Quakenbrück ist eine kleine Stadt im norddeutschen Tiefland, in die es den ehemals erfolgreichen Modemacher P. verschlagen hat. Aus der Welt des Glamours findet sich der Mittdreißiger zwischen Fachwerkhäusern und Saunagängern wieder. In seinem neuen Job entwirft er Funktionswäsche und nach Feierabend zermürbt ihn die Tristesse der Kleinstadt. Eines Tages entdeckt er eine Frau im Postamt, die er kurz darauf bei Freunden wiedersieht. Seine Welt bricht zusammen, als er erfährt, dass Lena verheiratet ist und eine Tochter hat. Aber die beiden kommen sich näher, und fortan windet sich P. in einem moralischen Dilemma. Wie weit darf er gehen? Darf er eine Familie für eine neue Liebe zerreißen? Nicht nur er stellt sich diese Fragen. Lenas Freunde mischen sich immer mehr in die ungeheuerliche Beziehung ein und fordern damit eine Lösung heraus.
In 47 Briefen an eine Freundin seziert P. eine Kleinstadt aus der Sicht eines Zugezogenen. Um sein eigenes moralisches Dilemma zu überwinden, sucht er nach Anzeichen des bürgerlichen Verfalls und vermutet Ungemach und Kümmernis hinter den mittelalterlichen Mauern der Fachwerkhäuser.
P. möchte nicht an das Familienglück glauben und fährt vor Verzweiflung in einen Acker. Er philosophiert über die Gipsabdrücke der Brüste seiner Vermieterin und über die Bürgerlichkeit in Zeiten der Patchworkfamilie. Im Hallenbad schwimmt er Lena hinterher und erwartet geteert und gefedert zu werden.
„Ich bin erst bei A. Und Alfa ist schon Omega. Das Ende einer Ehe. Liebe von ihrer schaurigen Seite. Es erwächst die Pflicht dem Retter zur Rettung. Es besteht das Mandat der Verallgemeinerung. Blasen wir zum Angriff, bis wir geblasen werden, auf dass nicht erst der Tod euch scheidet.“
Zugezogen
Ein Roman in 47 Briefen
14. September 2007
Meine Liebe,
jetzt bin ich hier. Lange Straße nennen sie die Straße einfach. Man rechnet noch mit einer Kurzen Straße. Aber die gibt es nicht. Erinnerst du dich an deine Worte? Wären sie bloß warnend gewesen. Wie froh ich war. Eine Kleinstadt. Der Mann von Welt geht in die Provinz. Die Lange Straße ist nicht lang, sie ist sogar sehr kurz, verglichen mit den Straßen, die ich in meinem Leben entlanggegangen bin. Wer braucht auch eine lange Straße, man kann sie ja einfach lange Straße nennen. Wer will das vergleichen, wenn es keine kurze Straße gibt. Ein genialer Schachzug stadtväterlichen Kalküls. Ich falle nicht rein. Ich nicht. Ich bin lang.
Ich wohne abseits der Langen Straße, in einer Straße, die sie Kleine Mühlenstraße nennen. Ich weiß nicht, ob es auch eine große gibt, auch in einer kleinen Stadt geht man selten durch alle Straßen. Vielleicht gibt es eine Kurze Mühlenstraße. Unter meiner Wohnung ist ein Möbelgeschäft, ich habe dort noch keinen Kunden gesehen, aber ich bin ja auch erst seit gestern hier. Die Möbel im Schaufenster sind sehr klassisch, Kirschholzmöbel würde man sagen. Mit Messingknöpfen und geschwungenen Schubladenverkleidungen, dazu Sofas mit samtenen Bezug. Glöckchen baumeln an den Armlehnen herab, an denen sich kleine Kinder emporziehen können, um auf Opas Knie zu klettern.
Es gibt Teller und Tassen, Löffel und Gabeln. Bügeleisen. Bügelbrett. Elefantenförmige Thermoskanne. Der Tee kommt aus dem Rüssel, haha. Tropft. Vollmöbliert und eingerichtet. Meine Vormieterin hat sich gestern von mir verabschiedet. Ihr Koffer stand gepackt im Flur, ein großer Koffer. Sie lässt alles hier, so lautet die Abmachung, ich, der Unbekannte, nehme ihre Wohnung im Ist-Zustand. So steht es im Vertrag. Dafür darf ich alles benutzen, und sie alles hier lassen. Sie geht nach Moldawien. An der Wand über dem Bett hängen die Gipsabdrücke ihrer Brüste. Die Linke ist kleiner. Das macht nichts, sie ist ja weg.
Ich vertraue Ihnen, sagt sie. Auf den ersten Blick. Der Mann für meine Wohnung. Deswegen geht sie auch mit dem Preis herunter. Ihr Gesicht kommt mir enttäuschend plump vor, ein Gesicht für Moldawien. Aber hätte ich ihre Gipsbrüste vorher gesehen. Amore in Gips. Ich hinterlasse meinem Untermieter meine Titten, oder was. Was für ein Hauch von Anregung. Verfügbarkeit. Jede andere hätte sie abgenommen, in den Schrank als wacklige Obstschalen gestellt. Die hängen da für mich. Hast du jemals Abdrücke deiner Brüste angefertigt? Den kaltnassen Gips über die Wölbungen gestrichen, oder hat es etwa jemand für dich getan? Bist du Besitzerin eines tönernen Brusthalters. Einschmiegsam, anschmiegsam geformt, saugt er sich an deine Dinger. Selbsthaftend im Unterdruck.
Sie zeigt mir alles: die Waschmaschine im Keller (dunkel, steile Treppe, Spinnweben, ein Gang, ein Gang wohin?), den Herd, als wüsste ich nicht einen Herd zu bedienen. Sie spricht langsam und ausführlich, eine Lehrerin, weißt du. Und nach jeder Erklärung durchbohrt mich ein Blick. Verstanden? Ich nicke. Eine freundliche Lehrerin, sicherlich muffig im Kollegium, aber herzlich mit ihren Schülern.
Die Wohnung ist abscheulich eingerichtet. Zusammengestückelt. Verschiedene Hölzer, ich habe gezählt, sechs verschiedene Hölzer in einem Raum, und ein Sofa mit weiß abgeschabtem Leder. Als hätte man sich daran gerieben.
Ich bin nicht von hier, sagt sie. Auch zugezogen. Höre! Ich bin ein Zugezogener. Ein Urteil. Nicht im Sinne des Angeklagten. Die in Moldawien möchten Deutsch lernen, und so nimmt sie eine Stelle an, des Geldes wegen. Ich denke, sie ist 33, zwei Dreien. zwei Brüste. Mit welchem Abstand hängt man zwei Brüste auf? Bei ihr sind es etwa fünf Zentimeter, die Nippel sind aufgesetzt, nachgeformt, erregt. Gipserne Nippel. Letzte Nacht vor dem Schlafengehen lege ich meine Hände auf die kalten Abgüsse. Dann lege ich mich in ihr Bett. Moldawien. Weit weg von ihrer Wohnung, ihren Brüsten, lassen wir das. Ich glaube sie möchte mich gerne umarmen, bevor sie geht. Ihre Hände kommen auf mich zu, weit auseinander gehalten. Oder sie will mich umfassen. Vielleicht ist ihr Gesicht eher blass als plump. Ich weiche aus. Strecke meine Hand vor. Alles Gute.
Ich habe zwei Koffer. Einen Schrank hat sie mir leer geräumt. Ich habe noch nicht ausgepackt. Sitze hier in der gleichen Kleidung von gestern. Als könnte ich mein altes Leben nicht abstreifen. Der Gedanke, mich in eine neue Hülle zu stecken, widerstrebt mir. Ich möchte stinken, mein altes Leben riechen, in speckigen Hosenbeinen und miefigen Socken stecken. Ich bin hier, hier in Norddeutschland. Nordland. Aber nicht Küstenland. Zwischen Meer und Mittelgebirge, aber was ist dazwischen, wer hält sich da auf? Du hast gesagt, es sei ein Niemandsland, weil man niemanden daher kenne, und du hast recht. Aber zurückgehalten hast du mich nicht. Ich bin allein in der Nacht. Allein mit einer Kleinstadt. Es ist so schrecklich leise. Keine Sirene geht. Kein Schrei in der Nacht. Nicht einmal das Rattern eines Zuges.
Ich komme hier an. Auf einem Bahnhof. Es gibt ein Gleis. Das heißt Gleis Zwei. Alles andere ist Unkraut. Der Bahnhof ist ein verwilderter Garten, in dem sich ein gewaltiges Gebäude erhebt. Im Giebel des bogenförmigen Dachs ist ein steinerner Soldatenkopf mit Stahlhelm eingelassen. Grimmig schaut er auf seine verwachsenen Gleise hinunter. Keine freundliche Begrüßung. Es stinkt nach Pisse und faule Schüler hängen auf Metallgitterbänken herum. Sie schauen mich an. Bin ich hübsch? Kippen und bunte Flaschen lagern neben ihnen. Ihr Lager. Graffititags, billig dahergeschmiert, als sei es ein Ausbruch von Inbesitznahme einer nutzlosen Wand. Ich lasse sie hinter mir, die Jungen und die überwachsenen Gleise.
Von hier fährt sie nach Moldawien. Ich frage nach der Kleinen Mühlenstraße. Nicht weit, sagt mir ein freundlicher Mann im blauen Plastikblazer. Beim Werkzeugladen rechts und dann durch den Schwarzen Weg. Der Schwarze Weg. Des Teufels Zeug. Meine Liebe, um mein neues Heim zu erreichen, muss ich durch den Schwarzen Weg. Keine Straße, nein, ein Weg entlang eines Flusses, von der anderen Seite dicht bewachsen mit Büschen, und am Ende ein Schleusentor, durch das Wasser rauscht, bei Müllers Mühle. Müllers Mühle zermalmt mich, denn die Koffer werden schwer und die Arme lang, da zieht es mich hinab zu des Müllers Bann. Rechts rum bei Müllers Mühle.
Ihr Kino nennen sie Schauburg. Drei Filme auf bunten Plakaten. Julia Roberts, auch in ihrem Alter noch bezaubernd. Ich ruhe mich hier aus. Auf den Stufen des Kinos. Die Koffer vor mich hingestellt, die Koffer, in denen nun mein ganzes Leben steckt. Als wären es Koffer voll Geld. Aber es sind nur Hosen, denen ich mich jetzt verweigere. Wieder schauen Leute mich an. Mann mit Koffer, verdächtig, zugezogen. Eine Schar ältlicher Radfahrer radelt an mir vorbei, sie unterlassen es nicht, mir zuzuwinken, heben fröhlich die Hand zum Gruße. Sind wir denn alle auf einer Reise?
Ich sitze da und lasse den Kopf sinken. Auf die Knie. Ankunft. Schon sitze ich vor dem Kino, als würde ich Ausschau nach der großen Welt halten. Fast würde man erwarten, ein Kind käme, und stieße mich an. Kein Kind kommt. Kein Vogel lässt sich auf mir nieder. Fließen etwa Tränen. Sind die Wände um mich herum grau, der Himmel ein tiefes, dunkel verhangenes Vakuum? Tränen auf dem Montmartre. Dort oben hatte ich sie vergossen, damals, dieses Damals ist ein Jahr. Die riesige Stadt unter mir, die leuchtende Kapelle über mir, als strahlte alles, nur ich nicht, ich habe geweint meine Liebe, innerlich gebrüllt, sie war fort. Fort. Fort. Fort. Und ich war auf dem Montmartre, Fucking shit, allein gelassen, und das auch noch in Paris. Wild romantisches Elend. Oh meine Liebe. Nicht du, nein, meine Liebe. Sitzengelassen. Angetan den größten Schmerz, die tiefste Verletzung, der zerplatzte Schädel. Traum. Gemeinsam Leben. Nein. Wie viele Jahre. Geopfert auf dem Montmartre.
Ich bin nicht darüber hinweg. Die geopferten Jahre. Die Stunden verkeilter Körper und verwobener Seelen. Verloren. Seit dem sitze ich auf Stufen. Ich sitze auf Stufen und Koffern und ficke was mir vor die Füße kommt. Ich ficke diese Stadt. Auch diese Stadt. Auf diese Stadt.
Ich gehe weiter. Vielleicht 15 Häuser, Fenster mit deutsch weißlichen Webgardinen ziehen an mir vorbei, und das Türkenkaffee mit dem Poster von der arabischen Tittensängerin. Ich weiß nicht, warum dieser erste Brief an dich so brustlastig ist. Ablenkung vielleicht.
Ich stehe jetzt vor dem Kirschholzmöbelladen. So hatte sie es beschrieben. Ganz einfach zu finden, die Mühlenstraße, also die kleine, kurze, mickrige herunter bis zum Möbelladen, rechts davon in den schmalen Gang. Gegenüber meiner (neuen) Haustür erhebt sich eine rote Klinkerwand, eine Riesenwand, grünlich, moosig und bedrohlich. Ich klingele. Wir stehen etwas hilflos im Flur herum. Zuerst einen Kaffee, ja gut. Meine Küche. Bistrotisch. Marmorplatte mit gusseisernem Ständer. Hellgrün ist der eine, orange der andere Holzstuhl. Lustig, wie lustig. Frankreich für den Kindergarten. Im Flur gibt es noch zwei Klappstühle, sagt sie. Ich habe keine Freunde hier, sage ich. Sie lächelt. Was soll das? Hätte ich gesagt, ich käme nur zum Sterben her – lächelte sie? Stell dir vor, vielleicht ist es wahr. Ich komme zum Sterben her, das letzte bisschen Leben ausgehaucht in Q-u-a-k-e-n-b-r-ü-c-k. Finden wir das amüsant? Der Kaffee schmeckt nach Schwarzteerückständen. Er ist also auch dünn. Aber nette Geste. Neun Jahre lebt sie in dieser Wohnung.
Du, ist doch okay, sagt sie. Ja, bitte duzen wir uns, Sweetie. Wir werden ja auch eine enge Verbindung haben, du in Moldawien, und ich in deinem Bette ruhend. Ich erzähle meine Beweggründe. Du siehst nicht so aus, sagt sie. Als würde mir eine Weltläufigkeit aus den Augen stechen. Spannend, nennt sie meinen Job. Moldawien klingt ja auch sehr interessant, muss ich sagen. Wir klären die Formalitäten, ich unterschreibe den günstigen Preis. Ein Jahr. Auf Gedeih und Verderben. Darb ich schon am Frühstückstisch. Es riecht nach Reinlichkeit in dieser Küche. Über dem Wasserhahn hängt ein Tuch, aus dem es in die Spüle tropft. Matter Glanz auf den Resopalflächen.
Küche und Wohnzimmer sind eins. Im Wohnzimmer steht mein Bett. Einraumwohnung, essen, leben, vögeln, alles in einem Raum. Fast alles menschlich Bedürftige (es gibt ein Bad). Ich sehe die Farbe der Wände nicht, sie sind mit Regalen vollgestellt. Bücher zu jedem Thema. Selbstfindung. Spanische Wörterbücher. Erotische Geschichten. Lohnsteuerratgeber. Klassiker. Angemalte Holzregale mit versetzbaren Böden für große und kleine Bücher. Sie liest viel, die Dame. Was sagt eine Wohnung über seine Bewohnerin? Mal abgesehen davon, dass sie ihre Brüste zurückgelassen hat.
Nach der Führung muss sie dann los. Warte, sagt sie. Und lächelt. Das ist die Nummer von Anja, Kollegin von mir, ruf sie an, auf ein Bier oder Kaffee. Die ist nett. Und adrett. Sie lächelt über ihr Wortspiel. Sie schaut mir tief in die Augen. Vielleicht auch nur lang. Dann alles Gute. Ich schleppe noch ihren Koffer auf die Straße. Den zieht sie dann die Kleine Mühlenstraße hinunter, schaut sich noch einmal um, fragend und hoch zu ihrem Fenster, mit der Yuccapalme, die ich gießen muss, und den roten Vorhängen, die ich zuziehen kann, um mich vor den Nachbarn zu verstecken.
Gestern bin ich gekommen, und heute bin ich müde. Ich ziehe die Gardinen zu, lege mich auf ihr Bett, schlafe, ich werde den Nachmittag verschlafen und den Abend vertrödeln. In zwei Tagen geht es los. Rückkehr in ein Leben. Bezahltes Brot, verdient für die Bank.
Meine Liebe, es grüßt dich
P.
15. September
Meine Liebe,
Frühstück mit mir. Der hellgrüne Stuhl gegenüber ist leer. Zweite Nacht. Ja, ich trinke. Den gestrigen Nachmittag verschlafen, den Abend dem Wein überlassen. Aldi Bordeaux. Gefunden in einem Küchenschrank hinter Dinkel.
Ich esse kaum. Die Vorhänge zugezogen, sitze ich in der dunklen Kammer, höre auf die Geräusche im Haus, den Staubsauger, vielleicht auch aus dem Nachbarhaus, das Schlagen der Türen, die Kinder auf dem bürgerlichen Trottoir.
Draußen bauen sie ein Fest auf. Buden. Ich nehme an, ein Stadtfest, rot-weiße Fahnen schmücken plötzlich die Lange Straße, und seltsame Schirme im gleichen Farbmuster sind zwischen die Häuserfronten gespannt, wie Sonnenschirme, als sei das ein Problem im September. Fröhlichkeit und Familiensinn wird durch die Straßen ziehen. Musik und Karussells, eine Stadt vergnügt sich, ein Zugezogener zieht sich zurück. Ein Zugezogener hinter zugezogenen Vorhängen. Vielleicht sollte ich mich heraustrauen, heute Nacht. Kontakt knüpfen mit den Menschen dieser Stadt, die trunken an Bierbuden stehen. Aber werden sie mich aufnehmen? Wie nähert sich ein Fremder der Stadt? Es sollte ein Begrüßungskomitee geben, wie damals in der Schule: als man erst verschüchtert unter den Garderobenhaken auf dem Flur stand, dann von der Lehrerin hineingerufen wurde, die zuvor ihre Klasse sacht darauf hingewiesen hatte, dass ein Neuling erscheine, aus einer fremden Stadt, manchmal mit einer fremden Hautfarbe auch, dass man sich um ihn kümmern müsse. Dann wurde man hereingerufen. So klein war man damals, stand verloren neben der Lehrerin, die auf einen hinabschaute, während die Anderen von ihren Bänken heraufschauten. Alle schauten. Der Neue. Man musste sich nicht selbst vorstellen, das hat die Lehrerin gemacht, dann kam man einen Platz zugewiesen, immer neben der unbeliebtesten Person im Klassenraum, alle anderen Plätze waren schon besetzt. Und so freundete man sich mit dem Außenseiter an, dem aus schlechtem Hause, der schon in der Grundschule Bilder von halbnackten Frauen in seine Hefte klebte und nur versetzt wurde, weil der Neue ihn abschreiben ließ.
Erst langsam wurde man dann auch den anderen Schülern zugeführt, die Mädchen waren neugierig, meist war die Klügste unter ihnen zu einer Annäherung bereit. Irgendwann war man von ihnen umringt, wurde aber abschätzig von den Jungs betrachtet, die man nur durch eine Heldentat, die meist damit zu tun hatte, sich bei den Mädchen unbeliebt zu machen, auf seine Seite ziehen konnte. Ich war von den Mädchen geschmeichelt, und ließ es auf die Jungs ankommen. Einfach war das nicht, meine ich mich zu erinnern.
Einfach ist es bis heute nicht. Frauen trifft man vielleicht nicht an Bierbuden und die Männer werden sich Zähne wetzend auf mich stürzen. Der Zugezogene sollte sich an sein eigenes Geschlecht halten, um nicht von vornherein verdächtig zu wirken. Was rede ich daher, meine Liebe, ich werde kaum die Kraft finden, auf dieses Fest zu gehen, noch werde ich den Mut haben, mich deinem Geschlecht zuzuwenden. Ich sitze hinter meinen Vorhängen. Montag geht es los, Montag muss ich da raus, arbeiten.
Ich kaue auf einem Stück trockenem Brot herum. Roggen. Harte Kruste, von dort wird es zur Mitte hin immer trockener. Nur die Diätmargarine gibt ihm eine Verzehrlichkeit. Im Radio verlosen sie etwas, sie wollen mich anrufen, sagen sie. Mich ruft niemand an, ich höre trotzdem ihren Sender. Sie hat ihn gehört, ich bringe noch keine Kraft auf, die Station zu wechseln, nicht einmal die Kraft an einem Rädchen zu drehen. Montag soll ich arbeiten. Absurd. Ich habe doch selbst meine ganz eigenen Gedanken nicht beieinander. Der letzte Bissen Brot, ich mache mit dem Rachen eine schlingende Bewegung, wie ein Geier, der totes Tier den Hals hinunter würgt.
Ich lebe, in Erwartung einer Nachricht von dir.
P.
16. September 2007
Meine Liebe,
ich traue mich heraus. Sobald es dunkel ist und niemand, der mich nicht kennt, erkennen kann. Kaum gehe ich um die Ecke in die kurze Lange Straße, befinde ich mich vor einer Bierbude. Menschen in kleinen Grüppchen stehen da und trinken Bier, wie man es vor einer Bierbude erwartet. Alle paar Minuten löst sich einer aus der Gruppe und holt eine neue Ladung, die er an die Gruppe verteilt. Die Frauen lehnen immer ab, nehmen aber dann doch ein zweites Glas in die Hand, während die Männer schnell ihr altes Glas in großen Schlücken leeren. Meist ist es noch nicht leer, weil die Frauen ihren Männern aus ihrem Glas nachschütten. Ich glaube jede Frau in dieser Stadt gehört zu einem Mann. Singles kann man riechen, ich rieche nichts, zumindest nicht das andere Geschlecht.
Natürlich gibt es mehr Männer als Frauen. Ein ungerechtes Verhältnis. Weltweit ein ungerechtes Verhältnis. Irgendwo auf dieser Welt gibt es ein riesiges Harem, in dem all die Frauen sich lüstern um Springbrunnen wälzen und dem Einen huldigen. Aber wer ist der Eine und warum huldigen sie ihm? Anders kann ich es mir nicht erklären. Wo sind die ganzen Frauen und von den Ganzen dann noch die Schönen?
Hier gibt es viele alleinstehende Männer. Ist dir jemals die Zweideutigkeit dieses Begriffs durch Mark und Bein gegangen. Ich bin auch alleinstehend. Sie haben niemanden an den sie sich anlehnen können, auch nicht, wenn sie betrunken sind. Und sie haben niemanden, der hilft ihren Ständer aufzustellen, sie sind alleinstehend und müssen ihn auch alleine wieder herunterbringen. Die alleinstehenden Männer trinken mehr, obschon sie keine Frauen haben, die ihnen Bier nachschütten. Das liegt daran, dass die nicht alleinstehenden Männer irgendwann konsequenter ein neues Bier ablehnen, oder sich zum Schutze etwas abseits der Gruppe mit ihrer Frau in eine Alleinunterhaltung begeben. Die alleinstehenden Männer dagegen trinken ohne Unterlass, aus Verzweiflung oder Missmut, oder um sich Mut anzutrinken, falls doch noch aus dem Nichts eine Frau daherkommen sollte. Aber ich befürchte, wer dieses Business hier nicht bis 25 erledigt hat, der ist verloren, oder muss sich von seinem alten Leben lösen. Ich bin (wieder) verloren und ich habe mich von meinem alten Leben gelöst (zwanghaft). Aber hier beginnt der Fehler. Ich bin nicht raus in die Welt, sondern hinein in die Behäbigkeit gegangen, in eine kleine Stadt, in der norddeutschen Tiefebene.
Ich stehe allein da. Festgehangen an der ersten Bierbude. Fasziniert schaue ich auf die Kinder der Stadt. Leute schaut auf diese Stadt. Ich lehne an einer Häuserwand, habe mir wahrscheinlich als einziger des ganzen Abends, ein, ja nur ein Bier gekauft. Niemand kommt auf mich zu. Alte Bekannte sehen sich auf diesem Fest wieder, neue Bekannte werden nicht gemacht. Vielleicht schaue ich auch abweisend aus, der Unansprechliche, der Zugezogene und Fremde. Warum sollte man mit mir sprechen, worüber auch. Es ist schon kalt am Abend, meine Hand am plastenen Bierglas friert, und ich fühle den Herbst meine Hosenbeine hinaufkriechen.
Junge Mädchen in engen Hosen ziehen an mir vorbei, angehübscht, grell im Gesicht, die dürre Figur nach außen gekehrt. Ihre Jungs dagegen plump. Albern. Ich werde müde die Biertrinker zu beglotzen und bewege mich, schlendere die Straße hinunter. Eine Band spielt alte Hits, die immergleichen Hits, die wir schon gehört haben, als wir noch jung waren. Die Sängerin hat einen Schal um ihren Hals geschwungen und steckt in braunen Lederstiefeln, in denen eine enge Jeans verschwindet. Sie sieht zur gleichen Zeit jung und alt aus. Einer der Bandmitglieder wird sie haben, alle werden sie begehren, sich Hoffnungen machen. Nach dem einen Auftritt wird sie den Gitarristen satt haben und ihn mit dem Schlagzeuger betrügen, vielleicht passiert es heute, vielleicht in Quakenbrück. Ich mag ihre Stimme. Sie klingt, als würde sie gleich heulen, als hätte sie alles verstanden und würde nun den Weltschmerz in alten Hits über die Straßen tragen. Womöglich hat sie sich vor dem Auftritt mit dem Gitarristen überworfen. Des Schlagzeugers Chance, wenn er es nur richtig anfängt. Sich nicht gleich auf sie stürzt, während der Gitarrist sich die Kante gibt. In einem schäbigen Hotelzimmer im Hinterhof eines dieser Fachwerkbauten, mit schiefen Wänden und altdeutschen Nachttischchen, über denen Kohlezeichnungen alter Stadtansichten hängen, mit einem Bad auf dem Flur, weil diese alten Bauten nicht mehr so leicht nachzurüsten sind. Sie könnten sich da treffen vor dem Bad, gemeinsam ihre Zähne putzen, sie im Nachthemd und mit Stiefeln. Einer muss ihr halt die Stiefel ausziehen. Eins kommt zum anderen, sie reden über ihre Probleme, auch über das Ende der Band und damit dem Ende einer Zeit, eines Gitarristen. Irgendwann gehen sie in sein Zimmer, er hat noch eine Flasche Barcardi. Sie kommt mit ihrem Zahnputzglas, das ist noch nicht die Zahnbürste, aber immerhin. Sie trinken. Warmen Barcardi ohne Eis und Cola. Sie mag das nicht, aber braucht das jetzt. Ihr drücken die Stiefel, er zieht sie ihr von den Beinen, sieht, dass sie unter dem Nachthemd nackt ist. Nachthemd und Stiefel. Sexappeal pur. Ich stelle mir das so vor: knielanges Nachthemd mit Spitzenborte am Ausschnitt und leicht geraffter Brustnaht, verstellbare BH-Träger, Saum ist leicht gewellt und knieumspielend. Seidiger Glanz und kühler Griff. Blasse, rankende Rosen auf weißer Seide. Ein Schleifchen am Dekollete wirkt besonders feminin... Alles klar? Ein Traum oder? Der arme Schlagzeuger, wenn er jetzt nur keinen Fehler macht. Aber vielleicht ist sie längst betrunken genug.
Ich gehe weiter, bis an das Ende der Langen Straße, schiebe mich manchmal durch Menschenmassen, meine einzige Gelegenheit, andere Menschen zu spüren, ihnen nah zu sein. Warm fühlt sich das an. Und unangenehm. Burschen rüpeln, Weibchen huschen vorbei. Es macht mich müde, und mein Gefühl von Verlorenheit wächst. Im Stillstand war es erträglich, wie eine Statue blickte ich auf sie herab, im Gang ist es zermürbend. Ich werfe einen letzten Blick auf meine Sängerin. Vielleicht hat sie gar kein Nachthemd, kein seidenes.
Ermattet falle ich auf mein Bett unter die gipsernen Brüste.
Eine versuchte Annäherung.
Meine Liebe, farewell
P.
16. September 2007 Zweiter Brief
Meine Liebe,
ich schreibe dir noch einmal. Von draußen klingt die Burgmannskappelle zu mir herauf, Bläser mit Trompeten und Hörnern. Burgmannskapelle auf Burgmannsfest, nur keine Burg. Erinnerungen an meine frühe Jugend kommen hoch. Potpourris auf der Trompete beim Blasverein. Trompeten, blasen, Orgie. Ich fühle mich einsam und verlassen, als wäre niemand auf der Welt, der mich in diesem Moment verstehen würde. Habe ich meine Vergangenheit verspielt. Die Vergangenheit lässt dir keine zweite Chance, die gibt es nur im Leben. Ich bin verängstigt, der Himmel hat sich seltsam mit Wölkchen angefüllt, ein schummriges Muster. Die Vorhänge habe ich zurückgezogen. Ich bin müde, obschon mein nächtlicher Ausflug gestern nicht in eine späte Stunde ging. Ich bin hungrig. Ich wage mich noch einmal auf das Fest, um einen Burgmannsburger zu essen. Lasse mich zum Ritter schlagen. Ein Burgmannsburger, das ist fett triefendes Schweinefleisch in einem Brötchen, und der Geruch steigt dir in die Nase, kitzelt am Gaumen, als müsstest du zubeißen, jeden Moment dich darauf stürzen. Ich esse zwei. Zermalme Fleisch zwischen meinen Zähnen. Als ich von dem saftigen Brötchen aufsehe, mich einen Moment nicht darauf konzentriere, nimmt ein Windstoß das Dach der gegenüberliegen Bühne ab. Fast vergräbt es jemanden unter sich.
Bekannte meiner Eltern erzählten folgende Geschichte: Eine Jugendcombo versammelte sich immer bei einem alten Treibhausschuppen. Dort tranken sie im Sommer ihr Bier, hörten ihre Musik und sprachen mit dem anderen Geschlecht. Eines Abends ging ein Pärchen hinter den Schuppen, es war das Ende des Sommers, vielleicht September, die beiden liebten sich abgöttisch. Schon den ganzen Tag über gab es Wind, der in der Nacht sich fast zu Sturmböen aufblähte. Eine solche Böe hob das Wellblechdach von der Hütte, schleuderte es in die Luft und rasierte dem Jungen, der auf dem Mädchen im Gras lag, den Schädel ab. Das Mädchen blieb unverletzt, nur hatte es einen Jungen ohne Schädel auf sich liegen, aus dessen Hals Blut auf ihre Bluse strömte. Grausige Geschichte. Ende einer Jugendliebe, radikales Ende. Immerhin hat er sein Mädchen gerettet. Man kann also den Tod an einem Stück Wellblech finden. So geht das Leben. Stürmische Liebe. September Songs.
Ich hetze wieder über das Fest, vorbei an Müttern und Kindern, und straussenen Stelzenläufern. Doch plötzlich hält mich jemand an der Schulter und schreit Joachim, wobei ihm das –im schon in der Kehle stecken bleibt. Ich bin nicht sein Schulfreund, er lässt mich los und eilt davon. Was ich in meiner Schrecksekunde sehen kann, ist sympathisch. Jemanden, den man vielleicht gerne wiedersieht.
Einen alten Freund.
Du schweigst meine Liebe, das Schweigen der Weisen nehme ich an. Nicht das der Sprachlosen.
P.
17. September 2007
Meine Liebe,
Funktionswäsche. Auf die Plexiglaswaben über mir prasselt der Regen aus einem unglaublich grauen Himmel, und mein erstes Projekt lautet Funktionswäsche.
Warum auch nicht. Ich kann mich dem Körper in seinen intimsten Zonen nähern und ihm ein sanftes Stück Synthetik anpassen.
Doch zurück zu den Anfängen. Ich hatte mir nicht einmal Gedanken darüber gemacht, wie, also mit welchem Transportmittel, ich an meine neue Arbeitsstelle kommen würde. Inmitten der Nacht wache ich auf, von einem Traum, in dem ich gerade einem alten Freund vorwerfe, sein Vater sei in meine Mutter verliebt. Ich bin also wach und stehe vor einem Problem. Meine Firma ist am anderen Ende der Stadt.
Zu Fuß durchquere ich zunächst den Schwarzen Weg, als plötzlich im morgendlich schummrigen Licht, sich von ganz allein das Schleusentor bewegt, und Wasser in die Tiefe hinabrauscht. Ich erschrecke. Fühle mich schon am frühen Morgen ertrinken. Mein Weg führt mich weiter durch einen Tunnel unter den Bahnanlagen hindurch, wobei es keine Möglichkeit gibt, sich dieses Abtauchen in die Unterwelt zu ersparen. Man rechnet mit einem beschrankten Bahnübergang, aber nein. Dabei hätte ich es genossen, morgendlich dort zu stehen, um auf das Emporheben der weißroten Barriere zu warten. Zeit für einen Gedanken, ein Innehalten, nach der hinuntergestürzten Tasse Kaffee.
Wie ein Grenzstreifen trennen die Schienen die beiden Stadtteile voneinander. Hier heimelig, da suburbanes Wohngebiet mit eingegliederter Industriezone. Mein neuer Schreibtisch steht zwischen Fabrikhallen, in einem rot geklinkerten Zweckbau, mit den Nähmaschinen gleich nebenan. Vorbei die Zeiten luxuriöser Innenstadtlage mit Aussicht auf die Silhouette einer großen Stadt. Meine Kollegen sind wahrhaft Menschen. Ich kneife sie in den Arm und spüre einen Widerstand. Echte Menschen mit normalen Problemen, man spricht über Flecken auf hellen Sofas und Probleme der Kinder im Englischunterricht. Mein Chef ist abwesend. Immer, sagt seine Assistentin, die mich mit viel Fürsorge durch die Fabrik, nichts anderes kann ich hier empfinden, führt. Eine Kleinstadtschönheit, vielleicht Ende 40. Nennt mich der Herr Designer. In Pumps und kurzem Faltenrock. Zum Mittag gibt es eine Pommes an der Bude, dann eine Einführung in die Kollektion.
Jetzt also Funktionswäsche, sie stecken mich in ein Büro. Hier sitze ich allein mit meinen kreativen Kräften. Der blaue Kunstfaserteppich saugt sie auf. Wäsche mit Funktion. Eine Sportartikelkollektion. Das Sportlichste, das ich je entworfen habe, war ein Schuh, sportlich geschnitten. Hieß es im Katalog. Ich hatte das nicht beabsichtigt.
Meine Gefühle sind unbeschreiblich. In Verlorenheit mischt sich der Wille zu einem neuen Anfang. In Einsamkeit die geile Hoffnung auf eine neue Liebe. Zu dem Verdruss ist der Himmel grau. Ich zeichne eine Frau und lege ihr ein schwarzes Korsett an. Ich glaube es ist die Assistentin. Das Blatt reiße ich dann entzwei und lasse meinen Kopf in die Hände sinken. Ich blicke auf den Parkplatz. Rote, grüne und blaue Autos. Das stimmt natürlich nicht.
Auf dem Nachhauseweg kommen mir glückliche Menschen entgegen. Oder sie stehen auf an Häuser geklebten Balkons und genießen die plötzlichen Sonnenstahlen nach dem Regen. Ich sage mir, sie kommen aus Mazedonien. Oder Moldawien. Sicherlich kommen sie nicht von hier. Sie leben zu natürlich auf einem Balkon.
Wohnung, Arbeit. Es fehlt mir an nichts.
P.
18. September 2007
Meine Liebe,
neben ausgewählten hochwertigen Materialien legen wir besonderen Wert auf ein funktionelles Design unserer Wäsche. Dies gibt die Assistentin von sich. Der Herr K. habe ihr aufgetragen, mich entsprechend zu informieren. Funktionelles Design wird von mir erwartet. Amüsant. Flachnähte und Polypropylen. Vorbei das feine Tuch, das elegant um die Beine einer Laufstegfrau fächelt. Funktion ist angesagt. Funktionsstoff braucht Hautkontakt, sonst geht gar nichts. Nein, glaube nicht, ich hätte eine Testsportlerin neben mir am Tisch sitzen, die sich Tag ein Tag aus in und aus meiner Funktionswäsche schält. Leben ist so nicht. Nicht hier in meinem roten Klinkerbau.
Ich versuche mich meiner Aufgabe vollends hinzugeben, schwarz ist jetzt meine bevorzugte Farbe, hauteng, wasseranziehende Eigenschaften. Der Wohlfühlbereich. Meine Liebe, wie ist der Komfort in deinem Wohlfühlbereich. Ich stoße auf weitere Hindernisse. Noch nie in meiner kurzen Laufbahn habe ich mich dem männlichen Geschlecht im Intimbereich genähert. Genauer gesagt, habe ich bisher nicht einmal einen Socken für einen Mann entworfen, geschweige denn ein Dings, wo er sein Dings unterbringen kann, und sich dann auch noch wohl fühlt. Ich stoße hier auf innere Widerstände. Ich bin gemacht zu machen für die Frau. Männer stinken. Da helfen auch keine geruchshemmenden Silberionen. Aber ich werde das Ding schon verpacken. Meine Liebe, ich muss es verpacken. Das hier ist meine letzte Chance. Damit komme ich auf deinen Brief. Danke, du lässt mich nicht allein, nicht mit deinen Worten.
Und Recht hast du. Mitleid habe ich nicht verdient. Die Situation, in die ich mich daselbst hineinbegeben habe, ist nur Ergebnis meiner völligen Missachtung von Vernunft und Bescheidenheit. Ich könnte sagen, es kam wie ein wenig erwartetes Gewitter an einem frühen Sommertag über mich. Nur kann ich dich nicht anlügen. Du würdest mir ohnehin nicht glauben.
Die Tränen, die du etwas hochmütig als wehleidiges Krächzen bezeichnest, wurden vergossen in der bittersten Stunde meines Falls. Ja, auf einem der höchsten Punkte von Paris, sieht man einmal von diesem Metallgestell ab, und auch auf einem der höchsten Punkte meiner Karriere. Montmartre, Sacre Coer. Ich weiß, das klingt albern, romantisch. Aber es ergriff mich nun einmal dort oben. Ich marschierte durch die ganze Stadt, rannte fast auf den Berg hinauf, der kristallen strahlenden Kapelle zu, und sank dann zu ihren Stufen über der Stadt zusammen. Jeder Gedanke an diese Stunde bricht mir noch immer mein Herz. Wehleidig. Ja. Abgeschmackt und schnulzig. Doch warum muss das Leben immer nur im Film diese dramatische Unwiderlegbarkeit in sich tragen. Nein, meine Liebe, das Leben spielt so. Dort wo Schönheit und Tragödie aufeinander treffen, ergreift uns Menschen eine wilde Weh. Es reicht ein Funken, um uns zu verzehren. Ein Gedankensplitter. Ich – sie – da – ein Ort – Worte – eine Berührung – ein Blick. Es muss nicht dieser Ort gewesen sein. Paris hat uns nie zusammen geführt. Es ist nur die Gewalttätigkeit dieses Ortes. Das ganze Leben spielte sich dort unter mir ab. Ich konnte auf die Pariser hinab sehen und wusste: nie wieder würde ich zu dieser Lebensseligkeit zurückkehren. Hier war eine Schlussstrich, ein Aus, ein Vorbei, ein Dolch in meiner Brust, der mir die Tränen hinausdrückte. Tränen am Montmartre, meine Liebe, vergossen für einen ewigen Moment.
Jetzt aufgesaugt von Funktionswäsche, gleich abgeführt und das Befinden noch im Komfortbereich. Du sagst, ich hätte Alternativen gehabt. Nein. Die habe ich nicht gehabt. Dieser Job, mit der dazugehörigen fast kostenlosen Existenz, kann mich, wenn auch nicht aus meiner Seelenlosigkeit, so doch zumindest aus meinem finanziellen Desaster erlösen. Ich brauche das Geld. Sonst müsste ich dafür morden. Dabei muss ich noch dankbar sein. Mein Ausblick könnte auch von Stangen unterteilt sein. Klage nicht an mir. Gib mir ein wenig Behutsamkeit. Vielleicht ein Lächeln mit deinen Worten. Lass mich leben. Ich will leben.
P.
19. September 2007
Meine Liebe,
Einsamkeit durchschlägt mich heute wie ein Holzpfahl einen Vampir. Blut spritzt zu allen Seiten, ich tobe und zappele. Zerfalle dann achtlos zu Staub. Sie sprechen nicht mit mir. Und das ist mein Verschulden. Ich gebe nicht den Eindruck eines Anzusprechenden. Und ich bin fremd. Ich kann mich nicht finden. Nach der Arbeit streiche ich durch diese Stadt, vorbei an den wohl mittelalterlichen Häusern, in denen jahrhundertealte Geschichte sich in Stein und Balken manifestiert. Bedenke nur den Sexualverkehr, den diese Deckenbalken tragen mussten. Fromme Sprüche (An Gottes Segen ist alles gelegen, Anno 1706) zieren die Giebel. Bedenke: Siebzehnhundertsechs. Seit 300 Jahren hat dieses Haus wechselnde Geschlechtspartner. Sei es ihm gelegen mit Gottes Segen.
Verglaste Türen sind mit Gardinen verhangen, kein Einblick in das Innenleben. Manche Häuser haben einen Aufzug, der aus dem oberen Giebel kommt und unter sich eine Tür hat. Man könnte dort hinausschreiten und sich gleichsam an den Haken hängen und dort zappelnd über der Straße baumeln, in den letzten Atemzügen. Nein, meine Liebe, verstehe mich nicht falsch, ich trage keinen Gedanken an eine Untat gegen mich, noch gegen andere im Sinn. Nur diese Stadt macht mich zu einem Romantiker. Zu einem elenden Romantiker, verhangen zwischen Melancholie, Historismus und der Enge meiner Existenz.
Mein Weg führt mich um die Sylvesterkirche. Ein Prachtbau in Stein mit einem mächtigen, mit Kupfer beschlagenem Turm. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als wäre das Gotteshaus hier abgestellt und vergessen worden. Einer weiteren Reformation zum Opfer gefallen, nur Grabsteine verkünden Geschichte, die sich hier gottesfürchtig abgespielt haben muss. Tiefgezogene Dächer weisen bis fast auf den Rasen (die Gräber). Ich vermute versteckte Kammern hinter schweren Mauern. Die Tür im Turm ist verschlossen, ich kann keinen Blick hineinwerfen, aber auch das belegt nur die immanente Einsamkeit des alten Gemäuers. Diese Stadt macht mich nur halb anwesend. Die andere Hälfte ist verschlossen hinter meinem Schädel. Zu gerne würde ich auf diesen Turm steigen und auf die Stadt hinab blicken. Dort oben gibt es einen Balkon, von einem weißen Geländer umringt, mit hohen Pfosten, die das barocke Dach tragen.
Stell dir vor, ein Stelldichein dort oben mit der Liebsten. Was für ein Quatsch. Aber eine Besteigung reizt mich ungemein. Es muss einen Küster geben, einen sicherlich alten Herren, mit einem schweren Schlüssel. Dort oben möchte ich im Wind kauern und auf dieses beträchtliche rote Schindeldach hinab blicken.
Meine Einsamkeit wäre vollkommen. Abgehoben von den Bürgern der Stadt. Ich würde auf sie blicken und die Schönste unter ihnen wählen und zu ihr hinabsteigen und mich in einem geheimen Kämmerchen beglücken lassen. Oh, meine Liebe, wohin trägt es mich nur. Ich sollte mich konzentrieren und meiner Funktion gerecht werden. Funktionswäsche. Ein enganliegendes Leibchen mit sportlichem Motiv. Nicht mittelalterlich. Keine Gotik, auch keine frühe, und kein Barock. Nein, funktional. Mit leicht geraffter Brustnaht für die perfekte Passform.
Diese romantische Verklärung beherbergt kein gutes Ende. Ich dachte, ein kleines Städtchen führte mich zurück auf die Pfade der fleißigen Tugend. Der kreativen Besinnlichkeit. Aber mein Alleinsein führt zu gar absonderlichen Zuständen. Ich stehe in der Stadt und blicke in totaler Apathie auf einen bronzenen Türklopfer. Eine Rautenform auf grünes Holz genagelt, mit einem Ring, gehalten von einem Scharnier. Ein Kleinod von rühmlicher Handwerksarbeit. Unebenheiten können so elegant wirken. Es zieht mich so gewaltig diese Klopfer anzufassen und leicht auf den Klotz fallen zu lassen, um diesen Ton zu hören, dieses dumpfe Aussenden von Schallwellen in das Haus hinein. Aber wer öffnet mir? Wen vermutet man hinter diesen Mauern?
Ich wage es nicht und glotze nur auf den Glanz. Ich glotze, bis plötzlich die Tür aufgeht. Ich schwöre, ich fasste es nicht an. Kann ich was für Sie tun? Wie lange stehe ich dort? Wie viele Minuten glotze ich auf den Türklopfer. Ich kann es nicht sagen. Ich glotze jetzt auf die Frau. Ich würde sie Julia nennen. Julia, die Unerwartete, denn ihre Erscheinung passt nun wirklich nicht hinter diese Tür. Vielleicht 30 Jahre, ein dunkelblonder Kopf, mit Pferdeschwanz und Sommersprossen. Mehr weiß ich nicht. Ich passe ihr nur schnell mein Leibchen an und laufe davon. Ich denke, sie schaut mir hinterher, vielleicht schüttelt sie den Kopf, etwas ratlos, wobei ihr blonde Strähnen über die Augen fallen.
Sie interessiert mich nicht. Ihr blick ist kühl und berückend. Der Einsame lässt sie nicht an sich heran.
Der Einsame lässt den Klopfer auf die Tür fallen und rennt davon.
Auf den Stufen hinterlässt er ein Leibchen. Funktional an die Bewohnerin angepasst, sie wird sich darin wohl fühlen.
P.
20. September 2007
Meine Liebe,
du sagst, ein Leibchen sei vielleicht nicht die richtige Hinterlassenschaft. Du magst recht haben. Es war auch mehr vergessen als hinterlassen. Glaubst du, es sei ein Leichtes, den Menschen Kleidungsstücke auf den Leib zu schneidern, funktionale dazu. Ich sage dir, ohne einen begehrlichen Menschen, kann jede Schöpfung nur ein Ding sein. Keine Kunst.
Sie war da. Mit ihrem ganzen Körper. Aus dem Energie hinausstrahlte. Dann ging sie, und mit ihr ging meine Fähigkeit, aus ein klein wenig Talent eine Kreation zu schöpfen. Ich sitze an meinem Tisch, den Zeichenstift in der Hand, den Stoff, dieses Plastik, in der anderen, und versuche, diese beiden Ebenen einander anzunähern. Vergeblich. Ich existiere in diesem Büro, nein, es ist kein Atelier, es ist ein verdammtes Büro mit Drehstuhl und Furnierschreibtisch, und mache nichts. Ich male Playboyhäschen. Mit Stummelschwanz. Häschen mit kleinen und mit großen Brüsten, in Gewändern und mit Stöckelschuhen. Meine Häschen zappeln über den Tisch und vermehren sich. Geschlechtslos. Zellteilung. Was mache ich bloß, wenn jemand hineinkommt. Aber es kommt ja niemand hinein. Sie lassen mich dort sitzen und denken, ich arbeite und entwerfe ihre Funktionswäsche. Allein ich denke nicht an Funktion, denn ich funktioniere nicht mehr. Ein Jahr ist vergangen, ein Neustart sollte möglich sein. Weit gefehlt. Die Tränen kommen mir. Immer mal wieder. Ich stehe am Abgrund meines Lebens.
Wenn nur die Wände um mich herum zusammenbrechen würden, Stahlträger hernieder fallen und Fluten um sich reißen. Ich muss sie aus meinem Kopf bekommen. Ihr dunkles Haar nicht mehr auf meiner Wange spüren. Wenn ich entworfen habe, dann tat ich das für sie. In allen Größen. Jetzt male ich Häschen.
Am Kaffeeautomaten treffe ich eine Mitarbeiterin. Ich sei neu hier, sagt sie. Sie hätte mich schon mit der Assistentin vom Chef gesehen. Dabei lächelt sie schelmisch. Einkauf. Ihrem Fummel nach zu schließen, ist sie diejenige, die den hübschen Funktionsstoff ausgesucht hat. Das ist interessant: der Stoff ist hier vor der Kreation da. Nicht farblich und im Muster, aber in seiner Textur. Wir müssen miteinander reden, denn in Zukunft müssen wir gemeinsam einkaufen gehen. Einkaufen gehen. Schnitzel und Salat oder was? Kurzhaarfrisur, fast schwarz, eng beieinander liegende Augen, die die gleiche Form haben wie ihr Mund. Klein, ein bisschen in den Kopf hineingezogen. Der Fummel kleidet sie nicht. Gar nicht. Da wo sie was hat, macht er mehr, da wo sie nichts hat, weniger. Es sollte umgekehrt sein. Ein Kleid also, bis fast auf die Knöchel. Egal, wir verabreden uns für den Nachmittag. Ich stürze meinen viel zu heißen Kaffee aus dem Plastikbecher in mich hinein und verkrieche mich wieder im Büro, gerade bevor eine Horde Schneiderinnen am Automaten aufkreuzen möchte.
Es ist höchst unangenehm, wie niemand versucht, in diesem Laden Synergien zu nutzen. Die Einkäuferin wird mir nicht vorgestellt. Ich treffe sie an einem Kaffeeautomaten. Kennst du diese französische Serie, die sich komplett vor dem Kaffeeautomaten abspielt? Ein Büro, und alles, was in diesem Büro passiert, wird am Kaffeeautomaten besprochen, durch den man auf die Akteure blickt. Vielleicht unterschätze ich die unternehmerische Bedeutung eines Automaten.
Ich muss mich damit abfinden, hier in einer Bekleidungsfirma und nicht in einem Modehaus zu sein. Hier wird Bekleidung hergestellt, die dem Menschen eine zweite, wärmende und zugleich vor Blicken schützende Haut auferlegt. Der ästhetische Aspekt spielt eine untergeordnete Rolle. Meine Arbeit war bisher aber genau von diesem Aspekt bestimmt. Erinnerst du dich an das Modell Vataux? Es war so unpraktikabel geschnitten, dass die armen Frauen ständig am linken Träger ziehen mussten, damit es ihnen nicht über die Brust rutschte. Und doch war es eines meiner bestverkauften Modelle.
Gegen drei kommt sie in mein Büro. Die Häschen habe ich vom Tisch geräumt. Sie hat sich umgezogen. Jetzt in perfekt sitzender Jeans mit einer lockeren weißen Bluse darüber. Nur ihr Kurzhaarschnitt sieht äffisch aus. Sie entschuldigt sich für ihren Kaffeeautomatenauftritt, das sei ein Materialtest gewesen, den sie da über sich gezogen gehabt hätte. Auf die Schnelle von ihr zurechtgeschneidert, des Hautgefühls wegen. Ich muss mich an dieser Stelle fragen, ob sie nichts darunter trug, aber ich frage nur mich.
Raus hier, sagt sie. Ich bin Anita und du? Ich stelle mich vor, mit einer kleinen Verbeugung, und wir fahren mit ihrem Auto in die Stadt. Ich kann in der Firma nicht reden. Das ist eine Fabrik, kein Büro, sagt sie, aber mit dem unglaublichen Vorteil, dass der Chef nie da ist. Herr K. ist ständig in China, um seine maroden Fabriken in Griff zu bekommen. Seine Assistentin ist hier die Chefin. Hüte dich vor ihr. Sie ist nett und karriereorientiert. Sie kennt ihre Position und so weiter. Sie fährt einen Mini, obwohl sie so groß ist wie ich. Nicht gerade mini. Wir sitzen in der Eisdiele, gleich bei mir um die Ecke. Sie nimmt Spaghettieis. Während des ganzen Gesprächs hängt ihr ein Tropfen von der roten Soße in einem Mundwinkel, der ihren Mund größer, aber auch schief aussehen lässt.
Wir reden über das Geschäft. Und über sie. Sie pflegt ihre Mutter, deswegen arbeitet sie hier, wohnt draußen vor den Toren der Stadt in einem sogenannten Kotten. Ich denke, das ist eine Art umgebaute Scheune. Sie preist eine flache, parkartige Kulturlandschaft. Vielleicht sollte ich mal vor die Tore der Stadt treten. Ich rechne eher mit der Öde einer von Großbauern beackerten Gegend. Ich glaube nicht, dass sie verheiratet ist, wenn, verbirgt sie es vor mir. Dabei spüre ich kein Gefühl der Zuneigung. Wir führen ein Pflichtgespräch. Sie redet, aber ohne Herz. Sie eröffnet mir relativ viel aus ihrem Leben, aber ohne ins Detail zu gehen. Sie redet, aber sie fragt mich nichts. Dann springt sie plötzlich auf, sagt fünf Uhr, Feierabend, ob sie mich irgendwohin bringen solle. Es überrascht sie, dass ich um die Ecke wohne. Sie geht zum Parkplatz, ich schaue ihr nach, süchtig nach einem Menschen.
Der Fernseher läuft, ich esse Bratwurst.
P.
21. September 2007
Meine Liebe!
Eine andere Frau. Ihre Augen sind von einem so klaren Blau. Ein Strahlen geht von ihnen aus, durch mich hindurch, stärker als ein Röntgenstrahl. Ich bin komplett durchleuchtet. Wir sprachen kein Wort, und doch weiß sie alles über mich. Jede Zelle von mir hat es herausgeschrieen: ich will dich.
Ich bin verloren. Meine Befürchtung ist, sie niemals wiederzusehen. Meine einzige Hoffnung: die kleine Stadt. Es war hochpeinlich. Die Deutsche Post. Wie kann man zwei wildfremde Menschen so nah beieinander, so direkt gegenüber setzen? Die sind nicht bei Trost. In diesem Postamt steht ein Tisch mit so einem Schwammpäddchen, das ohnehin immer trocken ist, einem Kugelschreiber, an einer viel zu kurzen Schnur und Formularen. Einschreiben. Päckchen. Paket. Zahlungsanweisung. Männchen Eins auf diese Seite, Männchen Zwei (mit einem Weibchen rechnet niemand) auf die andere Seite des Tischs. Ja sind wir in der Schule hier? Da ist kein Meter zwischen, keine Wand und keine Mauer. Zack, schau mir in die Augen Kleines. Diese Augen.
Sie sitzt da und schreibt eine Adresse auf einen Umschlag. Ich staune nur. Ich glotze nicht, ich staune. Was ist das? Wie kommt sie dahin. Ich saß hier zuerst. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass da jemand kommt. Beachtet sie mich denn nicht. Doch, sie schaut auf, schaut mir für einen Sekundenbruchteil direkt in die Augen, nur auf der Suche nach diesem orangenen Schwämmchen in dem grünen Plastikbottich. Ihr Arm in schwarzem Kunstfellpullover kommt über den Tisch, zwischen zwei Fingern klemmt eine Briefmarke, ich falle fast um, von dem Duft, der mit dem Arm kommt, kann mich gerade noch zurückhalten, ihn nicht zu ergreifen, diese Frau zu mir hinüberzuziehen. Sanft pressen ihre kurzen Finger auf das Schwämmchen, aber da schwemmt sich nichts. Sie merkt das auch. Ist da ein Lächeln. Ein hilfloses vielleicht. In fast schleichender Bewegung (oder sehe ich alles in Zeitlupe) führt sie die Marke an ihren Mund. Ihre große Zunge, ja jetzt starre ich, kommt aus diesem unglaublich, extraorbitant, horizontalen, weiten, offenen, dicklippigen, rot rot roten Mund und leckt genüsslich den klebrigen Stoff auf dieser Wertmarke an, die jetzt einen unglaublichen Wert hat. Baff, da pappt sie das Blättchen auf den Umschlag, haut mit der Faust darauf, streicht mit dem Daumen darüber, blickt für einen Moment von dem Umschlag auf, vorbei an mir, nein ihr Blick bleibt hängen, hängen an meinem Starren, ich blicke viel zu schnell davon, reiße meinen Kopf herum und gebe den Unschuldigen, den Errötenden, den Gestaltlosen, den Fremden. Ja, auch den Verlorenen.
Ich blicke sie nicht wieder an, spüre aber ihren Blick auf mir, vorwurfsvoll vielleicht, verständnislos, gedankenlos. Ich wünschte, es sei ein begehrlicher, oh meine Liebe, wenn es doch nur ein begehrlicher Blick ist, wenigstens erachtend, da sitzt ein Mann, dieser Mann ist dir verfallen, in drei oder vielleicht sieben Sekunden. Dieser Mann bleibt für immer mit dir in Quakenbrück. Oh heiliges Quakenbrück, Stadt der Frösche und Liebenden, Hort romantischer Verbindungen, auf deinen Weiden will ich weilen. Erst als sie aufsteht, drehe ich meinen Kopf gradweise in ihre Richtung und nein, nein, was für ein Fehler. Dieser Hintern, meine Liebe. Meine Liebe, dieser Hintern. Er hat genau das, dieses den Stoff erfüllende, dieses ideale, greifbare, kleinvoluminöse bis zur Naht, aber genau bis dahin und nicht weiter, da spannt nichts, drückt nichts, füllt nicht unnötig aus. Nein, es sitzt. Das Ding zum Sitzen sitzt. Sie trägt eine Jeans. Und Beine hat sie auch, aber ich kann nicht mehr. Auf ihre Schultern legt sich ein blonder Schwall Haare, strahlend, spitz, wippend. Sie flirtet mit dem groben Postbeamten, der auf sie und nicht seine Waage schaut, ich glaube er stempelt, und er hätte alles gestempelt, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen. Klack bums, schöne Frau, ich will mehr für Sie tun, lassen sie mich diesen Gummistempel auf Sie setzen, oh bleiben Sie nur da stehen, rühren sich nicht, ja ganz so ist recht, ich will nur schauen, nur schauen, schauen.
Meine Liebe, ich sitze immer noch auf meiner Bank, vor mir einen geöffneten Brief, um mich die totale Apathie, Magie. Erst als sie durch die vor ihr zurückweichenden Glastüren entweicht, geht ein Atmen durch den Raum, ein Entspannen der Muskeln, eine langsame Wiederaufnahme aller Betätigungen. Der Beamte wiegt und stempelt wieder korrekt, ich kritzele meine Adresse und habe plötzlich das Gefühl, unendlich viel Zeit zu haben. Vielleicht kann ich hier auf sie warten. Vielleicht wird sie jemals wieder etwas abschicken. Wer bist du. Ich will dich. Ich gebe alles für dich, von dem Nichts, das ich habe. Nimm nur und gib mir, gib mir dich für alle Ewigkeit.
Ich bin beglückt. Ich will sie finden. Das ist meine Quakenbrückerin.
P.
22. September 2007
Meine Liebe,
die Euphorie ist der Ermattung gewichen. Ich ging durch die Stadt an diesem Samstagnachmittag. Die Stadt ist leer. Drei Leute sitzen vor der Eisdiele, ein Kind inklusive, drei Hunde und vier Menschen haben es sich auf den Bänken um einen steinernen Brunnen bequem gemacht. Der Brunnen, ein Objekt aus Rind und Frau, die Frau scheint mir das Rind zu reiten, Letzteres an der Marmorhörnern zu erkennen, Erstere an ihren breiten, flachen Brüsten. Vor einer Kneipe, die sie Im Eimer nennen, sehe ich eine Jugendliche mit roten Haaren und zwei alte Männer, an getrennten Tischen. Zwei Familien, die offensichtlich Besuch haben, schlendern durch die Stadt. Diese Stille kannst du dir nicht vorstellen. Nicht die eines Grabes, die hätte etwas Ruhiges, nein, eher die eines Tauchgangs im Sprungbecken. Es ist etwas um dich herum, und du nimmst es nicht wahr. Verschwommen, da sind Menschen und irgendwann werden sie dir auf den Kopf springen.
Ich lerne Einsamkeit, die Verlassenheit eines Menschen. Das ist neu für mich. Samstag, graues Wetter, und niemand. Ich hatte immer eine Frau. Ich hatte gar Freunde. Heute ist Samstag. Ein Ausgehtag, es graut mir, erinnerst du dich an letzte Woche? Ich war allein auf diesem Burgmannsfest, allein. Heute gehe ich nirgends hin. Heute träume ich nur von der Frau von der Post. Normalerweise ist es der Postbote, in meinem Fall ist es die Post. Aber der Vorteil des Postboten ist sein tägliches Erscheinen, was für ein Lover, jeden Morgen steht er vor der Tür, den Brief in der Hand, den Hosenschlitz offen. Aber wie soll ich sie nur wiedersehen? Mich vor die Post stellen. Mich bei der Post bewerben, alle Haushalte der Stadt abschreiten, bis sie mir eines Tages die Tür aufmacht, und ich mich meinem Rausch hingeben kann? Was, wenn sie gar nicht in der Stadt wohnt? Ich bin ihr nicht hinterher gelaufen. Ich hätte sie verfolgen müssen, einem Schatten gleich ihren Weg beschreiten müssen. Doch ich war gelähmt. Ein Schwall von Schönheit hatte mich umhüllt und sich wie eine klebrige Masse um mich gelegt. Vielleicht saß ich noch ewig da, mein Blick auf den Punkt gerichtet, von dem sie sich wegbewegte. Als könnte ich sie damit festhalten.
Seit diesem Augenblick läuft mein Leben in einer dritten Parallele. Zuvor gab es mich hier, eine negative Existenz, und es gab meine Vergangenheit, die in Gedanken real war, mein Sein beherrschte. Alles andere war nur Funktion. In der dritten Parallele herrscht der totale Stillstand. Bis ich sie wiedersehe, lebe ich in einer Warteschleife. Es wird keine Entwicklung geben. Arbeiten, essen und schlafen, und suchen. Eine Minimalexistenz. In der leeren Stadt sitze ich wohl eine Stunde auf einer Bank am Marktplatz gegenüber der Sparkasse. Kalter Wind zieht mir die Beine hoch, obwohl gar kein Wind geht. Von hier habe ich die Banken und die Eisdiele im Blick, wenn ich den Kopf wende auch das Rathaus. Hier sitze ich. Schaue auf jeden Menschen, aber es gibt ja keine Menschen. Sie ist nicht dabei. Es ist meine einzige Chance, hier im Zentrum des Geschehens muss ich auf sie warten. Jeder in dieser Stadt wird hier vorbeikommen. Jeder muss hier vorbeikommen, eines Tages muss auch sie wieder vorbeikommen. Auf dem Weg zur Post. Und wenn die Beamten ihr Briefmarkenschwämmchen nicht mit Wasser aufgefüllt haben, wird sie wieder lustvoll eine Marke lecken. Kuss und Gruß.
P.
23. September 2007
Meine Liebe!
Ja, es herrscht Sonnenschein. Aus einem diffusen Nebel an einem frühen Sonntagmorgen ermächtigt sich ein glühender Ball und steigt über der Stadt in der norddeutschen Tiefebene auf. Ein Strahlen, sage ich dir. Ein Glanz auf allen Dächern. Ein Fest der Solarmodule. Niemand hatte noch an die Wiederkehr sommerlicher Temperaturen geglaubt. Es ist eine Lustbarkeit. War die Stadt gestern leer, bilden sich heute Schlangen vor der Eisdiele. Familien und Autofahrer kreuzen sich auf der kurzen Langen Straße.
Ich sprach gar von einer Lustbarkeit, die Wahrheit aber ist eine andere. Es zieht mich hinaus in die Natur. Ich möchte dem Spätsommer huldigen, den Waldboden unter meinen Füßen spüren, das Geräusch herunterfallender Eicheln hören und die Zugvögel verabschieden. Ich möchte all das. Am Busen der Natur, heißt es. Aber ich habe keinen Busen? Richtig? Gut, die tönernen meiner Vermieterin, aber die haben keine Weiche. Keinen sanften Spätsommerduft. Es ist ein Verzweifeln. Ich möchte Vergnügen für mich hinausschreien, wandle entlang der Hase, diesem Fluss. Ich stecke meine Nase in eine Rosenblüte und werde von Duft überwältigt. Monate, meine Liebe, ist mir dieser Duft verwehrt gewesen, überdeckt vom Teer der Vergangenheit, jetzt sauge ich ihn auf, drücke meine Nase in den Blütenkelch, bis der Stempel mich an der Nasenscheidewand kitzelt. Dann schaue ich mich um, aber da ist niemand, und ein helles Lachen bleibt mir in der Kehle stecken. Die Bäume über mir, mit ihren grüngoldenen Kronen, tragen die Herrlichkeit des Himmels, der dann auf mich herabfällt. Am Busen der Natur hält es sich allein schlecht auf. Wem soll ich meine Überwältigung gestehen? Wem den Spiegelschatten auf der Hase anzeigen, wen hinaufheben auf die Brückenbrüstung, wem einen Kuss aufdrücken.
Natur, meine Liebe, verlangt nach Liebe. Das mag kein Gesetz sein, aber mein Fakt. Wie ein Rausch, den man nicht gern allein erlebt. Das Alleinsein manifestiert sich endgültig in der Natur, der müde Wanderer kehrt um, enttäuscht und verlassen. Ich schließe die Tür auf, in dieser abscheulichen Wohnung bin ich wenigstens sicher. Mein Alleinsein mischt sich hier begnügsam mit der Abscheulichkeit, wir trinken ein Bier zusammen, starren in den Fernseher, und wir schreiben dir. Das gibt der Einsamkeit etwas Harmloses. Da ist ein Mensch, der hört zu, liest, wenn auch gezwungen, und dir kann ich meine Gedanken, die meist Sorgen sind, unverwandt aufdrücken. Ich erwarte nicht einmal eine Reaktion.
Doch du reagierst. Deine letzte Reaktion war außerordentlich (heftig). Ich solle mich meiner selbst finden, bevor ich andere suchen gehe. Plattgewalzt und ermattet sei ich von einem Spross der Schönheit. Ein sklavenästhetisches Verhalten nennst du dies. Ich solle bei ihrem Mund nicht an Blasen, sondern an Zuhören denken. Und nur weil ich von quakenden Fröschen umgeben sei, hieße das noch nicht, dass da auch überall Prinzessinnen herausspringen würden.
Du hast recht, und doch ist dein Denken völlig fehl am Platze. Ich will und kann mich nicht selber finden, will ich mein Leben doch viel lieber den Frauen widmen. Wem nützt auch meine Selbstfindung? Ich arbeite – ich lebe. Anstand. Trage mit meiner Designfunktionswäsche zu den Strömungen der Modekultur bei. Ich schaffe. Ich zahle meine Schulden, verstecke mich nicht vor den Gläubigern und rede lieber nicht viel über meine Vergangenheit. Aber: ich übe auch einen Reuedienst aus. Verabschiedete mich von meiner lustvollen, verkoksten, verliebten und teueren und gutbezahlten Existenz in den Gassen dieser Welt und schmachte auf den Straßen von Quakenbrück. Positives Schmachten. Wenn ich erst die eine Frau liebe, werde ich bald die ganze Stadt lieben.
In ihre Schützenvereine eintreten, ihre Hörner blasen, auf der Volkshochschule Beine, Po, Busen lernen und mich im Stadtmuseum mit der sicherlich großen Vergangenheit der kleinen Stadt bekannt machen. Ich möchte Freunde finden, und ich will diese Frau. Basta. Meine Liebe! Da geht kein Weg dran vorbei, auch deiner nicht. Du willst mich ja nicht. Der Weg ist hier nicht das Ziel. Oh nein, diese Frau gehört in meine Arme, ich will mit ihr an der Hase schlendern und in der Hohen Pforte mein Ja-Wort geben, mit ihr am Sonntag in der Eisdiele sitzen und am Freitag im Kino. Wir werden ein Haus vor den Toren der Stadt bauen und bumsen bis die Kinder kommen. Das ist mein Plan. So wird mein Leben.
Ich stecke sie in meine Funktionswäsche, die angenehm auf der Haut liegen wird, damit kann sie laufen und walken oder Spaßrad fahren. Es kümmert mich nicht. Sie soll nur mein sein. Dieses Blau soll sich in meinem Blau spiegeln. Ihr blondes Haar mir sacht über die Schulter wehen. Wehe dem, der mir das verwehrt.
Meine Liebe. Du magst mich nicht begreifen. Für dich ist eine Frau an meiner Seite ein Unglück, ein von Anbeginn an programmiertes Verderben. Ich darbe, weil sie mich verdorben. Ja. Recht hast du. Aber die Blume des Bösen versprüht den Duft der Verführung. Zu spät, meine Rezeptoren haben gewittert, Instinkt setzt ein, Denken setzt aus, oh verdammt ich will diese Frau.
Aber ich sprach von der Natur und der Einsamkeit. Ich fasste einen Plan. Ich rufe sie an. Notwehr. Du erinnerst dich? Die Lehrerin? Kollegin meiner Vermieterin? Ich wähle jetzt. Anja. Ja, hallo, P. hier. Ich bin der- Ach der Mieter bei- Genau. Ja, das ist ja nett, dass du anrufst. Ja, ich habe nur gerade keine Zeit, ich rufe dich morgen an, okay, tschüss.
Ja, meine Liebe, keine halbe Minute. Vorbei. Da sitze ich allein am Sonntagabend wieder und schaue mir einen bayerischen Tatort an, so ein Schmarrn. Bier ersäuft Einsamkeit.
Hochachtungsvoll
P.
Fortsetzung: http://www.quakenbrueck.blogspot.com
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Zugezogen
Re: Zugezogen
top. mehr muss ich nich sagen.
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