Bei der Teamsitzung des Kommissariats III mit dem Top-Thema, Freitod oder Mord der Toten. An einem Ende des eierförmigen Tisches saß ein Mann, neben dem ein Projektor stand, hinter welchem wiederum eine große weiße Fläche prangte, die Projektionsfläche. Hier thronte der Leiter der Kommission, Hauptkommissar Strobl, vor dem auch eine Flasche stand, aus der er einen tiefen, sehr tiefen Schluck machte und schließlich beinahe krachend absetzte, so dass aus der Flasche Flüssigkeit spritzte. Das war nicht weiter schlimm, nur Aqua Mineralis.
Er hatte es nötig.
Die Sitzung war noch nicht einmal formal eröffnet worden, wozu es gewiss auch nicht mehr kommen würde. Denn längst schon tobte eine derartig heftiger Streit unter den Gemütern der hochkarätigen Ermittler, das jeglicher Versuch des Dazwischentretens gescheitert war: „Zur Sache Leute!“ oder „Hat einer einen Vorschlag?“ oder „Wie können wir verfahren!“ Alles war bislang erfolglos geblieben: Setzte einer damit an, darauf einzugehen, fiel ihm gleich der Nächste ins Wort. Strobl sah keinen Ansatzpunkt einzuhaken.
Obwohl der Raum also mit einem top-funktionierenden Ventilator ausgestattet war, herrschten hier die wildesten Turbulenzen vor. Die im Raum versammelten 15 Profis lagen sich derart in den Haaren, dass, wenn man einen Geigenzähler gehabt hätte, der die Interferenzen hier zum Tönen hätten bringen können, es einen ganz schön schrillen Klangsalat gegeben hätte.
Dumm, nun hatte sich der Chef nahezu heißer geschrien und eine trockene Kehle.
Zum Glück gab’s aber Mineralwasser.
So verfolgte er hilflos das Gezänk zweier Parteien, die sich in heftigsten Streit zerfleischten, diejenigen, die für Freitod eintraten und die, die von Mord ausgingen, indem er nichts anderes tun konnte, als an seinem Mineralwasser-Glas hin und wieder seine vertrocknete Kehle zu schmieren wie ein stotternder Motor mit Öl .
Einer verstieg sich zur folgenden Auffassung: wahrscheinlich habe sie in einem Anfall von scharfem, klaren Bewusstsein erkannt, welchen Unzulänglichkeiten sie aufgesessen wäre und wie viel Feinde sie sich mittlerweile geschaffen hätte und ihr Heil im Suizid gesucht. Das war ein noch junger, unerfahrener Ermittler.
„Aber dagegen spricht doch das zerfetzte Kleid, die Kratzspuren in Gesicht, ja am ganzen Körper und am Boden herumliegende Manuskripte, Anzeichen für einen Kampf!“, widersprach ein erfahrener Kriminaler gelassen.
Meier lachte auf: „Überhaupt nicht! Pure Verzweiflung spricht daraus. Beim Durchlesen ihrer Manuskripte ist ihr endlich ein Kronleuchter aufgegangen, welchen Mist sie schreibt. Wutschäumend hat sie sämtliche Blätter vom Tisch gefegt, die Haare gerauft, die Kleider vom Leib gerissen und sich schließlich selbst Schmerzen zugefügt, weil sie ihrer inneren Zerrissenheit nicht mehr Herr werden konnte.“
Der diese Aussage machte. unterstrich dies mit derartig starken schauspielerischen Gesten, die wir hier unterlassen, wiederzugeben, da sie jegliches sprachliche Ausdrucksvermögen übersteigen.
Der Jüngere rümpfte darüber die Nase. „Na, ich weiß nicht!“ Scheinbar klang, sah und mutete es ihm zu theatralisch an, was er da von seinem Kollegen geboten bekommen hatte und hatte schnell wieder seine Meinung revidiert.
Die Stirne runzelte sich beim Kommissar. Da hatten wir es wieder, wie auch sonst, so scharten sich die Parteien um die immer gleichen Mitglieder, die von ihren persönlichen Vor- und Nachlieben, nicht aber von ihrem Verstand geleitet wurden. Das sprach nicht gerade für eine vernünftige Herangehensweise.
Er nahm einen tiefen Schluck vom Mineralwasser.
Aber naja, was war schon vernünftig?
Als er das Glas absetzte und sich das sprudelnde Etwas im Glas beäugte, hellten sich seine Gedanken auf und er schmunzelte: „Höchstens dieser Nektar hier!“
Sofort trübten sich wieder seine Augen.
Richtig besehen stimmte das wiederum auch nicht, dass sich seine Mitarbeiter nach Sympathie und Antipathie gruppierten. Im Gegenteil. Hier Müller und Frau Miller zum Beispiel. Beide standen sich spinnefeind wie zwei Pole gegenüber. Nun, beide waren mit einem anderen verheiratet, doch das hinderte sie nicht daran, miteinander fremdzugehen.
Soweit konnte er der Psyche des Menschen noch folgen.
Aber dass sie permanent gegenteilige Positionen einnahmen, ging über seinen Horizont. Vielleicht war das auch ein Ausgleich für ihr amoralisches Verhalten, vielleicht hassten sie sich insgeheim deshalb, weil sie ein ungesetzliches Verhältnis hatten? Vielleicht schob deshalb der eine dem anderen uneingestandenermaßen dafür die Schuld in die Schuhe? Vielleicht war dieses Konträrsein also ein Filter, ein Ausgleich für die moralische Verfehlung oder eben für die unbeherrschte Zuwendung?
Der Kommissar stand vor einem Rätsel diesbezüglich.
Aber das war nicht wichtig für ihn als Kommissar. Die innere Psyche interessierte ihn überhaupt nicht, sondern nur was herauskam. Und dafür hatte er ein besonderes Gespür. Die Fähigkeit, ein gutes psychologisches Verständnis aufzubringen, stand im Schatten dieser einen anderen Gabe: scharfe Logik, einen Riecher für böses Verhalten, insbesondere dafür, wann die Suppe am Anbrennen war oder der Brei am Überlaufen, um noch rechtzeitig in die Speichen des unheilvollen Geschehens greifen zu können.
Unglaublicherweise das Unheil vorauszusehen, das war’s, was zählte. Warum und weshalb, war ihm herzlich egal.
Er nahm wieder einen Schluck.
Als er absetzte, fiel sein Blick auf Westernhaben. Einer seiner besten Mitarbeiter. Aber mehr als voller Widersprüche. Er dachte an dessen arme Frau, von der er sich getrennt hatte, nachdem sie aufgrund eines von ihm verursachten Autounfalls querschnittsgelähmt wurde. Er könne einfach nicht mehr den Anblick einer Behinderten ertragen, war seine ehrliche und offene Antwort auf die Ehescheidung.
Konnte man es ihm übelnehmen? Griff hier noch der Begriff Schuldfrage?
Oder warum, weshalb?
Wozu sollten da irgendwelche Erklärungen führen? Zu nichts!
Der Mensch ist, was er ist, resümierte der Kommissar kurz und nahm noch einmal einen Schluck.
Aber jetzt musste etwas geschehen. Er hatte endlich einmal so etwas wie ein Lebenszeichen zu geben. Dem endlosen Gezetere, Hin- und Hergerede musste ein Ende gesetzt werden.
Aber betrachtete man das Verhalten des Menschen genauer, - schon wieder grübelte er darüber nach - dann steckte darin nicht die Spur von Logik, Sinn und gesunder Menschenverstand. Andererseits war darin auch ein Wunder versteckt, welches eine Faszination an den Betrachter ausstrahlte, wie er einer war, dessen er sich nicht entziehen konnte. Und gerade mit diesen Unlogiken, diesen widersprüchlichen Wahlverwandtschaften in menschlichen Beziehungen spielte er nur zu gerne. Wie bei einem Würfelspiel. Bunt zusammengewürfelt ohne Sinn und Zweck, jedes Auge ein Mensch und dann mal sehen. Plötzlich ergaben sich in der Tat aus diesen kuriosen Kombinationen die Lösungen für manch einen undurchschaubaren Fall, den er bereits auf diese Weise gelöst hatte.
Befriedigt nahm er wieder einen Schluck.
Er als Leiter erkannte zwar keinen Punkt, an dem er hätte galant einhaken können, aber es musste sein: „Könnte natürlich sein, was Kollege Müller behauptet, genauso Kollege Meier... Auf jeden Fall müssen wir in alle Richtungen recherchieren.“
Damit positionierte er sich als neutrale Schiedsrichter zwischen den zwei Parteien.
„Auf jeden Fall müssen wir in alle Richtungen recherchieren“ – klang das nicht nichtssagender als nichts? Jedenfalls brachte dieser Satz die Mitarbeiter tatsächlich zum Schweigen. Wahrscheinlich rätselten sie darüber, was das nun eigentlich bedeutete, vielmehr, war daran nichts zu deuteln, was aber noch verwirrender erschien. Man konnte damit nichts Genaues anfangen, was Stille unter sie hervorrief.
Der Kommissar war’s zunächst zufrieden, er hatte sein Ziel erreicht, dass nunmehr Ruhe herrschte.
Aber irgendetwas stimmte trotzdem nicht, das merkte er selbst.
Aha, dann musste das an seiner Äußerung gelegen haben. Außerdem, er war ja nicht dumm, spürte er es auch an dem Verhalten seiner Mitarbeiter vor sich.
Müller fixierte verlegen seinen Spitzen-Kugelschreiber, den er einem BDN-Agenten bei einer gemeinsamen Aktion abgeluchst hatte, was jedermann wusste und dessen er sich vor allen brüstete: wer schon konnte einem Top-Agenten und Elite-Polizisten die Schäfchen vor der Nase wegstibitzen?
Frau Miller krixelte nunmehr in Gedanken vertieft sichtlich heftiger auf ihren Notizblock herum, was sie ohnehin stets tat und wie meist waren es männliche Objekte der Begierde: Phallusse über Phallusse. Jeder wusste das, jeder amüsierte sich darüber gerne und jeder bestaunte allzu gerne am Ende solch einer Sitzung deren monströse Kunstwerke. Und die Künstlerin selbst hatte nicht nur nichts dagegen oder versuchte, diese zu verbergen, sondern empfing die Aufmerksamkeit mit Stolz. .
Ein Kollege steckte seine Hände in die Hosentasche und zog etwas heraus. Er öffnete daraufhin ein Gerät, Handy oder so genannt, las einen Moment etwas und schlug seinem Nachbar mit dem Ellenbogen lachend in die Seiten. Gemeinsam lasen sie dann die Nachricht. Er hatte gerade eine Antwort auf ein Inserat erhalten, das er im Internet aufgegeben hatte - soweit wusste der Kommissar Bescheid über seine Kollegen, was sie trieben in ihrer Freizeit.
Während die beiden diese lasen, spiegelte sich der Inhalt des Gelesenen durch das langsame Entstehen eines süßen Lächelns in ihren Gesichtern wider. Schon bogen sie sich schier über den Tisch vor Amüsement.
Schade, dass er nicht auch mitlesen konnte, dachte er. Trotzdem, das Verhalten ging doch etwas zu weit, auch wenn er sich zu gerne daran beteiligt hätte.
Die meisten aber schauten so unbestimmt nach draußen, als befände sich dort etwas Besseres oder als könnte man dort im Unbestimmten des Sinns der Aussage des Kommissars fündig werden.
Aber na gut, der Kommissar berichtete sich schnell: „Halt! Das kommt später. Erst einmal eine unserer Theorien bestätigen! Dadurch, dass die andere widerlegt werden muss“, gab er dialektisch zu bedenken. „Sonst geraten die Untersuchungen ins Uferlose.“
Alle nickten erneut im Rund, die wussten, wovon der Chef sprach oder auch nicht. Aber immer Kopf hoch!
Er selber hatte keinen Plan, wie man schon gemerkt hat. Aber das war zu diesem Zeitpunkt noch unerheblich. Hier war Strategiebesprechung Headline. Da galt jetzt, anzuwenden, was er an der Universität gelernt hatte. Seit einiger Zeit nämlich, muss man wissen, besuchte der Kommissar ein Seminar an einem berühmten Lehrstuhl für Kriminologie. In den Augen seiner Mitarbeiter, die eigentlich große Stücke von ihm hielten, sank jedoch seitdem sein Ansehen. Er galt mittlerweile als schwierig und unverständlich.
Der Tod der Kritikerin - Menschlich 1. Teil
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