Spitzenjournalismus – Teil 4
Sparte: Interview im Feuilleton
Thema: Dekadenz
Überschrift: "Offiziell immer der Gleiche"
Er hat kaum Geld. Er ist nicht berühmt. Außerhalb von Bergisch-Gladbach war er noch nie. Doch bald wird seine Lehre in aller Munde sein. Glaubt Uwe Liegerum, denn er hat im Internet eine neue Bewegung gestartet: DEKADENZ ONLINE. DER MOND hat den 43-jährigen Hobby-Argonauten besucht.
DER MOND: Herr Liegerum, was verbirgt sich hinter DEKADENZ ONLINE?
UWE Liegerum: Das soll eine Plattform sein. Für alle Leute, die wie ich gerne Kirschkuchen essen.
DER MOND: Kirschkuchen? Sie veräppeln uns…
Liegerum: Nein. Mit Sträuseln. Man kann sich dort aber auch über sein erstes selbstgemachtes Apfelkompott unterhalten. Über den Erziehungsstil schwedischer Hausmänner. Oder über die Qualität des ecuadorianischen Fernsehens. Unter einer Bedingung.
DER MOND: Die wäre?
Liegerum: Die Unterhaltung muss, so weit es irgend geht, folgenlos bleiben. Die Leute sollen sich durch unsere Plattform nicht weiterentwickeln. Möglichst alle Ansichten, die sie debattieren, sollen sie am Ende der Diskussion gleich wieder vergessen. Die Diskussionen sind sozusagen Mittel zum Zweck der reinen Unterhaltung.
DER MOND: Warum?
Liegerum: Weil unsere Gesellschaft in die Weiterentwicklungsfalle geraten ist. Sie hat diese Ideologie perfektioniert. Überall – ob in der Schule, in den Hörsälen, im Beruf oder beim Bowlingabend mit Freunden - schreit es jedem Einzelnen entgegen: „Schaffe Neues. Erweitere Deine Komfortzone. Sei rastlos in Deinem Streben.“
DER Mond: Was ist daran falsch?
Liegerum: Es ist nicht per se falsch. Es ist unnatürlich. Es verkennt, dass viele Menschen sich einfach gerne auch mal auf die faule Haut legen. Gerade intelligente Menschen, die mit 80 % ihres Könnens gut mitschwimmen können, tun das sehr gerne.
DER MOND: Ist das Argument von der Natürlichkeit nicht ein naturalistischer Fehlschluss auf recht eigenem Pfade? Nach George Edward Moore ist nichts nur aufgrund seiner natürlichen Eigenschaften ethisch gut. Implizieren Sie mit Unnatürlichkeit nicht Schlechtigkeit und mit Natürlichkeit Gutheit? Und spielen dann beides gegeneinander aus. Dann landen wir doch wieder bei den Begriffen wahr und falsch…
Liegerum: Möchten Sie Kirschkuchen?
DER MOND: Sie weichen aus!
Liegerum: Mit leckeren Sträuseln!
Der MOND: Na gut. Aber unsere Frage…
Liegerum: Schon gut, schon gut. Ich denke, dies kann ich auf drei Wegen beantworten. Dem Wege Schopenhauers, dem Wege Nietzsches oder dem Wege Kants. Sie haben also entweder schlicht keine Ahnung, weil sie kulturlose Kretins sind. Oder Sie sind für die Geschichte als kleine Journalisten-Wichte eh uninteressant. Oder ihre Prinzipien taugen sowieso nicht als Maxime einer allgemeinen Gesetzgebung. Somit dürfte sich ihre Frage erledigt haben.
DER MOND: Das ist doch ganz polemische Wortklauberei. Geben Sie doch einfach zu, dass Sie sich widersprochen haben.
Liegerum: Das kann ich nicht.
DER MOND: Wieso?
Liegerum: Dann würden sich meine Ansichten weiterentwickeln. Ich will aber auf dem Stand von vor diesem Gespräch bleiben.
DER MOND: Aber das ist doch, mit Verlaub, Schwachsinn. Durch jedes Gespräch entwickelt man sich weiter. Und wenn Sie sich nur im Verdrängen weiterentwickeln.
Liegerum: Das ist richtig. Aber die Bereiche, die ich vor einer Weiterentwicklung beschützen kann, schütze ich. Eine offizielle Anerkennung eines Widerspruchs kann daher nicht vonstatten gehen. Offiziell bleibe ich immer der Gleiche.
DER MOND: Und diese Lehre soll um die Welt gehen? Wie wollen Sie mit so einer Bauernfängerei Anhänger gewinnen?
Liegerum: Sie stellen die Fragen falsch. Diese Lehre wird gerade wegen ihrer Einfachheit um die Welt gehen und Anhänger gewinnen. In der vielschichtigen Komplexität unserer Welt scheitern viele Anbieter von ,Sinn` an der viel zu komplizierten Aufgabenstellung für die Interessierten. In den Religionen muss ,ein Weg´ beschritten werden. Im Sport muss trainiert werden. In der Politik schafft man sich ein Netzwerk. Hier muss man gar nichts tun. Nur immer der Gleiche bleiben.
DER MOND: Aber damit belügen sich die Menschen schlicht selber!
Liegerum: Und das tun die Menschen, wenn Sie nach Ruhm, Macht, Ehre und Sex streben nicht?
DER MOND: Da ist aber jetzt sehr platt.
Liegerum: Stimmt. Ist es deshalb falsch?
DER MOND: Es ist undifferenziert.
Liegerum: Stimmt. Cappuccino?
DER MOND: Wir sind für ein Interview da! Wenn Sie nicht weiterwissen, kommen Sie immer mit…haben Sie auch Pralinen dazu?
Liegerum: Ja. Aus Belgien.
DER MOND: Her damit.
(Journalisten kauen. Liegerum macht Ihnen den Cappuccino. Bald schlürfen sie selig)
DER MOND: Klasse. Zurück zu unserem Gespräch.
Liegerum: Bitte.
DER MOND: Was wollen Sie machen, wenn Sie genug gesellschaftlichen Einfluss erlangt haben?
Liegerum: Ich hab‘ ja erst drei User auf der Plattform.
DER MOND: Drei User? Wie lange gibt es die Plattform denn schon?
Liegerum: Zwölf Jahre.
DER MOND: Zwölf Jahre? Und wieso sind wir dann für so ein verschissenes Interview hergekommen? Wo kein Schwein sich dafür interessiert? Sie haben in ihrer E-Mail was von 30.000 Leuten geschrieben.
Liegerum: Eigentlich habe ich nur Nullen hinzugefügt. Nullen bedeuten doch nix, nicht wahr? Und in Zeiten knapper Kassen dachte ich, Sie überprüfen das nicht so genau….
(Journalisten erheben sich bedrohlich. Sie machen Anstalten, nach ihm zu greifen)
Liegerum (piepst verängstigt): Kekse?
(Journalisten strahlen)
DER MOND: Oh ja.
(Liegerum holt eine riesige Dose Schokokekse)
Liegerum: Was machen wir jetzt?
DER MOND: Kekse essen.
Liegerum: Nein. Ich meine mit dem Interview.
DER MOND: Wir packen es ins Feuilleton. Es soll sinnbildlich stehen für die anarchische mediale Struktur, die – eingezwängt in logistische Funktionslogik – noch Kunst aus der Improvisation heraus zu schaffen versteht.
Liegerum: Wie meinen?
DER MOND: Herr Liegerum, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
SJ (Teil 4) - Offiziell immer der Gleiche
Re: SJ (Teil 4) - Offiziell immer der Gleiche
Hallo Ham,
die vierte Ausgabe deines Spitzenjournalismus ist bisher auch die Beste, meines Erachtens. Hat Spass gemacht, das zu lesen!
Die einzige Stelle, die mir nicht so gut gefällt, ist:
Das ist zu vulgär, zu "unjournalistisch"...
Spontan musste ich übrigens mal wieder an...
... denken.
MfG,
[) i r k
die vierte Ausgabe deines Spitzenjournalismus ist bisher auch die Beste, meines Erachtens. Hat Spass gemacht, das zu lesen!
Die einzige Stelle, die mir nicht so gut gefällt, ist:
DER MOND: Zwölf Jahre? Und wieso sind wir dann für so ein verschissenes Interview hergekommen? Wo kein Schwein sich dafür interessiert?
Das ist zu vulgär, zu "unjournalistisch"...
Spontan musste ich übrigens mal wieder an...
Tocotronic hat geschrieben:Ich hab' mich nicht verändert, was du sagst ist nicht wahr
Ich bin derselbe noch wie im letzten Jahr
Ich hab' mich nicht verändert, was du sagst ist nicht wahr
Auch wenn ich hin und wieder jetzt mal Fahrrad fahr
Ich werd' ich mich nie verändern, ich werd' immer derselbe sein
Ich werd mich nie verändern, vielleicht werd' ich's mal bereu'n
doch jetzt noch nicht
... denken.
MfG,
[) i r k
"du trittst da fast in die fußstapfen des unseligen dr goebbels und seiner zensur und verdammungsmaschine." (Ralfchen)
Re: SJ (Teil 4) - Offiziell immer der Gleiche
Hey Dirk,
danke. Das freut mich. Wenn es Dir Spass gemacht hat, hat der Text seinen Hauptzweck erfüllt. Die Kritik bei dem einen Punkt stimmt. Das ist wirklich zu vulgär. Und das Lied ist natürlich Zucker. Ach, was sag ich, Zucker. Marzipan mit Himbergelee! Himbergelee...mijamm...
Liebe Grüße,
Mirko
danke. Das freut mich. Wenn es Dir Spass gemacht hat, hat der Text seinen Hauptzweck erfüllt. Die Kritik bei dem einen Punkt stimmt. Das ist wirklich zu vulgär. Und das Lied ist natürlich Zucker. Ach, was sag ich, Zucker. Marzipan mit Himbergelee! Himbergelee...mijamm...
Liebe Grüße,
Mirko
Wer ist online?
Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 9 Gäste