Labyrinth

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Arvid Schwarz
Kerberos
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Registriert: 19.10.2010, 16:26

Labyrinth

Beitragvon Arvid Schwarz » 19.10.2010, 16:30

Labyrinth

Die Endlosigkeit treibt mich bis zur äußersten Erschöpfung und noch weiter. So weit, dass ich oft glaube, mich zu verlieren, im Verstand, der mich gefangen hält. Es gibt Tage (Sonnenauf- und Untergänge habe ich hier unten nicht und ich messe sie nur am Schlafverhalten, der mir meist Unbekannten, die hier umherirren), an denen ich glaube, nur ein Zwinkern davon entfernt zu sein, meine Augen zu öffnen, vom Krankenbett aufstehen zu können und meine Sophie wieder in die Arme zu schließen. Es gibt aber auch Tage, an denen ich all das was einst war, bevor ich ins Koma fiel - meine liebe Frau, Dinge wie mein Haus, mein Elternhaus, meinen alten Hund aus Kindertagen, mein Leben - in Frage stelle und manchmal, dann, wenn der Wahn tiefer in meine Welt eindringt und Besitz ergreift von meiner Wahrnehmung und meine Erinnerungen infiziert, wie ein Virus gesunde Zellen befällt, bin ich nicht sicher, ob vielleicht hier mein tatsächliches Leben statt findet und schon immer statt fand. Vielleicht war alles nur ein Traum. Sophie und das Leben das ich mit ihr führte. Vielleicht ist das hier die Realität. Diese feuchte Luft, diese ewige Dunkelheit und diese Sinnlosigkeit die mich begleitet wie ein Schatten. Ein Gedanke kann hier soviel klarer sein und doch ist er oft so schnell verflogen, macht Platz für neue, die an seiner Stelle ausarten, so dass ich mich oft nicht mehr daran erinnere, was mich eben noch beschäftigte. Und diese konfusen Situationen von denen ich oft, - dass heisst, so gut wie immer - nicht einmal sagen kann, wie sie begannen. Orte, Personen, Zeiten, das Wetter und manchmal auch ich selbst, alles ist hier unten ständiger Veränderung unterworfen und alles was ich weiß ist, das ich unmöglich wissen kann, was als nächstes passieren wird. Wenn das hier - und daran will ich glauben, an Tagen wie diesem - ein Konstrukt meines Geistes ist, kann ich nun erahnen wie unfassbar der menschliche Verstand in Wirklichkeit ist, ja wie wenig von dem was wir aufnehmen bewusst verarbeitet wird und hier unten bin ich meinem Unterbewusstsein ununterbrochen ausgeliefert. Die Zeit scheint hier unten nicht von Bedeutung zu sein, denn manchmal fällt der Regen wie in Zeitlupe, so wie dicke Schneeflocken, manchmal fallen die Tropfen so schnell wie dichte, schwere Hagelkörner und manchmal, manchmal hält er an und die Tröpfchen hängen in der Luft wie schwerelos. Die Anderen hier unten, die Konstrukte meines Kopfes, sprechen oft mit mir. Oft sind es wirre Dinge, manchmal sind es schöne Dinge und hin und wieder sind es beängstigende, grauenvolle Dinge die sie, diese Geister meines Hirns, mir weismachen wollen. Oft glaube ich ihnen, oft fürchte ich mich vor ihnen und vor den Lügen, denn oft kann ich nicht entscheiden was Lüge und was wahr ist, denn an Tagen wie dem heutigen, an denen ich klarer denken kann, weiss ich, dass ich hier unten ganz bestimmt alleine bin und wer soll mich korrigieren wenn ich Lügen glauben schenke?

An manchen Tagen kann ich hören wie Sophie mit mir spricht. Ich weiss nicht ob sie die Einzige ist, die mich besuchen kommt, jedenfalls ist sie die Einzige die ich hören kann. Seitdem ich hier unten bin, ist sie, ist ihre Stimme, mein einziger Halt, meine einzige Verbindung zu dem was war. Sie sagt oft, dass sie nicht weiss ob ich sie hören kann, aber das ich, ganz gleich was passiert, niemals vergessen darf, wie sehr sie mich liebt und braucht. Sie erzählt mir Vieles von Zuhause. Die lästigen Obermieter machen ihr zu schaffen und Mathias, unser Sohn, kommt viel zu selten zu Besuch. Ich habe das Gefühl meine Frau im Stich zu lassen. Ich habe das Gefühl meine Frau sterben zu lassen und ich kann ihr nicht helfen, nicht einmal antworten. Was gäbe ich nur dafür, einmal sagen zu können:"Ich dich auch meine kleine Sophie, Liebe meines Lebens", wenn sie mir wieder einmal sagt, dass sie mich liebt. Doch ich bin unfähig. Bin gefangen in diesem Labyrinth aus Erinnerungen, wiedergegebenen und teils abstrakt vermischten Eindrücken meines Lebens. Sophie weint oft, wenn sie mit mir spricht. Erst heute war es, als sie mir sagte, dass wir in wenigen Wochen goldene Hochzeit feiern und ich zu ihr zurück kommen soll. Es zerreisst mir das Herz und ich hätte gerne so laut geschrien wie ich konnte, dass ich sie höre und mich auf den Weg zu ihr nach oben machen werde, aber die Wahrheit ist, dass ich mich fürchte und ich mich nicht lange genug konzentrieren könnte um einen - vorausgesetzt er existiert - Ausweg zu finden. Still und leise saß ich also in der feuchten Ecke und hörte meiner Sophie zu. Ich rede mir ein, durch unauffälliges Verhalten kein Aufsehen zu erregen und die unangenehmen Leute so nicht anzulocken und dass es zeitweise zu funktionieren scheint, werte ich als kleinen Fortschritt und vielleicht kann ich es irgendwann schaffen meinen innersten Geist, mein Unterbewusstsein wieder zu verlassen. Vielleicht! - Ich muss hier raus finden.

Ich bin ewig schlaflos. Die Erde bebt und egal wo ich bin, unter freiem Himmel, oder in der Scheune meines Nachbarn, es regnet mir auf das dünne, graue Haar. Ich stehe auf einer Wiese. Mein Vater lässt einen Drachen steigen. Er will, das ich ihn auch mal halte. Die Schnur ist gespannt. So sehr, dass sie schließlich reist. Der Drache verschwindet in den stillen Wolken, es weht kein Wind und erst jetzt wird mir bewusst, dass es Nacht ist. Mein Vater wendet sich ab und verlässt mich ohne lebe wohl zu sagen. Vielleicht geht er zu Mutter. Ich sehe das Dorf aus meiner Kindheit, aber es stehen dort bestimmte Bauten meiner momentanen Heimatstadt, die über die kleinen, krummen Häuschen hinausragen. Der Dom und das große Rathaus. Trotzdem steht die Dorfkirche noch immer. Ich laufe den alten Fluss entlang bis zum Dorf und folge einem schmalen, steinigen Weg, der vorbei an meiner alten Schule führt, bis zu meinem Elternhaus. Unterwegs sehe ich meine Jungendfreunde mit denen aus Kindertagen, jenen die ich im Alter nicht einmal mehr gegrüßt hatte, spielen. Keiner von ihnen beachtet mich. Sie bauen Sandburgen, doch wie es scheint, werden sie nie fertig werden, denn einige von ihnen bewegen sich rückwärts. Der Sand fliegt ihnen von der Burg in die Hände, von wo sie ihn in den Sandhaufen drücken. Während die anderen, wie das jeder kennt, ganz gewöhnlich an der Burg aus Sand bauen und herum modellieren. Ich betrete meinen alten Hof. Meine Augen können nichts mehr erkennen, es ist schwarz, aber jetzt zündet meine Großmutter eine Kerze an. Sie steht an der Haustür. Es ist das erste mal seit Langem, dass ich Licht sehe. Sie sagt ich soll herein kommen, denn es ist ja auch schon spät und als ich im Flur stehe, ist meine Großmutter verschwunden. Ich höre meinen Chef fluchen darüber, dass wir zu wenige Aufträge bekommen und ich will die Treppe ins erste Stockwerk hinauf gehen. Sie ist aber so steil, dass ich krabbeln muss. Auch früher, - erinnere ich mich jetzt - als ich noch nicht einmal gehen konnte, bin ich schon so hier hoch gekrabelt und mehr als nur einmal wieder herunter gefallen. Ich will Sophie sehen und werde mir wieder bewusst zu träumen, ich konzentriere mich auf die Umgebung. In der Küche sitzt mein bester Freund und ein paar seiner Bekannten, die ich nicht kenne. Ich höre sie nicht sprechen obwohl sie ihre Münder bewegen. Der Einzige, den ich höre, ist mein Freund. Er trinkt und hält mir ebenfalls ein Glas hin. Ich trinke und rauche und lache mit ihm und jetzt, da ich mich daran zu erinnern glaube, dass er schon tot ist, sage ich es ihm und plötzlich verzerrt sich sein lachendes Gesicht kurz zur Fratze, dann zum Gesicht seines Vaters und wieder zu dem seinen. Er packt mich an der Schulter und sagt mir, dass Sophie mich braucht und das ich nun nicht vergessen darf zu ihr zu kommen. Er sagt ich soll hoch auf den Dachboden und dann müsste ich mich entscheiden. er sagt "Angst isst in deinem Fall die Liebe". Ich denke, wie früher so oft, dass seine Meinung nicht allzu wichtig ist, klopfe ihm aber auf die Schulter und gehe zur Treppe zum zweiten Stockwerk. Oben angelangt, öffne ich die kleine Dachbodentür. Sonnenstrahlen blenden mich durch die dünnen Rillen zwischen den Holzbrettern und der Staub glänzt im Strahl des Lichts. Er flackert irgendwie schon, finde ich. Meine Lehrerin aus der Grundschule sitzt nun im Schneidersitz zwischen vielen, teils gestapelten Kisten, in der Mitte des alten, einfarbig gräulich wirkenden Dachbodens. Neben ihr sitzt ein Hundekörper mit dem Kopf meiner allerersten festen Freundin. Sie, der Hund, hechelt und ob die Augen und die Zunge nun eigentlich die meiner alten Freundin, oder die eines Hundes sind, erkenne ich nicht, kann ich nicht unterscheiden, aber sie macht mir Angst. Meine Grundschullehrerin fragt mich nun, warum ich noch immer hier bin und ob ich nicht wüsste, dass meine Frau, schlimmstens betroffen von meinem, also ihrem Schicksal dort oben dem Ende, dem Tod entgegen ginge. Ich antworte, dass ich es weiss, aber dass ich keinen Ausweg finden kann und dass sie mir fehlt und als ich um Hilfe bitte, reicht mir dieser gesichtslose, hagere Mann, der noch immer im Schneidersitz neben dem Hund mit dem Kopf meiner alten Freundin sitzt, die Hand. Ich frage mich ob er nicht eben noch jemand anderes gewesen war, denn dieses Gefühl hat man hier unten oft und daraufhin frage ich mich ob ich selbst vielleicht jemand anderes bin, geworden bin , mit der Zeit, im Leben, im Traum und als die Lichtstrahlen, die durch die Rillen zwischen den Holzbrettern scheinen, erst heller werden und langsam sämtliche Umrisse der Kisten und Balken so stark erhellen , dass sie eins werden mit dem weißen Licht, frage ich mich, ob ich erwache, oder sterbe. Sophie?

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