Implosion

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Hugo Homunkulus
Minotauros
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Implosion

Beitragvon Hugo Homunkulus » 02.04.2009, 01:45

Implosion

Es war einmal ein Mädchen, das den Hauptschulabschluss nur knapp geschafft hatte. Sie lebte in einer kleinen Wohnung am Rande der Stadt. Ein Zimmer mit Bad, ein Balkon, der knapp einen Quadratmeter maß und mit Blick auf eine S-Bahn-Trasse und die Graffitis auf den Lärmschutzwänden.

Sie arbeitete seit zwei Wochen in der Kühlung eines Großhandels und kommissionierte Bestellungen für die Einzelhändler. Milch. Joghurt. Käse. Morgens um Sechs stieg sie in die S-Bahn und fuhr bis zum anderen Ende der Stadt, zog sich in der Umkleide die Thermojacke und die gefütterte Hose an, stempelte die Zeitkarte ab – und begann ihre Schicht.

Jenseits vom Tag, jenseits vom Sommer, tauchte sie hinter den Gummilammelen fünfmal pro Woche in die aberwirkliche Welt von Kälte und Neonröhren hinab. In der Kühlung roch es immer etwas ranzig und säuerlich nach Buttermilch und Schimmelkäse. Die Räder der Rollpaletten rasten über den Betonboden. Sie schienen mit jeder Stunde lauter zu werden. Wie betäubt davon, hatte sie nach Feierabend das scharrende Geräusch noch immer im Kopf, überlagert vom Rauschen der S-Bahn auf dem Weg nach Haus.

„Geht das auch ein bisschen schneller?“ Das war ihr Abteilungsleiter. Ein kleiner Mann mit Schnurrbart, der sie durch seine randlose Brille immer etwas väterlich anschaute. Er saß den ganzen Tag in seinem Glaskasten, zu dem man über eine Stahlleiter hinaufsteigen musste, und telefonierte. Am späten Nachmittag steckte er dann seine Nase hinaus und sagte: „Ich möchte doch einmal erleben, dass ich pünktlich Feierabend machen kann, nur einmal.“

Dann kam er die Treppe hinunter und schaute sich an, wie viele Bestellungen jeder einzelne bereits kommissioniert hatte.

„Johanna“, sagte er zu ihr, „ich sehe für Sie schwarz, wenn Sie sich nicht ein bisschen mehr anstrengen. Sehen Sie, ich mag Sie ja gut leiden, aber sie sind jetzt schon zwei Wochen hier und schaffen immer noch keine vierzig Bestellungen am Tag. Das geht einfach nicht. Vierzig ist das absolute Minimum.“

Sie nickte stumm und schaute auf ihre Füße.

„Verstehen Sie das?“

„Ja“, sagte sie fast tonlos.

Ihre Hände waren ganz klamm und sie eilte mit der nächsten Rollpalette in die Kühlung.

„Du, ich muss da mal durch“, sagte einer der Lehrlinge zu ihr, als sie gerade dabei war zwei Gauda-Rollen auf den Wagen zu laden, wovon jede 10 Kilo wog. Er stand mit einer Europallette voller Milch hinter ihr. Sie wusste nicht, wie er hieß, aber in jeder Pause hörte sie ihn von der Corvette reden, die er sich bald kaufen wollte. Es schien sich für nichts anderes zu interessieren. Sie hörte ihm manchmal still zu und sah die glühende Begeisterung in seinen Augen, wenn er davon sprach, aber sie traute sich nicht zu fragen, was eine Corvette überhaupt ist.

„Los doch“, sagte er und schob die Euro-Palette ganz dicht an sie heran.

Sie wusste nicht, warum ihr die Tage so lang vorkamen. Wenn keiner in der Nähe war, dann sang sie manchmal leise eines der Lieder, die sie so mochte. Es waren einfache Lieder, in den es um Liebe ging, um Sehnsucht, um Schmerz. Die Akustik in den Kühlräumen war angenehm... und, wenn sie singen konnte, fühlte sie sich gleich besser.

Plötzlich war Rafael neben ihr: „Na, schöne Frau, heute Abend schon was vor?“ Er war Mitte Dreißig und lebte seit zwei Monaten getrennt von seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern. „Ich hab mir letzte Woche einen neuen Plasmafernseher zugelegt, ich sag dir, ein Hammerding ist das. Wenn du willst, kannst du nachher mit zu mir kommen und wir schauen uns zusammen was an. Ich hab da ein interessantes Filmchen ausgeliehen. Na, was ist?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ein bisschen schüchtern, oder was?“, sagte er und lachte. Er sah müde aus und hatte sich seit vier Tagen nicht rasiert.

Sie wich ihm aus und versuchte sich wieder auf die Bestellung zu konzentrieren. Er war noch irgendwo hinter ihr und sie spürte seinen Blick.

„Schau dir das an“, sagte Jutta und ihrer Stimme lag etwas Schrilles und Unangenehmes. „Hundertmal hab ich dir das schon erklärt: Die schweren Sachen nach unten, die leichten Sachen nach oben. So schwer kann das doch nicht sein.“ Jutta war schon vier Jahre hier und Jutta schaffte 60 Bestellungen am Tag. Sie stand vor einem vollen Wagen, wo aus einer zerdrückten Palette langsam der Bio-Joghurt sickerte. „Wie oft soll ich dir das noch erklären? Das ist doch nun wirklich nicht so schwer zu verstehen. Jetzt steh hier nicht rum und hol einen Aufwischlappen!“

Johanna bewegte sich nicht.

„Was ist los, hast du mich nicht verstanden? Du sollst was zum Aufwischen holen.“

Johanna stöhnte.

Die andere schaute sie mit einem merkwürdigen Blick an.

Der Körper von Johanna schien nachzugeben. Ihr Gesicht wurde kreidebleich. Ihre Wangen fielen ein und dann implodierte sie. Es gab ein schnalzendes Geräusch und dann einen Knall. Die Rollwagen krachten scheppernd gegen die Wände und als der Abteilungsleiter angelaufen kam, tropften Milch und Blut von der Decke.
Mit seltsamen Gebärden
Gibt man sich viele Pein,
Kein Mensch will etwas werden,
Ein Jeder will schon was sein.

(Johann Wolfgang von Goethe)

Glaukos
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Re: Implosion

Beitragvon Glaukos » 02.04.2009, 02:09

schon ein schräger schluss, wenn ich ehrlich bin. ich hatte den titel ganz vergessen ... und ich muss sagen, die story hat mich sofort mitgenommen, obwohl das nicht gerade meine aktuelle lebenswelt ist ...

aber insgesamt: eine gute geschichte, finde ich.


eine bemerkung allerdings zur realität in supermärken: ich habe selbst als jugendlicher dort mein taschengeld aufgebessert - der stress von oben war auszuhalten, eher ich selbst habe die arbeit wie leistungssport betrieben damals ;-)
und heute herrschen gewiss in einkaufsmärkten rauhere sitten, aber wenn ich an meinen lidl-supermarkt ums eck denke, dann fällt mir auf, dass die angestellten enorm engagiert arbeiten, auch fast sportiv arbeiten - aber untereinander haben sie ein super kollegiales verhältnis ...

das soll deine geschichte nun aber auf keinen fall relativieren. sie hat ihre eigene poetische realität ...

achja, und die corvette's - klasse karren, aber sind die schon finanzierbar für die unterschicht? oder hab ich da was falsch verstanden, und derjenige träumt sich das nur?

lg
tolya


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