Ich atmete tief durch.
Von irgendwoher wehte eine erfrischende Bö durch diesen Boulevard. Das eine Ende der breiten Straße war durch ein relativ niedriges Gebäude begrenzt, woher der Wind blies, das andere Ende lief in einer langen, schier endlosen Straße aus – so konnte der Wind ungehindert wehen, wie er wollte.
Zum Gebäude hin stieg der breite Weg leicht an, markiert durch ein Reiterdenkmal, dahinter ein nur zweistöckiges, vermutlich klassizistisches Gebäude. Welcher Baustil war dies eigentlich? Wen stellte das Reiterdenkmal dar? Ich hatte noch so viel zu lernen!
Ich genoss es jetzt einfach, irgendwo auf der Welt zu sein, nur nicht zu Hause, sondern in einer Weltmetropole, an einem imposanten, historischen Platz, der mir völlig unbekannt und fremdartig vorkam - fertig!
Angekommen?
Ich fühlte mich angekommen. Endlich, nach all dem Hick-Hack der letzten Jahre, der Unzufriedenheit meinem Dasein, der Erfolglosigkeit in meinem Berufsleben, fühlte ich mich endlich befreit. Endlich war ich an meinem Ziel angekommen. Es fühlte sich befreiend an.
Trotzdem war mir Angst und Bange.
Der Ein-Mann-Tisch, wie ein Barhocker, stand mitten auf dem Trottoir. Zwischen ihm und dem Café schoben sich die endlosen Touristenströme hindurch. Das Bedienen war für die Kellner ein abenteuerliches Unterfangen.
Wenn ich mich auf den Tisch stützte, wackelte er und der Kaffee schwappte lustig und bedrohlich in der Tasse. Die Wände des Tässchen waren hauchdünn geschliffen, mit kleinen, zierlichen Henkeln. Man konnte sie nur mit spitzen Fingern anfassen. Das Porzellan war so zerbrechlich dünn und schien so wertvoll, - außen an am Rand war es von einem gemalten goldenen Ring umrundet - dass ich es an Feiertage und Kindheit erinnerte, in der Mutter sonntags ihre wertvolle Aussteuer mit solch feudal und wertvoll anmutenden Geschirr zum Kaffee und Kuchen aufgetischte.
Dass nun solch wertvolles filigranes Geschirr an einem x-beliebigen Straßencafé ausgegeben wurde, war verwirrend. Sprach man nicht mit wirtschaftlichen Parametern von hierzulande einem Entwicklungsland und dort, wo ich herkam, von einem reichen westlichen Land? Das war so etwas von verwirrend!
Es klang wie eine Lüge.
Denn dort, wo ich herkam, da trank man aus klobigen Humpen Kaffee, so als ob man Bier tränke. So als ob man nur den Durst stillte, aber nicht das Getränk genoss.
Auch die kleinen Torten hier unterschieden sich visuell und geschmacklich. Bekömmlicher. Hm? Jedenfalls gehaltvoller.
Ich genoss sie, trank dazu einen Kaffee, an dem ich fast wie ein Vogel nippte, um die fragile Tasse nicht zu brechen, wie gewohnt streng dabei auf die richtige Reihenfolge achtend, erst essen, dann trinken. Die Torte und die Flüssigkeit nicht abwechselnd in den Mund zu führen, würde der Verdauung guttun.
Plötzlich brach ich diese Haltung: ich aß und trank genüsslich mal dies, mal das.
Aber das war nur ein Regelverstoß, einer der geringsten.
Dass du hier standest, war das Ergebnis vieler solcher Brüche. Du hattest alle Sicherheit über Bord geworfen. Deine erste Ausbildung war schon ein Irrweg gewesen, die zweite hattest du verpatzt, wenn auch bewusst, aber für deine Mutter ein Disaster, die auf diese Beamtenstelle all ihre Hoffnung und Geld gesetzt hatte. Eines ihrer Kinder sollte ein gestandener Beamter werden. Du aber hattest sie schwer enttäuscht.
Egal!
Wirklich?
Ich wusste nicht, was ich wollte, was ich werden mochte, welche Rolle ich in der Gesellschaft spielen sollte.
Es war nun nicht so, dass ich allem negativ gegenüber stand, wusste nur eins, dass ich die Welt kennenlernen wollte, in diese eintauchen bis zum Grund, wie der Mann aus dem Märchen, der das Fürchten lernen wollte, weil er vor nichts Angst hatte.
Gut, ich war im Grunde ein guter Mensch und Bürger, der sich bemühte, die Erwartungen zu erfüllen, die an ihn gestellt wurden und das hatte ich ja auch getan, indem ich (fast) alle Ausbildungen abgeschlossen hatte. Es bestand stets das Problem darin, dass ich mich schwer tat, die in der Theorie an mich gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Nein, das war es nicht genau. Ich empfand im Berufsalltag, obwohl er vielleicht wirklich herausfordernd war, bald Langeweile und Unterforderung.
Mein Widerwillen gegen die Gleichförmigkeit des Alltags war so stark, dass ich eben jetzt hier stand.
Es war verrückt, es fühlte sich verrückt an: Ich stand da ohne Orientierung, ohne Bezug zu Freunden und Bekannte, 500 Kilometer von zu Hause entfernt und tat im Grunde das, was ich schon immer getan hatte: Sprachen unterrichten. Nichts hatte sich grundlegend geändert, außer dass ich endlich woanders war, weit weg von dem Ort, den jeder einmal in seinem Leben zugewiesen bekommt, an dem ich mich aber völlig fremd fühlte.
Das war irre!
"Geh jetzt!", sagte eine innere Stimme zu mir. Aber ich konnte keinen Schritt vor den anderen setzen - noch nicht, Etwas hielt mich davon ab. Viel zu viele Gedanken gingen durch meinen Kopf. Ich ertappte mich dabei, wie ich mit den Füßen auf dem Boden scharrte.
Dieser Boden war blutgetränkt und es schauderte mich, denn hier hatte sich einst ein Student, ein junger Mensch namens Jan Palach, aus Wut über die Feigheit seiner Mitmenschen selbst verbrannt.
Und du bist zu feige, zu dir selbst zu stehen!
Obwohl ich mich zum Glück nicht selbst verbrennen brauchte, ich konnte irgendwo in der Welt herumlaufen, mich verlaufen, verirren, verzetteln, was auch immer. Ich war frei! Und das war etwas, etwas was Jan Palach nicht hatte! Was er gern gehabt hätte!
Was schaust du so finster drein, du dummer Mensch? Wie dumm, wegen deiner Freiheit Unbehagen, Angst und Schwindel zu empfinden.
Ich machte mich auf den Weg.
Letztes Wochenende besuchten mich ein Kollege und meine Freundin hier, wahrscheinlich zum letzten Mal. Während sich meine ehemalige Verlobte den Freuden des Konsums hingab, ging ich mit meinem Freund auf den Berg hoch, auf dem diese seltsame Burg stand. Es wirkte eher wie ein Schloss. Allein der Name klang sehr fremdartig.
"Willst du wirklich wieder eine völlig fremde Sprache lernen? Was für ein Stress! Überleg doch mal!“ Dabei zeigte er vom höchsten Punkt der orientalisch anmutenden Burg hinunter auf die Altstadt von Prag, durch diese sich die braune, flache Moldau behäbig schlängelte.
„Wir haben in unserem Leben sehr viel lernen müssen. Jetzt ist es an der Zeit, die Ernte einzufahren, verflixt und das Leben zu genießen, materiell. Du weißt, was ich meine."
Natürlich wusste ich, was er meinte. Ich schwieg. Ich konnte nichts sagen.
Er sah mich an. Seine Augenbrauen hoben sich herausfordernd und eindringlich.
Das Ganze erinnerte mich ein wenig an eine Stelle in der Bibel. Jesus und Satan auf einem Berg. Vor ihnen eine weite fruchtbare Ebene. „Wenn du mir folgst, wird alles, was du siehst, dir gehören!“ Jesus brauchte also nur zu widerrufen und seinen Glauben abzuschwören - dann würde er unendlich reich sein.
Wahrscheinlich hatte mein Freund in meinen Augen gelesen, was ich gerade dachte und was in mir vorging. Er verlor die Geduld mit mir, schüttelte stumm den Kopf und murmelte: „Na gut! Du wirst sehen, wie weit du kommst.“
Wir trafen meine Freundin und sie sah mich stumm an. Wir wussten, das wir uns nie wieder sehen würden. Aber sie warf mir noch meinen Leichtsinn vor, voller Verachtung goss sie ätzenden Worte über mich aus; Wie ich meine feste Anstellung beim Staat und die damit verbundene Sicherheit in den Wind schlagen könne. Die kurze Zeit, die uns noch bis zu unserem Abschied blieb, schüttelte sie immer wieder den Kopf, als hätte sie schon Parkinson, die Krankheit, an der sie viel später erkranken sollte.
Das Sahnehäubchen ihrer Verbitterung war die Bemerkung: „Hier wird mir zu wenig Deutsch gesprochen!“
Die sollen mir alle den Buckel runterrutschen!
In einem Café in den luftigen Straßen der Stadt.
Neben mir hörte ich einen Älteren zu einem Jüngeren sagen: „Ich bin Deutscher. Ich bin hier geboren worden. Ich bin von hier vertrieben worden, als ich jung war. Aber ich habe nichts, nichts. Warum darf ich nicht dort leben, wo ich will, zum Beispiel hier in meiner Geburtsstadt?“
Ja, er hatte so recht: Warum muss man für die Fehler anderer büßen?
Auch dieser junge Tscheche, der sich dort, wo ich auch jetzt von meinen Rattanstühlen aus hinschauen konnte, das Leben nahm, hat für andere bezahlt.
Sich selbst zu verbrennen, sagt man, muss sehr, sehr schmerzhaft sein. Das weiß man, bevor man es sich antut. Warum hat dieser Mensch sich dies angetan? Woher wusste er, dass es so schmerzhaft ist, dieses Gefühl ertragen zu müssen, in Unfreiheit zu leben, in diesem Eis der Unfreiheit eingefroren zu sein – nicht leben zu können, weil man sich nicht frei fühlen kann.
Ich jedenfalls hatte die Möglichkeit, frei zu leben. Ich konnte überall in der Welt arbeiten. Ich hatte Aufenthalts-, Berufsausübungs- und Arbeitspapiere für dieses Land hier, auf dem ich mir die Füße vertrat. Ich konnte mir einen Ort auf der Welt aussuchen, wo es mir gefiel, nicht wo es anderen beliebte, mich hinzustellen.
Nun machte ich mich auf den Weg, setzte zögernd einen Fuß vor den anderen, als ginge ich über dünnes Eis. Die Sonne schien grell und ließ die Oberfläche wie Eis glitzern. Ich fürchtete, jeden Moment auszurutschen. Wie ein Kleinkind setzte ich einem Fuß vor den anderen.
Mein Blick fiel wieder auf diese seltsame, bizarre Burg.
Wie schwer fiel es mir, den Namen auszusprechen. Dieser Name „Hradschin“ passte zu seiner surrealen Erscheinung. So kafkaesk diese Burg, so verwinkelt sollte mein weiterer Lebensweg werden; so fremd dieser Name, so viel Kopfzerbrechen sollte mir die neue Sprache bereiten.
Ich lief auf das Schloss geradewegs zu, wie ich immer auf Schwierigkeiten zuging, die sich mir in den Weg stellten.
Eine uralte Brücke, auf deren Balustraden graue Kalksteinstatuen von Heiligen standen. Andächtig blickte ich zu einem auf, der mich ungläubig anzustarren schien.
Ich schaute mich fremd an.
Ich blickte auf seinen Mund, der immerhin zu einem leichten Lächeln verzogen war und der sich bewegte: "Freund, dein Weg wird dir schon nicht den Tod kosten!“ und ein Lachen erfolgte, in das die anderen steinernen Heiligen laut einstimmten und dazu murmelten: „Denk doch daran, was wir erdulden und erleiden mussten!“
Als ich ihr Schicksal mit dem meinen verglich, das mich gewiss keinen Kopf kürzer machen würde, stimmte auch ich in das Gelächter ein. Zum Glück fiel es nicht weiter auf, denn hier wimmelte es nur so von Menschen.
Trotzdem dieser Geselle hatte einen Vorteil, den er in seiner Hand hielt. Ein Kruzifix. Der Schmerzensmann war deutlich erkennbar.
Mir würde von keinem Mann geholfen werden, das stand fest. Mein Kreuz würde halt mein Weg sein.
So wandte ich mich ab und ließ mich willenlos von diesem unaufhörlichen Menschenstrom aufsaugen und forttreiben.
In den engen Gassen kam mir ein langer, dürrer, aufgeschossener Kerl entgegen, lächelte mich an, als ob wir bekannt wären und ging doch stumm weiter. Ha, lieber Franz Kafka, dachte ich, für nichts und wieder nichts brauchte ich keine Schuldgefühle zu haben.
Von allen Seiten drangen Stimmen auf mich ein, deren Sprache ich nicht verstand.
Ein wenig Angst und Bange hatte ich doch vor solchen fremden Hindernissen. Aber was soll's, wahrscheinlich hatte ich mit noch größeren Schwierigkeiten zu kämpfen als bloß mit einer fremden Sprache.
Auf dem höchsten Punkt dieser seltsamen Burg angekommen, suchte ich ein wenig schwindelig vor Höhenangst Halt an einer Zinne, von der aus ich die Stadt überblicken konnte. In den engen Gassen und sternförmig angelegten Straßen wimmelte es von unzähligen Menschen wie in einem Ameisenhaufen. In diesem Gewirr sah ich mich selbst als eines von unzähligen Tieren, die hin und her wuselten. Wieder wurde mir schwindelig, als ich über mein Leben nachdenken musste und musste. Aber ich wusste nur: Das bist du. Du hast es so gewollt! Du hast deine Mitstudenten enttäuscht, deine Familie verraten, deine Freundin vor den Kopf gestoßen, alles getan, um irgendwo am Rande eines Abgrundes zu stehen.
Und jetzt stehst du genau davor!
Ha, aber du bist doch nur eine von tausenden Ameisen da unten, nur eine und du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Das ist die Angst nicht wert!
Aber das sagt sich so leicht!
Schnell weg mit der Angst!
Sieh sie dir an, diese Stadt, diese Ansammlung von Menschen. Zu Tausenden kommen sie hierher, um ein paar lausige Tage zu genießen, ha, und du hast Monate, vielleicht Jahre Zeit, dieses Geschenk der Menschheit auf deinen Geist, deine Seele und Einbildung wirken zu lassen.
Ich wollte es tun.
Mir kam ein verrückter Gedanke. Ich wollte mir Blumen schenken. Einen kleinen Strauß nur, den ich zu Hause in meine mit vielen Gravuren durchsichtige Glasvase stellen wollte (das Einzige, was ich von zu Hause mitgebracht hatte). Solange er lebte, der Strauß, würde ich mich ihm erfreuen. Das würde Tage dauern.
Ein seltsamer Wunsch. Wirst du langsam wunderlich? Vielleicht ist etwas dran an dem, was andere über meine Sehnsucht nach Freiheit denken mögen dass es seltsam ist?
Aber die Blumen waren kein Beweis. Das wusste ich gewisse. In der Stadt, in dieser alten Stadt wie in jeder städtischen Umgebung fehlte es an Natur, an Blumen, an Grün aller Art. Meine Sehnsucht nach Grünem, Buntem, Lebendigem entsprang nur dem Mangel hier um mich herum.
Das war nur natürlich!
Es war das, was mir am schwersten auf dem Herzen lag, was ich zu Hause zurücklassen musste: die Natur.
Also schenkte ich mir einen Blumenstrauß. Ich freute mich darüber in diesen fremden Mauern, in dieser dunklen, etwas muffigen Einzimmer-Wohnung einer kleinen Seitenstraße dieser riesigen Hauptstadt eines fremden Landes.
Ich lächelte in einem fort über diese Blumen vor mir, die in einer kunstvoll geschliffenen Vase standen. Ich hatte kein schlechtes Gewissen. Daran dachte ich mit keiner Spur mehr.
Ich freute mich auf das Leben.
Freiheit, ich bereue nichts! - Erzählung
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