getan hätte, was die Angelegenheit nicht angenehmer machte. Hinzu kam... man hatte gewiss nicht von Anfang an die Absicht gehabt ihm diesen Mord anzuhängen; man hatte Frankie getötet, weil er ein Zeuge geworden wäre und als Sophie aufgetaucht war, hatte die Zeit nicht mehr genügt die Sache zu Ende zu bringen. "Will heißen...?" bewegte Raffael sie weiterzusprechen. "Wenn wir zur Polizei gegangen wären, wären wir jetzt tot." erklärte sie und ein beklemmendes Gefühl bretete sich in ihr aus. "Buja!" rief Raffael und klopfte sich anerkennend auf die Brust. "Meine Intuition!"-"Ja, super." murmelte Sophie mit herzlich wenig Begeisterung einem Sraßenjungen Asyl zu bieten, der von Mördern und der Kripo verfolgt wurde, sie da mithineinzog und sich anscheinend auch noch darüber freute. Alles wurde nur noch schlimmer. "Dann musst du eben versteckt bleiben." kam sie schließlich zu einem Schluss, der sie nicht wirklich zufriedenstellte. Im Gegensatz zu Raffael. Eigentlich war es verständlich. Er hatte einen warmen Unterschlupf, Sessel...; alles, was er auf der Straße nicht gehabt hatte. Aber für Sophie stand die Lage schlecht. Sie wusste nicht wie lang sie ein normales Leben vortäuschen und zugleich dieses Versteckspiel spielen konnte, das jederzeit auffliegen und ihr eine Vorstrafe sowie einen Aufenthalt im Jugendgefängnis bescheren konnte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen sich zu wünschen etwas Aufregendes zu erleben, das sollte den Protagonisten in Büchern überlassen bleiben. Sophie schloss die Augen. Lektion gelernt., sagte sie in Gedanken, doch als sie die Lider wieder hob, war alles noch beim Alten. Wie naiv zu glauben, dass sich all ihre Probleme einfach in Luft auflösen würden- das hatten sie nie getan. Sophie seufzte und strich sehnsüchtig über die Buchrücken in einem Regal neben ihr. "Sag mal, hast du keine Freunde?" drang Raffaels Stimme zu ihr durch. "Hab´ ich nicht. Wieso?" erwiederte sie frostig und knapp. "He, nicht so abweisend." beschwigte der Junge sie. "Ich meine ja nur... du bist andauernd nur hier oben..." Sophie klaubte ihren Rucksack auf und warf ihn sich über die Schulter. "Ich geh´ dann mal." sagte sie tonlos, ohne Raffaels Rechtfertigungen weiter zur Kenntnis zu nehmen. Die Sache entwickelt sich wirklich hervorragend., dachte sie niedergeschlagen. Nicht nur, dass sie ihn am Hals hatte, er konnte sie nichteinmal leiden, dabei wäre er erledigt, wenn sie ihm nicht die Haut gerettet und ihn in ihrer Bücherstube untergebracht hätte. Er war nur ein weiterer Idiot und dabei hatte sie gedacht..."Obwohl du ganz hübsch bist." rief Raffael ihr hinterher. Die Tür flog zu und sie war schon hinausgerauscht, aber sie hatte es gehört. Ihr war aufeinmal ganz warm, als würde etwas Heißes durch ihre adern fließen, doch es brachte nicht wie die Wut ihr Blut zum Kochen, sondern ließ es freudig pulsieren, leidenschaftlich; es war das erste Mal, dass sie dies empfand und ein angenehmer Schwindel ergriff sie. In der nächsten Pause, dachte sie fürsorglich, bringe ich ihm mein Brot. Sicherlich hat er Hunger.
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Sophie stöhnte,als sie nach ihrem Lamy-Füller griff und ihn nicht ertastete. Er was hölzern mit roter Plastikkappe, die schon einen Knacks hatte; er war acht Jahre alt und sie hatte ihn seit der ersten Klasse. Es war zwar nur ein Stift, aber er war ihr wichtig, denn sie hatte seeeeehr viel mit ihm geschrieben und außerdem ging es einfach nicht an, dass man ihr andauernd die Sachen wegnahm. Sophie schaute auf. Marvin hatte ihren Füller und hielt ihn mit unverholener Schadenfreude in die Höhe. "Willst du ihn zurück, Freak?" feixte er. "Gib ihn her." bat Sophie genervt, auch wenn ihr klar war, dass es nichts brachte. Man soll sie ignorieren. Das war ein 0-8-15-Rat, der überhaupt nichts brachte, wenn man keine Materialien mehr hatte (alle geklaut) war er nur leidlich realisierbar. Dann gab es noch einen Rat, der bei Eltern überaus beliebt war: Zu Lehrern gehen. Oh ja, der Lehrer, dein Freund und Helfer. Es lag jedoch nicht daran, das Lehrer nicht wohlwollend eingriffen, sondern daran, dass man daraufhin nur noch mehr gemobbt wurde. "Gib ihn zurück." forderte Sophie ihn gereizt auf. "Nö, Tschau!" sagte Marvin gedehnt. Langsam wurde sie zornig. "Gib ihn mir!" blaffte sie ihn an und griff in das schwarze Schafshaar des Jungen. Sie riss seinen Kopf in den Nacken und schnappte sich ihren Füller. "Gedisst, Marv!" hörte sie Achmed aus der hintersten Reihe. Sophie beglückwünschte sich zu ihrem neugewonnenen Selbstbewusstsein, insgeheim fragte sie sich aber woher es kam; sie wusste es nicht. Obwohl... Sophie musste lächeln. Sie wusste es doch.
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In Philosphie sah Sophie gedankenversunken aus dem Fenster. der Schulhof war leer. Aus all dem grauen Asphalt sprossen Gräser und Krokusse, Bäume warfen ausladende Schatten über Tischtennisplatten, eine kleine sitzecke mit Bambussträuchern schmückte die linke Seite des Hofes und beim Nebeneingang hing eine Plakette mit der stolzen Aufschrift `Schule mit Courage, Schule ohne Rassismus`, auch gab es an der Wand der Turnhalle ein Grafitti mit den Handabdrücken der Schüler:`Farbe bekennen`. Und all das hatten sie den zahlreichen AG´s der AKS zu verdanken. Der Schulhof, besonders der hintere mit dem Basketballplatz und den Kletterbäumen (die eigentlich nicht dazu gedacht waren) , konnte eine grüne Oase sein, deshalb war es eigentlich schade, dass Sophie ihre Pausen so selten draußen verbrachte. Aber recht überlegt hatte sie mit Raffael mehr zu tun, als sich einem erholsamen Spaziergeng über das Gelände der Alfred-Krupp-Schule zu widmen. Raffael war zumindest nicht mehr so ausgezehrt und hager wie am Anfang, da Sophie ihm stets eines ihrer Pausenbrote überließ, was seinen Appetit nur steigerte und sie hatte es mittlerweile immer besser im Griff die moralischen Bedenken, die ihr bei dieser Angelegenheit kamen, im Zaum zu halten. Sie wusste gar nicht wie lang das hier schon ging. Tage? Mehr als eine Woche? Bestimmt. Und bald wurde ihre Ausrede unglaubwürdig; irgendwann musste der Boden schließlich fertig lackiert sein. Aber was sollte sie tun? Sie war keine Kriminalkomissarin und hatte schon mit den Tatsachen zu viel Probleme, alsdass sie sich an Nachforschungen heranwagen konnte. Doch etwas bzw. jemand anderes zog nun ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein schlanker, hochgewachsener Mann, der am Zaun zum Schultor stand. Er hatte schulterlanges, schwarzes, glattes Haar, das im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Seine Augen waren stahlblau. Alles andere, was er trug war blütenweiß: Schuhe, Anzug, Krawatte... "Der ist ja unheimlich auffällig." murmelte Sophie. "Ja." stimmte jemand hinter ihr leise zu. "Aber er ist tierisch gutaussehend. Wie ein Gentleman." Überrascht wandte Sophie sich um. Hinter ihr saß nur Vanessa, die Oberdiva der 8a, die sich für gewöhnlich nur mit ihrer Clique und nicht mit soetwas wie Sophie abgab- worauf sie nebenbei auch keinen Wert legte. "seit wann redest du mit mir?" fragte Sophie verdutzt über die Schulter. "Krasse Sache, das mit Marvin. Jemand musste ihm mal zeigen wo´s langgeht." raunte Vanessa achselzuckend. "Weißt du wer er ist?" wollte Sophie dann erfahren und wies mit dem Daumen auf den Mann jenseits der Glasscheibe. "Reicher Typ." schwärmte die Angesprochene und sah ihn mit eigenartig verschleiertem Blick an. Sophie beugte sich schnell über ihr Heft und tat als schriebe sie etwas, als der Lehrer durch ihre Reihe ging. Dann war er vorbei und sie drehte sich wieder zu Vanessa um. "Darauf bin ich selbst schon gekommen." knüpfte Sophie an ihre höchst sachliche Bemerkung an. Es war kein Kunststück gewesen das zu erkennen. "Weißt du wer er ist?" erkundigte sie sich wieder. "Ich glaube das ist der neuste Förderer der Schule." meinte Vanessa. Dann begann sie den vermutlichen Förderer wieder zu beobachten und Sophie tat es ihr gleich, jedoch aus anderen Beweggründen als Verzückung.
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Sophie meinte Beethovens Mondscheinsonate zu höre, als sie wieder zur Bücherstube ging. Dann öffnete sie die Tür und erlebte zwei Überraschungen zugleich: Zum einen war es Raffael der das schwierige Meisterstück des auf dem Klavier spielte, das in einer Ecke des Zimmers zwischengelagert wurde bis der Musikraum renoviert war und zum anderen schob er sich dabei Merci-Pralines in den Mund, die schon einen weißen Belag angesetzt hatten. Sophie wusste nicht auf welches Problem sie sich zuerst konzentrieren sollte. "Hi!" grüßte Raffael sie und hörte auf zu spielen. Dann hielt er ihr die Pralinenschachtel hin. "Auch eine?" bot er an. Sophie schüttelte verblüfft den Kopf. "Woher hast du die?" fragte sie und nahm ihm die Box aus der Hand. "Aus dem Schrank." antwortete er. Er meinte sicherlich das Barfach naben dem Eingang (das übrigens seit längerer Zeit nicht geöffnet worden war). Sophie suchte das Verfallsdatum und fand es auf dem Deckel, neben dem Strichcode:
Mindestens haltbar bis: 11.08
"Haben die nicht etwas... merkwürdig geschmeckt?" fragte Sophie zögerlich. Es war eigentlich schon ein Ding der Unmöglichkeit, dass der Mageninhalt des Jungen nach diesem antiken Konfekt noch am rechten Platz war; dieser schüttelte nur arglos den Kopf. "Ganz gut. Etwas bitter." bewertete er den Geschmack. Vielleicht lag es daran, dass sein Magen längst abgehärtet war von Jahren der Straßenkost und wahrscheinlich hatte er sehr lange keine Schokolade gegessen, dennoch war es mit Sicherheit nicht gesund. Mit leichtem Drall warf Sophie die Schachtel samt verdorbenem Inhalt wie ein Frisbee in den Abfalleimer. Dann kramte sie ein Käsebrot aus der Tasche und gab es Raffael. "Iss besser das hier." empfahl sie bedächtig. Während er aß, setzte sie sich auf das Klavier. "Woher kannst du spielen?" fragte Sophie wie nebenbei, obwohl diese Fähigkeit mehr als bemerkenswert war. "Keine Ahnung. Ich kann es. Wenn ich eine Melodie höre, merke ich sie mir und ich habe gesehen, das man das mit dem Klavier macht, also hab´ ich´s ausprobiert." erzählte er ebenso beiläufig, doch sein Ton war aufrichtig. "Du hast also noch nie Klavier gespielt?" hakte Sophie mit maßlosem Erstaunen nach. "Jup." Raffael leckte sich zufrieden die Brotkrümel von den Lippen; er musste wirklich Hunger gehabt haben. "Du bist talentiert, ein Wunderkind, du könntest-" Noch in ihrer Euphorie brach Sophie ab. Er konnte gar nichts, nichteinmal diesen kleinen Raum verlassen. Es war eine Schande, dass er sein Potential nicht zeigen konnte. "Würdest du für mich spielen?" fragte sie stattdessen sanft. "Was denn?" stellte Raffael die Gegenfrage und klappte den Klavierdeckel wieder auf. "Oh, am liebsten Beethovens Unvollendete, ´für Elise´." schwärmte sie. Der Junge runzelte die Stirn. "Wie geht die?" erkundigte er sich dann. Sophie summte sie ihm vor und dann begann er zu spielen. Seine Finger glitten gekonnt über die Tasten, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Sophie ließ sich zu Boden sinken und lehnte sich an eines der Klavierbeine. Sie schloss die Augen. Die tiefen Töne schmiegten sich samten an ihre Ohren, ließen sie fliehen und die Melodie erfüllte sie vollkommen. Es war ein freies, erhebendes Gefühl und sie konnte sich ihm völlig hingeben und alles vergessen, was um sie war, alle Sorgen und jedes Problem. Nur sie und Raffael und um sie das flirrende Band der Musik, das ihnen einen losgelösten Moment schenkte. "Sag mal," fragte Sophie zätlich, doch ihr Simme zerriss die Idylle nicht, sondern verwebte sich in dieses Netz der Unbekümmertheit, das sie von allen Zweifeln und Bedenken abschirmte. "hast du das wirklich so gemeint, als du gesagt hast, dass du mich... hübsch findest?" Raffael lächelte. "Natürlich." erwiederte er. "Und nicht nur das..." Sophie wurde wieder warm und in ihrer Brust stauten sich alle schönen Emotionen, durchströmten ihr Herz und..dann ging das Licht aus und alles was blieb war vollkommene Dunkelheit.
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Sophies Glück zerplatzte wie eine flirrende Seifenblase, zerstob und verlor sich in der Finsternis, die sich wie ein schweres Leichentuchüber sie legte. Die plötzliche Schwärze legte sich wie das Gefieder eines Raben um sie und ließ Panik in ihr aufwallen. Es war dunkel und still und sie hörte nur ihr eigenes Herz und ihren schnellen Atem.Was war los? Etwas klickte. Sophies Hez hämmerte gegen die Rippen, so fest, dass sie meinte sie brächen. Die Dunkelheit kroch in ihre Glieder und lähmte sie. Das Licht flackerte. Dann war es wieder an. Doch die Furcht in Sophie lichtete sich nicht. Ängstlich hob sie den Blick. Raffael hielt eine Pistole in Händen. Den Finger am Abzug.
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Sophie schrie spitz auf und krabbelte rückwärts vor dem Jungen weg. "Du hast mich belogen!" stieß sie hervor, doch sie sah ihn nicht an. Ihre Augen hingen starr am Lauf der Pistole. Er würde schießen. In Sophie klaffte eine gähnende Leere. "Warum?" hauchte sie. Raffael sah Sophie entsetzt an. Die Pistole fiel mit einem dumpfen metallischen Aufschlag zu Boden. Er stürzte zu ihr und fiel vor ihr auf die Knie. Sophie kreischte auf, als er nach ihr greifen wollte. "Fass mich nicht an! zischte sie. "Aber Sophie..." begann er, doch sie kam auf die Beine und stieß ihn von sich. "Ich wollte dich doch nur beschützen!" verteidigte er sich und stolperte zu ihr. "Lügner!" schrie sie ihm entgegen. Ihre Gedaken rasten, überschlugen sich... Es war zuviel. Betrogen, und dabei hatte sie ihm Zuflucht geboten, belogen, und dabei hatte sie für ihn empfunden und all das zerbrach in nur einem Augenblick. Und Sophie konnte ihm keines der Worte , das er gesagt hatte, mehr glauben und dabei hatte sie ihm vertraut; er war der erste gewesen, bei dem sie sich wirklich vollkommen gefühlt hatte. Was sollte sie tun? Feueralarm., durchzuckte die Antwort Sophie wie ein Blitz. Sie machte einen weiteren Schritt rückwärts. Dann stolperte sie. Die Pistole, die am Boden lag, brachte sie aus dem Gleichgewicht, als sie darauf trat und dann lief alles wie in Zeitlupe ab. Es war als fiele sie durch Wasser, so betäubend langsam. Ein Knall. Der Schmerz durchfuhr sie noch ehe sie aufkam. Eine brennende Pein brandete in Sophies Bein auf. Sie fühlte wie das kalte, schnelle Metall in ihre Haut eindrang, die schmale eiserne Patrone, so fremd in ihrem Körper. Sie spürte wie der tödliche Stahl ihr Fleisch durchstieß, auf die Adern traf. Sophie riss die Augen auf, als der eisige Schmerz explodierte, als das warme Blut um die Kugel pulsierte und aus ihr hinausfloss. Es fühlte sich- es war absurd dem eine Farbe zuzuordnen, dennoch...- weiß an, wie qualvoll stechend kühles Gift, das ihren Oberschenkel hinaufschoss und jede Faser ihres Körpers durchsickerte. Sophie meinte das Blut zu schmecken, als die Patrone ihr Nerven und Muskelgewebe zerriss, süßlich metallisch auf ihrer Zunge.Ein Schuss hatte sich aus der Pistole gelöst. Sophie biss die Zähne zusammen und ihre finger krallten sich in den Teppich. Wie durch einen Nabelschleier nahm sie wahr, dass Raffael auf sie zukam. "Lass mich." stieß sie zwischen den Zähnen hervor und jedes Wort bereitete ihr mehr Qualen, denn ihre Lunge stach wie von tausend Nadeln. Sophies Hand tastete über den Boden. Der Schmerz schien sie nur noch empfindlicher zu machen. Dann fühlte sie ihn, den geriffelten Hartplastikgiff der Pistole und umschloss ihn fest mit den Fingern. Sophie zitterte, als sie die Waffe hob und auf Raffael richtete. "Fass mich nicht an." flüsterte sie abermals, fast unhörbar, da ihre Stimme versagte. Der Junge erstarrte, er war wieder so bleich wie an dem Tag, an dem sie ihn getroffen hatte. "Ich will dir doch helfen." sagte er. "Du belügst mich." Sophies Augen füllten sich mit Tränen. Sie kannte ihn doch erst so kurz und trotzdem konnte er sie so sehr verletzen, weil da etwas gewesen war... er hatte nur mit ihr gespielt, von Anfang an. "Das tue ich nicht." versicherte Raffael, aber Sophie kaufte ihm nicht ab, dass er die Wahrheit sprach. Raffael hockte sich vor sie. Sophies Hand zuckte bei der Bewegung. Sicherlich hatte niemand den Schuss gehört, der sie ins Bein getroffen hatte. Der Stromausfall hatte sicherlich viel Aufsehen erregt. Vielleicht würde Herr Döbke kommen und sehen ob alles in Ordnung war. Sophie wurde schwindelig. Ihr Körper war am Limit, an seine Grenzen und darüber hinaus getrieben. In ihrem Kopf waren keine Gedanken mehr, nur noch das dumpfe Pochen der Wunde. Sie hatte keine Kraft mehr. Ihre Finger lösten sich vom Abzug und die Pistole fiel wieder zu Boden. Diesmal hob niemand sie auf.Noch nicht. Der Teppich war schon fast schwarz, getränkt von ihrem Blut. Sophie konnte sich nicht mehr aufrecht halten. Raffael fing sie auf und ihr Körper sträubte sich dagegen. "Geh weg! Lass mich los! Lass mich..." protestierte Sophie verzweifelt. Was würde er tun? Es ging über ihre Vorstellungskraft hinaus, was schlimmer sein konnte als das, was sie gerade durchlitt. "Ich wollte dich beschützen. Ich wollte nicht, dass dir etwas passiert." stotterte Raffael und er las in ihren Augen, dass sie ihm nicht glaubte. Er stützte ihren Kopf und dann tat er das Unglaubliche: Er küsste sie. Sophie schauderte angenehm und gegen ihren Willen gefiel es ihr. Sie spürte Raffaels Lippen auf ihren, es schmeckte süß und ihr wurde leidenschaftlich heiß. Sie sah ihm in die tiefen, grünen Augen, so ausdruksvoll, so zärtlich und Sophie schloss die Augen und gab sich dem Kuss hin. Es war pure, erhebende Ekstase. Vielleicht war die Pistole in dem Koffer gewesen. Eine Woge der Liebestrunkenheit vernebelte alle Bedenken. Er war ihr treu, er hatte Angst um sie gehabt und er hatte auf sie aufpassen wollen. Es war perfekt, wunderschön und betäubte den Schmerz und eine Sekunde lang waren ihre Qualen vergessen. Es war schwer zu glauben, dass der Schmerz dadurch so einfach verschwand, völlig unlogisch für jeden Außenstehenden, doch Gefühle scherten sich nicht um Logik und jene, die es nicht erlebt hatten, konnten es nicht verstehen, weil sie es mit dem Herz und nicht mit dem Verstand hätten tun müssen. Es war absurd und verantwortungslos dies zu tun, doch eine so liebevoll, berauschende Berührung musste aus einer ehrlichen Emotion kommen. Und in diesem seligen Moment waren Sophie und Raffael sicher, dass alles doch noch gut würde.
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Von der Tür her ertönte ein langsames, fast verächtlich anmutendes Klatschen. "Wie romantisch." hörten sie eine emotionslose Stimme, die sie aufschrecken ließ. Die Schmerzen ergriffen wieder von ihr Besitz und sie waren noch schlimmer als zuvor. Ruckartig fuhr ihr Kopf herum. Raffael erkannte den Mann im weißen Smoking und mit dem schwarzen Zopf nicht; im Gegensatz zu Sophie: Es war der Mann, nach dem sie Vanessa gefragt hatte. Förderer der Schule. Was sollte er denken? Er fand ein angeschossenes Mädchen vor, in inniger Umarmung mit einem Straßenjungen, auf dem Tisch immer noch die alte WAZ mit der Mord-Titelstory... "Wir sind-"-"Ich meine wir-"-"Es ist so, dass-"-"können das erklären-"-"Sie müssen uns glauben..." Sophie und Raffael stotterten gleichzeitig diffuse Erklärungsansätze, wobei die Stimme des Mädchens immer schwächer wurde, doch der Mann schnitt ihnen mit einer herrischen Geste, die die beiden sofort verstummen ließ, das Wort ab. "Ihr braucht euch nicht zu rechtfertigen." ließ er sie wissen und schloss leise die Tür hinter sich. Dann wandte er sich an Raffael. "Aber ich glaube du besitzt etwas, das mir gehört." meinte er und seine blauen Augen fixierten den Jungen. Der schluckte unwillkürlich und griff sich an den Hals, an dem das Medallion hing. "Sie...?" Der Mann lächelte kalt. "Genau." betätigte er spöttisch. "Man wird uns suchen." kündigte Sophie an, in der Hoffnung dem vorzubeugen, was der Typ mit ihnen vorhatte. Der Mann sah sie an wie ein naives, kleines Kind. "Das wird man nicht." sagte er leise und bedrohlich. "Denn großzügigerweise erbot sich der Förderer der Schule nach dem Rechten zu sehen, wo er doch schon zufälligerweise zu Besuch war." Sophie begriff. Raffael drückte ihre Hand. "Sie sind nur wegen Raffael Förderer der AKS geworden. Damit sie Zutritt zu ihm haben." murmelte sie verstehend. "Bravo, Mädchen. Grandios kombiniert." sagte er mit süßlich sarkastischem Ton. "Es war eine lästige, kurzfristige und zeitraubende Aktion, aber leider notwendig um diesen diebischen Gossenjungen in die Finger zu bekommen." Tatsächlich schien dieser, der der Anführer des Schmugglerrings sein musste, keine Mühen und Kosten gescheut zu haben um dieses Vorhaben von langer Hand zu planen und vorzubereiten- niemand wurde einfach von heute auf morgen Förderer einer Schule und sie selbst hatten sich ruhig verhalten und ihm alle Zeit der Welt gelassen.Sie hätte es wissen müssen, er hatte doch geradezu direkt vor ihrer Nase gestanden, doch sie war blind gewesen. Sophie stellte sich nur eine Frage: "Woher...?"-"ich wusste, dass er hier ist?" Er lachte freudlos auf. "Ihr wart nicht unauffällig, als ihr geflohen seid. Ich habe da meine Quellen, darum müsst ihr euch nicht sorgen." Seine Mine verfinsterte sich. "Ihr habt andere Probleme. Ihr wisst zuviel." Mit diesen Worten holte er ein Paar weißer Handschuhe aus der Tasche und schlüpfte mit seinen Fingern hinein. Dann zog er eine Pistole, glänzend schwarz; es passte nicht zusammen und dass er als Mörder und Schwartzmarkthändler nur blütenweiß trug, war wie ein Spott über das Gute, denn weiß stand für die Reinheit. Sophie zitterte in Raffaels Armen und sein Herz schlug im selben furchtsamen Takt, beschleunigt von der Angst, dass es bald nicht mehr pochen würde und selbst Sophies Schusswunde wurde nebensächlich im Angesicht des Todes, auch wenn sie ihr Minute um Minute ihre Lebenskraft raubte und immer weniger Blut durch ihr Herz gepumpt wurde. "Man wird wissen, wer sie wirklich sind, wenn sie das tun." warnte Raffael ihn mit lauter Stimme, doch es war nicht aus Mut, sondern um das Fehlen dessen zu überspielen. Sein Blick und der Sophies hing wie hypnotiesiert an dem verderbenbringenden Pistolenlauf. Nachsichtig schüttelte der Mann den Kopf. "Nein. Ich glaube eher, dass man denken wird, dass der Straßenjunge, der schon den Mord im Park begangen hat, ein unwissendes Mädchen überredete ihn aufzunehmen, das er dann in seinem verwirrten Kopf erschoss und", er seuftzte künstlich theatralisch. "leider musste ich Zeuge werden wie er Selbstmord beging um nicht vor Gericht gestellt zu werden." Er blickte sie an und seine stahlblauen Augen funkelten diabolisch. Er hatte alles perfekt durchdacht. "Wie können sie nur?" hauchte Sophie voller Unverständnis über solche Herzlosigkeit. Wie konnte man nur so kühl und ohne jede Regung von Mitleid zwei Kinder umbringen? "Wenn du erwachsen wärst, würdest du wissen was Menschen nur um des schnöden Mammons Willen tun." erklärte er tonlos. Er lud die Pistole. "Leider wirst du diese Erfahrung nie machen." Damit zielte er auf Sophie. Ein Knall durchschnitt die Luft. Ein Schuss surrte. Sophie hatte auf den Abzug der Pistole gedrückt, die neben ihr gelegen hatte. Der Oberkörper des Mannes wurde von der Wucht des Schusses nach hinten gedrückt. Einige Strähnen lösten sich aus seinem Zopf. Er wankte ein wenig, als er wieder aufrecht stand. An seinem linken Arm war ein Einschussloch von dem sich ein rosettenförmiger Blutfleck auf dem weißen Stoff ausbreitete; schmerzlich wurde Sophie an ihre eigene Verletzung erinnert. Er betrachtete seine Wunde ungerührt. "Die Pistole hat der kleine Bastard also auch mitgehen lassen." stellte er mehr für sich als für die beiden fest. Ein halbes, grausames Lächeln umspielte seine Lippen. "Das macht die Angelegenheit nur glaubwürdiger. Jetzt ist es Notwehr." informierte er Sophie, doch die hatte nur noch Augen für Raffel, der dessen kurze Unaufmerksamkeit genutzt hatte, um sich von Sophies Seite zur Tür zu schleichen. Er wollte sie nicht im Stich lassen. Der Verletzte bemerkte den Jungen schon als er die Tür aufriss. Er ließ ihn gewähren un noch ehe Raffael seinen Plan umgesetzt hatte, wusste Sophie, dass er einen fatalen Fehler beging. "NEIN!" schrie Sophie, doch als ihr Ruf ertönte, erklang auch schon die ohrenbetäubende Sirene des Feueralarms und erstickte jeden Ton; sie hatten ihm einen Schalldämpfer geliefert. Der Mann unterdrückte ein Lachen, dann richtete er die Pistole auf Raffaels Kopf. Die linke Hand des Jungen war mit kleinen Schnitten übersät, von der zerschlagenen Scheibe des Feueralarms. Einige Scherben waren am Boden verstreut.Raffael sah den Mann aus leeren Augen an, denn der funke der Hoffnung darin war bereits verloschen. Er war doch erst vierzehn, drei Jahre auf der Straße, hatte sein Leben noch vor sich. Er durfte nicht sterben. Sophie würde ihn nicht aufgeben, auch wenn sie ihren Körper vor Schmerz nicht mehr fühlte, obwohl sie meinte sie wäre im Begriff zu verbluten. Man konnte ihn ihr nicht wegnehmen, nachdem sie ihn erst gefunden hatte, einmal in ihrem Leben unbestritten glücklich gewesen war und das im unmöglichsten Moment... Man durfte ihn ihr nicht wegnehmen. Halt durch., flehten Sophies haselnussbraune Augen, als sie auf Raffaels grasgrüne trafen. Grün wie die Hoffnung. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie. Ein Schuss fiel. Die Zeit stand still. Sie wollte ihn nicht verlieren, sie waren füreinander gemacht. Das alles konnte kein Zufall sein. Blut spritzte. Zinnoberrote Tropfen überall im Zimmer, Teppich, Sessel, Wände, Regale, Buchrücken. Sophie stand aufrecht, ihr Körper bebte, denn er war zu schwach dazu, aber sie zwang ihn. Ihre Jeans war schwarz von dem vielen Blut, dass feucht ihr Bein hinunterlief, es zitterte. Sie atmete schwer und rasselnd, als die Waffe des Mannes zu Boden fiel. Die Kugel hatte eine stigmataähnliche Verletzung hinterlassen, wo sie die Hand durchstoßen hatte. Diesmal konnte er den Schmerz nicht unterdrücken. Er ging auf die Knie und umfasste sein Handgelenk, seine Finger waren krampfhaft gekrümmt. Nun saß er da, hilflos und schutzlos und die Pistole unerreichbar unter ein Bücherregal geschlittert; seine Lebensversicherung. Fort. So verletzlich, ganz plötzlich. Sophie hatte die Pistole noch immer auf ihn gerichtet. Ein Mörder. Sie konnte nun Rache nehmen, konnte Selbstjustiz ausüben. Hatte er denn etwas anderes als den Tod verdient? Nach dem was er Raffael und ihr hatte antun wollen? Ihre Finger am Abzug kribbelten. Es wäre so leicht es einfach zu tun.
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Sophie spürte wie jemand ihr sanf die Arme um die Taille legte. Raffael. Es war nicht die stimme ihrer Moral, die ihr so grausame Gedanken einflüsterte, es war die Stimme ihres Hasses und nicht die, auf die sie hören wollte. Gab es nicht einen stärkeren Teil in ihr? Sie spürte Raffaels Berührung; es gab einen stärkeren Teil, viel stärker und allesüberdauernd: Liebe.Sophie tat einen zittrigen Atemzug und ließ die Pistole sinken. Sie war keine Mörderin.
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Sophie ging neben Raffael. Obwohl alles vorbei war umrundeten sie den Rielpark. Es war warm und die Kirschbäume trugen rosa Blüten. Vögel zwitscherten und Raffaels Arm lag um Sophies Schultern, ihr langes, braunes Haar wallte über ihren Rücken. Es war Frühling. Sophies bein war vollkommen verheilt, nur die kleinen, hellen Narben an Raffaels Händen kündeten noch von dem Vorfall von damals. Man hatte sofort Polizei und Notdienst benachrichtigt, nachdem man sie im Leseraum gefunden hatte. Sophie hatte viel Blut verloren und all das nur in Trance erlebt und man hatte ihr erst später davon berichtet. Genauso vage erinnerte sie sich an die Vernehmung und die Gerichtsprozesse. Einer hatte sich gegen Raffael und sie gerichtet, wegen illegalen Waffenbesitzes und schwerer Körperverletzung. Sie waren freigesprochen worden, da sie nur aus Notwehr gehandelt hatten. Beim zweiten Prozess ging es um versuchten Mord und sie hatten als Oper ausgesagt. Schuldig, lautete das Urteil und hierzu kam in Tatmehrheit die Strafe des zweiten Prozesses, in dem, dank des Medallions von Raffael, die Schmugglertätigkeit des Mannes bewiesen wurde. Dabei kamen summasummarum 17 Jahre Gefängnis heraus. Sophies Eltern waren herzlich wenig davon begeistert, dass sie schon 3 Verhandlungen beigewohnt hatte (und das nicht als Zuschauer) und die Schule noch viel weniger, das die meisten Zeitungen, allen voran die BILD imageschädigende und maßlos übertriebene Artikel über den verbrecherischen, ehemaligen (was man zubetonen vermied) Förderer der Alfred-Krupp-Schule herausbrachte. Sophie hielt es für eine besonders schöne Geste, dass daraufhin die Schülerzeitung ihrer Schule, der INSIDER, eine Gegenkampange ´Heldin der AKS´ gestartet hatte. Raffael lebte im Heim, ging jedoch auf Sophies Schule undtraf sich mit Erlaubnis des Heimleiters oft mit ihr. Er besuchte immer Sonntags Frankies Grab. Im Grunde fand er das Leben im Heim gar nicht so übel. Die beiden hielten inne, als sie an der Bahnhaltestelle angekommen waren. Um 36 kam die 109. Sophie betrachtete das Plakat über den Fahrplänen. Ein Konzertsaal war darauf abgebildet und an dem Flügel auf der Bühne saß ein blonder, grünäugiger Junge, dem man ausladende, weiße Schwingen verliehen hatte. Darüber stand in goldenen kalligraphischen Lettern:
Raffael,Engel des Klaviers
21. März in der Essener Philharmonie
Der Junge strich über das Plakat. "Kommst du?" fragte er Sophie dann. "Klar." beteuerte sie. "Das lass´ ich mir nicht entgehen." Raffael lächelte. "Ich habe ein Stück komponiert.Nur für dich." erzählte er dann. Sophie verschlug es die Sprache. "Wirklich?" fragte sie gerührt. Raffael nickte. "Es heißt ´Nihil fit sine cause´." eröffnete er stolz. Er hatte sowohl in der Schule als auch in der Musik größte Fortschritte gemacht (sie nannte ihn immer ihren ´kleinen Mozart´); man hatte ihn nur ausreichend fördern müssen. "Danke." murmelte Sophie glücklich und sie wartete Arm in Arm mit Raffael auf die Bahn. Er hatte Recht, denn wenn all das hier nicht passiert wäre, hätten sie sich nicht gefunden.
Nihil fit sine cause.
Nichts geschieht ohne Grund.
ÐÑ

Die komischen Zeichen dadrunter sollen Abschnitte anzeigen. Sehen auf meinem Schrweibprogramm schöner aus...

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Re: Nihil fit sine cause

Beitragvon Lady Shakespeare » 28.10.2009, 15:17

Bitte, so antwortet doch einer :-|

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Re: Nihil fit sine cause

Beitragvon hginsomnia » 29.10.2009, 07:25

Hallo Lady Shakespeare,

ein morgendlicher Gruß bevor ich mein Tagwerk antrete.

es gibt wahrscheinlich einen ganz einfachen Grund, warum dir keiner antwortet, bis jetzt zumindest :-) :

Der Text ist sehr lang, was gut ist, aber eben vielen sicherlich aus Zeitgründen keine Möglichkeit gibt, ihn angemessen zu kommentieren. Mir fehlt dazu auch die Zeit. Ich kann dir anbieten, häppchenweise, meinetwegen mal so über zwei Absätze Kommentare zu schreiben. Dazu müsstest du dich allerdings ein wenig gedulden.

Bevor ich damit anfange, möchte ich aber abklären, ob dir daran gelegen ist oder ob du lieber etwas Pauschales wie "gefällt mir" oder "gefällt mir nicht" hören möchtest.
So viel Egoismus muss ich dann doch mit mir rumtragen, nicht, dass, wenn ich mir die Mühe machen, dann soetwas als Antwort kommt wie "danke für die Mühe" ... und das wars ;-) .

lg
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Re: Nihil fit sine cause

Beitragvon Lady Shakespeare » 29.10.2009, 15:59

Das wäre mir sehr Recht, hauptsache eine Meinung. ( Obwohl mir deine Kommentare zu Pedros "Fliegen" etwas Angst gemacht haben...) Trotzdem, gern. Danke schon im Vorraus. :-))

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Re: Nihil fit sine cause

Beitragvon hginsomnia » 29.10.2009, 22:56

Ach je, Angst will ich nun wirklich nicht verbreiten. Ja, ich wähle klare Worte, manchmal, aber ist das wirklich so schlimm?

Die meiner Einschätzung nach wichtigste Kritik, die ich je zu einem meiner Texte erhalten hab, beginnt mit den Worten: "Was für ein großer Mist."
Natürlich liest man das nicht gerne unter einem seiner Texte, aber in der Kritik wurde sehr differenziert ausformuliert, was denn genau dem Kritiker überhaupt nicht gefiel.
Ich habe mir dann noch eine zweite Meinung eingeholt, bei der der Text wesentlich besser abgeschnitten hat, die aber dafür weniger genau war.
Also hab ich mich an die erste Kritik noch mal rangetraut ... und sie nachvollziehen können.
Das hat mir persönlich sehr weitergeholfen.

Wohin die Kritikreise bei dir geht, kann ich noch nicht sagen. Dazu müsste ich den Text erstmal konzentriert zu Ende lesen und dann nochmal lesen und nochmal u.s.w.
Letztlich bleibt es ja eh jedem selbst überlassen, ob man etwas mit einer Kritik anfangen kann oder nicht. :-)

lg
hginsomnia

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Re: Nihil fit sine cause

Beitragvon hginsomnia » 31.10.2009, 09:58

Guten Morgen Lady Shakespeare,

so, ich habe jetzt mal deinen Text quasi zum Frühstuck gelesen. Ich kann dich gleichzeitig beruhigen und beunruhigen, nach dem, was mein erster Eindruck hergiebt.

Sprachlich gibt es zwar, so meine Meinung, noch eine Menge zu verbessern, das aber ist nicht ungewöhnlich für einen längeren Text. Es gibt ja nicht umsonst Lektorate. Obwohl das Thema nicht so sehr meins ist und ich sicherlich nicht zur Zielgruppe gehöre - ich täusche mich wohl nicht, wenn das hier soetwas wie ein Jugendkrimi ist - hast du gerade für diese Zielgruppe eine geeignete Sprache gefunden. Die Dialoge haben Verve und sind (mit Abstrichen) jugendgeeignet, so meine bescheidene Meinung (du siehst, ich bemühe´mich ;-) ).

Inhaltlich komme ich bislang aber zu einem völlig anderen Ergebnis. Ich bin manchmal ein schlechter Leser, gerade wenn ich einen längeren Text am Rechner lese. Deshalb könnte es sein, dass ich etwas übersehen habe.

Bei einem bin ich mir aber ziemlich sicher: Die Geschichte von dem Mörder, der sich als Förderer der Schule ausgiebt, ist hanebüchen. Das ist sowas von unlogisch in Allem, was damit zusammenhängt (nicht nur chronologisch). Lies besonders diese Stelle nochmal durch. Ich denke, du wirst mir Recht geben, dass das gar nicht so sein kann.

Was ich zudem nicht verstanden habe, wie gesagt: schlechter Leser, ist, warum das Medaillon nun zur Auflösung des Falles beigetragen hat. Sicher, Raffael hat es gestohlen, aber häääääääh? .... der Mörder ist doch auch noch da als Beweis :-)
Ich kann da was übersehen haben, wünsche mir daher von dir noch eine Erläuterung dazu, um dann zu schauen, ob die Erläuterung intertextuell sichtbar ist.

Für die Detailkritik gilt: to be continued ... :-)

lg
hginsomnia

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Re: Nihil fit sine cause

Beitragvon Lady Shakespeare » 01.11.2009, 15:08

Schau mal,der Rafi hat ja das medallion gestohle, ergo ee wird angenommen er weiß von dieser schmuggelei, deshalb muss er weg, außerdem ist das Medallion ziemlich wertvoll, man wills also wiederhaben. Deshalb sind die ja überhaupt hinter dem her. Außerdem liefert das Amulett ja ein bzw. DAS Motiv...Ich meine, da kommt ja nicht einfach wer und knallt einfach so nen jungen ab... zumindest normalerweise...
Und du hast recht: Das war auch nicht so mein thema: Ich mag fantasy mehr, da hat man größere Freiheiten und die story bekommt eine innere Logik. Deshalb hab ich mich eher auf die schilderung von Gefühlen, Dialogen etc. konzentriert...
Apropos: ich bin auch noch ein junges tuctuc, deshalb ziel ich kaum auf Erwachsene als Lesergruppe ab. Nur zur Erläuterung.

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Re: Nihil fit sine cause

Beitragvon hginsomnia » 03.11.2009, 18:25

Lady Shakespeare hat geschrieben:Apropos: ich bin auch noch ein junges tuctuc, deshalb ziel ich kaum auf Erwachsene als Lesergruppe ab. Nur zur Erläuterung.


Für mich kein Problem. Ich schaue eh immer nur auf den Text. Wie gesagt, ich sehe hier durchaus vieles, was ich mir so in einem Jugendtext vorstellen kann, ohne in dieser Welt zuhause zu sein.

Leider hat sich mein Eindruck bezüglich des Inhalts inzwischen in die genannte Richtung verdichtet. Meines Erachtens ist der Text unlogisch. Ich versuche mal, zu erläutern, warum das mein Eindruck ist.

Zunächst eine kurze Inhaltsbeschreibung (nicht Angabe) zur Veranschaulichung (in thematischen Punkten):

1.) Sophie wird 'Ohrenzeugin' eines Mordes, sieht dann Raffael mit einem blutigen Messer in der Hand, der sie überzeugt, er sei nicht der Mörder.
2.) Sophie schleust Raffael in ihre Schule ein, versteckt ihn dort in der Bibliothek. Erste Annäherung
3.) Die Annäherung wird zur Turtelei verdichtet. Gleichzeitig werden Sophies Gewissensbisse thematisiert.
4.) Über ein Amulett, das Raffael am Hals trägt, nimmt die Geschichte eine Wendung zu einer Schmugglerbande, die wahrscheinlich hinter ihm her ist.
5.) Der Förderer der Schule wird eingeführt. Gleichzeitig wird Sophies neues Selbstbewusstsein thematisiert.
6.) Raffaels musikalische Hochbegabung wird eingeführt. Verdichtung der Turtelei zur Liebelei.
7.) Retardierendes Moment in der Liebesgeschichte: Raffael hat eine Pistole. Sophie wird im 'Unfall' angeschossen. Dieses Moment wird aber sofort wieder aufgehoben.
8.) Der Förderer der Schule entpuppt sich als Mörder, der Sophie und Raffael umbringen will. Bei einem Schusswechsel gelingt es den beiden, ihn zu überwältigen.
9.) Sophies Rachegelüste können von Pedro zurückgenommen werden.
10.) In einer resümierenden Passage werden die Ergebnisse der Gerichtsverhandlung sowie Raffaels mittelfristiger Werdegang thematisiert.
11.) Die letzte Szene schildert Raffael als konzertierenden Musiker vor seinem Debüt.


Das ist jetzt erstmal mein Ausgangspunkt, damit du weißt, worauf ich mich in meinen kommenden Kommentaren beziehe. Ich werde dann zu den Punkten die Ungereimtheiten auflisten, wenn ich mir über alle (und nicht nur über viele) im Klaren bin.



Ach so, meine letzte Lateinstunde liegt jetzt knapp 8 Jahre zurück, aber ich hatte so einen Verdacht und Google hat mich bestätigt. Es muss wegen der Akkussativ-Deklination 'nihil fit sine causa' heißen.

Lady Shakespeare
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Re: Nihil fit sine cause

Beitragvon Lady Shakespeare » 04.11.2009, 16:11

Ganz ehrlich: Ich habe das aus der Fernsehwerbung. Ich fand es schön, kann aber sehr gut sein, dass es causa heißen müsste.

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Re: Nihil fit sine cause

Beitragvon hginsomnia » 18.11.2009, 17:07

Lady Shakespeare hat geschrieben:Ganz ehrlich: Ich habe das aus der Fernsehwerbung. Ich fand es schön, kann aber sehr gut sein, dass es causa heißen müsste.


Ich wär mir auch nicht sicher, aber die Suchmaschine hat das eben als falsch ausgegeben. Würde ich an deiner Stelle unbedingt überprüfen und gegebenenfalls ändern. Macht halt einen schlechten Eindruck, wenn bereits der Titel fehlerhaft ist ;-) .


Jetzt aber zum Text. Nur inhaltliche Kritik an dieser Stelle, wie erwähnt.

1.) Die Schilderung des Mordes hinterlässt viele Fragen. Warum zum Beispiel wird Raffaels Kumpel getötet, nicht aber Raffael selbst?

Lady Shakespeare hat geschrieben:Es war nicht schwer für sie, sich vorzustellen was ein Schmugglerring unter Druck entlarvt zu werden mit einem Straßenjungen getan hätte, was die Angelegenheit nicht angenehmer machte. Hinzu kam... man hatte gewiss nicht von Anfang an die Absicht gehabt ihm diesen Mord anzuhängen; man hatte Frankie getötet, weil er ein Zeuge geworden wäre und als Sophie aufgetaucht war, hatte die Zeit nicht mehr genügt die Sache zu Ende zu bringen.


Diese Erklärung scheint mir unsinnig. Warum sollte der Mörder vorher Skrupel gehabt haben, Sophie auch noch umzubringen? Später hat er ja auch keine. Ohnehin ist das etwas unglaubwürdig. Da bringt der Mörder den einen Zeugen, Frankie, um, den anderen Zeugen, Sophie, aber zunächst nicht.
Auch die Frage, warum er mit einem Messer tötet (nicht mit einer Pistole, die weniger Spuren hinterlässt) und warum er das am Morgen in einem öffentlichen Park tut(nicht nachts, im Schutz der Dunkelheit bzw. bei einer besseren Gelegenheit) sind nicht gelöst.
Das ist zwar nicht direkt unlogisch, aber unwahrscheinlich (,spricht es doch für eine eingeschränkte Umsicht der Schmugglerbande, die man sich ja eigentlich als professionell vorstellt).

2.) Die Einschleusung Raffaels in die Schule kann ich als jugendliche Naivität akzeptieren. Das passt meines Erachtens sogar recht gut, weil ich diesen Text ja ohnehin nicht für einen Krimi, sondern für eine jugendliche Abenteuergeschichte mit märchenhaften Zügen halte (darauf komme ich noch zurück).

3.) Finde ich ganz okay so. Die Gewissensbisse sind etwas elaboriert formuliert für eine 14-Jährige, aber aufgrund der Charakterisierung könnte ich das so durchgehen lassen.

4.) Tja, das Medaillon:

Lady Shakespeare hat geschrieben:Schau mal,der Rafi hat ja das medallion gestohle, ergo ee wird angenommen er weiß von dieser schmuggelei, deshalb muss er weg, außerdem ist das Medallion ziemlich wertvoll, man wills also wiederhaben. Deshalb sind die ja überhaupt hinter dem her. Außerdem liefert das Amulett ja ein bzw. DAS Motiv...Ich meine, da kommt ja nicht einfach wer und knallt einfach so nen jungen ab... zumindest normalerweise...


Ja, du hast Recht. Das Problem ist, dass das alles Fragen offen lässt. Woher wissen die Schmuggler, dass Raffael das Medaillon hat? Okay, das kann man vielleicht noch offen lassen, aber das hier nicht:

Lady Shakespeare hat geschrieben:"Wahrscheinlich ist das der Grund, dass man dir den Mord anhängen will. Sicherlich waren in dem Koffer Wertpapiere und es war eine Schmugglerbande, die bestimmt ihr Artefakt von dir zurück wollen. Aber..., wenn wir zur Polizei gehen würden, würde man es beschlagnahmen. Das würden sie sicherlich nicht zulassen...


Warum nicht? Die könnten auch die Polizei anrufen, gibt ja Handys ;-) . Diese Vermutungen sind einfach irreführend, vor allem aufgrund der Alternativen. Wenn sie also nicht die Polizei verständigen, was sollen sie dann tun? Warten darauf, dass jemand kommt, der sie töten will?
Hier nur jugendliche Naivität zu sehen, wäre mir zu kurz gegriffen.

Ach, so die Bezüge zur Bild-Zeitung würde ich auch weglassen, scheint mir zu offensichtlich.



Also, soviel erstmal.
Die weiteren Punkte werden kommen.

lg
hginsomnia

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Re: Nihil fit sine cause

Beitragvon hginsomnia » 14.12.2009, 03:25

Also, mit reichlich Verspätung, aber wie versprochen hier die weiteren Punkte:

5.) So wie der Mörder, zu diesem Zeitpunkt noch der Förderer der Schule beschrieben wird, merkt man natürlich sofort, dass der irgendwie eine zwielichtige Gestalt ist, die auch noch eine Rolle spielen wird.

Lady Shakespeare hat geschrieben:Doch etwas bzw. jemand anderes zog nun ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein schlanker, hochgewachsener Mann, der am Zaun zum Schultor stand. Er hatte schulterlanges, schwarzes, glattes Haar, das im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Seine Augen waren stahlblau. Alles andere, was er trug war blütenweiß: Schuhe, Anzug, Krawatte... "Der ist ja unheimlich auffällig." murmelte Sophie.


Ja, vor allem wirkt der wie ein Clown, jedenfalls nach meinem Eindruck. Aber warum ist der so auffällig. Sein Ziel muss ja sein, unauffällig zu sein. Gerade die Kleidung. Nicht gerade logisch (aber das ist noch das Geringste in einer Kette von Unglaubwürdigkeiten bezüglich dieses Menschen - da komme ich noch drauf zurück).

Zum neuen Selbstbewusstsein Sophies kann ich nicht soviel sagen. Schulsituation, Teenie-Slang kann ich mir so jedenfalls vorstellen.

6.) Der Hochbegabte Raffael ist natürlich eine total unwahrscheinliche Erscheinung. Ohne Notenlesen zum Star ... das gibt es, aber das gibt's doch gar nicht :-D
Hier kommt das zum Zuge, was ich als märchenhaft betrachte. Raffael, der Märchenprinz, ein cooler Außenseiter, ein Abenteurer, der gerettet werden muss (warum müssen Frauen und Mädchen nur immer jemanden retten wollen?), gleichzeitig ein Hochbegabter, einer für die Intelligenz ... okay, sagen wir's mal so, wie es ist: ein Traummann (hier halt ein Traumjunge :-)) ).
Das ist alles nicht so meins, aber mein Gott: So was wird ja sehr gerne gelesen.

7.) Dass Sophie angeschossen wird, das ergibt alles keinen Sinn. Raffael würde niemals, so sein Charakter, mit einer Pistole auf Sophie zeigen, wenn auch nur zum ... ääh ja, was eigentlich ... zum Spaß?
Streichen, komplett streichen ist hier mein Tipp.

8.) Die Auflösung des Förderers der Schule (nebenbei kann ich mir darunter gar nichts vorstellen) zum Mörder ist , wie ich ja schon erwähnt habe, für mich das Unlogischste und Unwahrscheinlichste der ganzen Geschichte.

Lady Shakespeare hat geschrieben:"Man wird uns suchen." kündigte Sophie an, in der Hoffnung dem vorzubeugen, was der Typ mit ihnen vorhatte. Der Mann sah sie an wie ein naives, kleines Kind. "Das wird man nicht." sagte er leise und bedrohlich. "Denn großzügigerweise erbot sich der Förderer der Schule nach dem Rechten zu sehen, wo er doch schon zufälligerweise zu Besuch war." Sophie begriff. Raffael drückte ihre Hand. "Sie sind nur wegen Raffael Förderer der AKS geworden. Damit sie Zutritt zu ihm haben." murmelte sie verstehend. "Bravo, Mädchen. Grandios kombiniert." sagte er mit süßlich sarkastischem Ton. "Es war eine lästige, kurzfristige und zeitraubende Aktion, aber leider notwendig um diesen diebischen Gossenjungen in die Finger zu bekommen." Tatsächlich schien dieser, der der Anführer des Schmugglerrings sein musste, keine Mühen und Kosten gescheut zu haben um dieses Vorhaben von langer Hand zu planen und vorzubereiten- niemand wurde einfach von heute auf morgen Förderer einer Schule und sie selbst hatten sich ruhig verhalten und ihm alle Zeit der Welt gelassen.Sie hätte es wissen müssen, er hatte doch geradezu direkt vor ihrer Nase gestanden, doch sie war blind gewesen.


Erstmal: Wieviel Zeit ist denn vergangen?
Soviel kann das ja gar nicht sein, weil in der gleichen Szene noch die Zeitung mit dem Artikel über den Mord auftauch, also allenfalls ein paar Tage.
Wenn aber niemand von heute auf morgen Förderer einer Schule wird, dann reicht die Zeit bei weitem nicht aus.

Dann: Warum sollte man einem Förderer die Raumaufsicht überlassen?
Ja, okay, er ist jetzt Förderer, na und?
Das heißt nicht, dass er plötzlich alle möglichen Rechte für sich geltend machen kann.

Und: Warum um Himmels willen sollte ein Mörder auf so einen grotesken Plan kommen, sich als Förderer der Schule auszugeben?
Er macht sich erkennbar, was für einen Chef eines Schmugglerrings ... ähm ... nun, ja, nicht gerade vorteilhaft ist. Dann muss er sich absolut sicher sein, dass er als Förderer auch in Räume gelangt, ohne dabei beobachtet zu werden. Das ist ja noch nicht mal ein Plan, sondern eine Vermutung. Dann soll alles mit Kosten und Mühen verbunden sein, warum?
Verbrecherischer Vorschlag: Des Nachts in die Schule einbrechen (die Sicherheitsstandarts an deutschen Schulen sind ja nicht gerade mit denen deutscher Banken zu vergleichen :-)) ), dann Raffael töten oder sich halt irgendwie anders, auf jeden Fall ohne Öffentlichkeit, einschleichen.

9.) Die Rachegelüste passen überhaupt nicht zu Sophies Charakter. Die ist zwar selbstbewusster geworden, aber die ganze Szene erinnert an einen typischen Fernsehkrimi (was ich hier nicht als Kompliment meine).
Mein Tipp wieder: streichen, streichen und nochmals streichen.

10.) Achtung, Tautologie :-)) !
Die resümierende Passage ist mir zu resümierend, wirkt auf mich wie der Versuch, die Geschichte schnell zu einem Ende zu bringen. Hier ist mir eindeutig zuviel Inhalt auf zuwenig Text verteilt.

11.) Ich sage nur: "Märchen."

Lady Shakespeare hat geschrieben:Der Junge strich über das Plakat. "Kommst du?" fragte er Sophie dann. "Klar." beteuerte sie. "Das lass´ ich mir nicht entgehen." Raffael lächelte. "Ich habe ein Stück komponiert.Nur für dich." erzählte er dann. Sophie verschlug es die Sprache. "Wirklich?" fragte sie gerührt. Raffael nickte. "Es heißt ´Nihil fit sine cause´." eröffnete er stolz. Er hatte sowohl in der Schule als auch in der Musik größte Fortschritte gemacht (sie nannte ihn immer ihren ´kleinen Mozart´); man hatte ihn nur ausreichend fördern müssen. "Danke." murmelte Sophie glücklich und sie wartete Arm in Arm mit Raffael auf die Bahn. Er hatte Recht, denn wenn all das hier nicht passiert wäre, hätten sie sich nicht gefunden.
Nihil fit sine cause.
Nichts geschieht ohne Grund.


Den vorletzten Satz würde ich streichen. Doppelt hält nicht immer besser :-) . Ansonsten, ja, eben märchenhaft, und jetzt kann der Raffael sogar schon komponieren und zwar konzertfähig, aber als Abschluss finde ich das sonst nicht schlecht.

:-)

lg
hginsomnia


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