Die Alte aus der dritten Etage

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Michael Zima
Kerberos
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Die Alte aus der dritten Etage

Beitragvon Michael Zima » 22.09.2009, 12:21

Frau Meixner, außer Atem, weil sie eben drei Stockwerke erklommen hat, steckt den Schlüssel in das Schlüsselloch ihrer Wohnungstür, dreht ihn zweimal nach links, drückt die Klinke herunter und tritt ein. Altbauwohnung aus der Gründerzeit, Zimmer, Küche, Kabinett, WC am Hausflur. Die Zimmerfenster zur Straße, Küche und Kabinett in den großen Lichthof. Durch das Küchenfenster finden Sonnenstrahlen ihren Weg in den Raum. Sie legt ihre Tasche auf den Stuhl neben der Tür und platziert ihren Mantel auf der Garderobe. Flüchtig sieht sie ihr Bild im Spiegel über dem Waschbecken, neben der Tür die zum Kabinett führt. Zwischen Spiegel und Waschmuschel, ein PVC-Belag, der Fliesen zu imitieren versucht, auf der Fuge zwischen PVC-Belag und Waschmuschel blüht schwarzer Schimmel. Sie tritt vor die Waschmuschel und hält sich mit beiden Händen daran fest.

Am Vormittag hatte sie wieder ein Vorstellungsgespräch, keine Erwartungen, ein wenig Hoffnung. Viel zu lange ohne Job, zu alt, der Computerkurs, vom Arbeitsamt bezahlt, ohne Erfolg, sie kann mit virtuellen Menüs, mit und ohne Kontext, nichts anfangen, muss anfassen können um zu begreifen. Sie blickt in den Spiegel, das Haar wirr, ein hilfloser Hauch von Frisur, tiefe Falten im Gesicht, die matten Augen von dunklen Ringen umrahmt. Letzte Woche war ihr fünfundfünfzigster Geburtstag, niemand hat gratuliert, niemand hat ihn gefeiert, ihre Freunde haben sie schon längst aufgegeben.

Die Wohnung ist heruntergekommen. Vor ihr hat eine alte Frau hier gewohnt, für frische Wandfarbe fehlt das Geld, schon über drei Jahre wohnt sie hier. An manchen Stellen, auf den Wänden, fristen dunkle Flecke ihr Dasein, Patina der letzten Jahrzehnte, fast so, als hätte jemand, mit einem Malerschwamm aus dem Baumarkt, versucht, ein Muster an die Wand zu Stempeln, ohne das Werk zu vollenden. Die Wohnung ist schmutzig. Frau Meixner ist kein unordentlicher Mensch, damals, als sie noch verheiratet war und mit ihrem Mann dieses schmucke Haus bewohnte, war alles peinlich Sauber, so sauber, dass man vom Boden hätte essen können. Das haben ihre Gäste damals bestätigt. Nach fünfundzwanzig Jahren Ehe hatte er eine jüngere, schönere, schlankere gefunden. Scheidung. Das Haus veräußert, von ihrem Anteil hat sie sich eine Wohnung gekauft. Ein Job wäre kein Problem, hat sie damals, vor zehn Jahren gedacht, auf zu großem Fuß gelebt, die Wohnung auf den Markt geworfen, dieses Loch bezogen. Die Ersparnisse längst aufgebraucht, mit der Sozialhilfe kein Durchkommen.

Sie starrt in den Spiegel und denkt, schrecklich siehst du aus, gut dass die Eltern nicht mehr leben, sie würden sich für dich schämen. Immer schön adrett aussehen, das war das Motto ihrer Mutter. Sie greift nach dem kleinen Kosmetiktäschchen, das auf dem, mit einem weiß emaillierten Metalldeckel verschlossenem Herd, neben der Waschmuschel, liegt. Ihr Sohn spricht schon seit Jahren nicht mehr mit ihr. Er hat nie verziehen, dass sie mit Papa, der sich so sehr um Versöhnung bemüht hat, nicht mehr reden wollte, nachdem ihn seine Neue wieder verlassen hat. Er konnte ihr das Leben, von dem sie dachte es würde ihr zustehen, nicht bieten. Sie kramt nach einem Döschen Liedschatten, fast leer, ein Relikt aus besseren Tagen.
Seit Wochen kein Strom, weil sie die Rechnungen nicht bezahlen kann, kein Fernsehen, kein Licht um ein Buch zu lesen und Zerstreuung zu finden. So versucht sie jeden Abend der Trostlosigkeit zu entfliehen, rückt den alten Lehnstuhl, der noch von der verstorbenen Vormieterin stammt, zum Fenster, nimmt Platz und blickt auf die Kronen der Bäume, die ihr Geäst vornehm im Wind wiegen.
Sorgfältig trägt sie Liedschatten auf und überdeckt die Augenringe mit Rouge. Der Lehnstuhl ist unappetitlich, der Bezug speckig, dunkle Flecke bedecken die Sitzfläche. Ob diese von gekleckertem Essen stammen, oder die Vormieterin die Toilette zu spät aufgesucht hatte, bleibt unbeantwortet. Lippenstift rollt aus dem Kosmetiktäschchen, Frau Meixner greift danach, dreht bedächtig den Stift heraus und streicht damit sorgfältig über ihre Lippen. Noch einmal kontrolliert sie ihr Bild im Spiegel, die Eltern sollen sich nicht schämen müssen, wenn sie ihnen bald gegenübertreten wird.

Sie geht zum Küchenfenster, öffnet die Flügel, lehnt sich hinaus und blickt in den sonnendurchfluteten Lichthof. Alles wirkt Grau, selbst in den Ritzen und Fugen wagt kein Grün zu wurzeln. Sie lehnt sich weiter aus dem Fenster, eine Amsel zwitschert im Hof, noch ein Stück weiter… ein dumpfer Aufprall.

Gegenüber, im ersten Stock, steckt ein Mann seinen Kopf neugierig aus dem Fenster. Er sieht Frau Meixner und dreht den Kopf angewidert zur Seite. Aus dem Raum hinter ihm, tönt eine Frauenstimme. Sie fragt was los ist. Er dreht sich um und antwortet, dass sich die Alte aus der dritten Etage gegenüber, aus dem Fenster gestürzt hat. Die Hausmeisterin betritt den Hof, um bei den Mülleimern nach dem Rechten zu sehen. Sie sieht die leblose Frau Meixner, von deren Kopf bahnt sich ein kleines, rotes Rinnsal seinen Weg zum Kanal, in der Mitte des Hofes. Entsetzt schlägt sie die Hände vor den Mund, so als will sie einen Schrei unterdrücken und denkt, wie viele Eimer Wasser sie in den Hof schleppen muss, um den Beton wieder sauber zu bekommen.

Hamburger
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Re: Die Alte aus der dritten Etage

Beitragvon Hamburger » 01.10.2009, 11:21

Hallo Michael,

auch dir einen herzlichen Willkommensgruß im Forum und hier meine Meinung zu deiner Geschichte:

Ich finde die Darstellung der Lage der Frau viel zu einseitig, als dass sie mich so richtig packen könnte. Zum ersten Mal zusammengezuckt beim Lesen bin ich am Ende des zweiten Absatzes:

Letzte Woche war ihr fünfundfünfzigster Geburtstag, niemand hat gratuliert, niemand hat ihn gefeiert, ihre Freunde haben sie schon längst aufgegeben.


Klar gibt es sehr einsame Menschen in unserer Gesellschaft. Aber hier habe ich zum ersten Mal gedacht, die Geschichte wird in die Richtung gehen, dass alle anderen Menschen eiskalt sind und die Frau ganz arm dran. Und so kommt es leider im Prinzip auch. Leider, weil ich das ziemlich unoriginell finde. Nun ist Originalität nicht alles. Es kommt immer darauf hin, wie etwas gemacht ist. Viele Geschichten haben eine simple Grundidee. Aber ich finde auch in der Charakterbeschreibung kaum etwas, was diese Frau interessant macht. Widersprüche, irgendwelche Fragezeichen, bei denen die Vorstellungskraft verweilen kann.

Das Einzige, was man der Frau vorwerfen könnte, wäre, die Ersparnisse zu schnell durchgebracht zu haben. Ansonsten wird das Bild von ihr nicht gebrochen. Sie ist halt alt und kann daher nicht mit dem PC umgehen. Ihr Mann ist böse und nimmt sich nach der Scheidung eine jüngere Frau. Der Kontakt zum Sohn reißt ab, weil sie ihrem Mann nicht verzeiht, der so böse zu ihr war. Die soziale Lage ist schlecht bis mies und das alles kann nur in den Selbstmord fühlen. Und selbst als Tote wird sie von den Nachbarn menschenunwürdig behandelt.

Das ist ein sehr einfaches, vor allem aber ein langweiliges Weltbild. Du verwendest mir hier zu viele Klischees. Das fordert mich als Leser nicht heraus, regt mich nicht zum Nachdenken an.

Da nützt es mir dann auch nichts mehr, dass der Text formal solide rüberkommt. Daher bin ich leider nicht überzeugt.

Liebe Grüße,

Hamburger

Michael Zima
Kerberos
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Re: Die Alte aus der dritten Etage

Beitragvon Michael Zima » 02.10.2009, 21:51

Hallo Hamburger,

ich danke für deine kritischen Zeilen, vielleicht gelingt es mir, dich mit einem anderen Beitrag zu überzeugen.

liebe Grüße

Michael


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