[) i r k s L e s e t a g e b u c h
Verfasst: 11.10.2004, 00:34
Die Pest von Albert Camus
Mein Lesetagebuch
Wie bereits angekündigt, werde ich zu diesem Roman also ein Lesetagebuch führen. Hier aber schon mal der Hinweis – ich habe das Buch bereits gelesen. Das heißt, es ist nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich, dass ich an bestimmten Stellen vorgreifen werde, an Hypothesen mangelt es mir nicht. Wer also "Die Pest" unvoreingenommen lesen möchte, dem sei davon abzuraten, meine die Lektüre begleitenden Aufzeichnungen mitzuverfolgen, ehe er das Buch selbst beendet hat.
1. Etwas, was wirklich existiert
Ohne weitere Unschweife, beginne ich mit dem Titel des Buches: Die Pest. Was fällt mir spontan dazu ein? Wäre es der Titel eines Films, so würde ich wohl einen reißerischen Historienfilm dahinter vermuten oder etwas in Richtung "Der Name der Rose". Die Amerikaner und überhaupt die Angelsachsen neigen ja dazu das Mittelalter zu verklären und zu verkitschen, habe ich den Eindruck. Aber ich verstehe natürlich auch die Faszination, die dieses dunkle Kapitel der europäische Geschichte auf die Gegenwart ausübt. Aber ich komme von Thema ab: also, denke ich an die Pest, so denke ich als erstes ans Mittelalter. Ich sehe enge und schmutzige Städte vor mir, die zwar dem Menschen, die darin lebten, einen gewissen Schutz bieten sollten, aber dennoch jederzeit verheerenden Katastrophen wie dem Feuer oder einer Seuche ausgesetzt waren. Keine Kanalisation, schlechte Hygiene, Mensch und Tier leben auf engstem Raum, Aberglaube. Die Krankheitsüberträger der Pest sind und waren wohl primär Ratten und Flöhe, was die Menschen jener Epoche nicht wussten. So wurde die Seuche nicht selten unliebsamen Minderheiten in die Schuhe gesteckt, z.B. den Juden oder den Muselmännern. Aber zumindest letztere hatten von Hygiene und Medizin zu dieser Zeit mehr Ahnung als alle europäischen Quacksalber zusammen. Nun, wenn man den Namen "Pest" hört, dann assoziiert man auch unweigerlich damit den Tod – den Tod vieler Menschen. Der schwarze Tod wurde die Pest genannt. (Aber warum "schwarzer" Tod?) Fieber. Pestbeulen. Ich habe das gespenstische Bild von Ärzten mit Schnäbelmasken vor mir. In diesen Schnäbeln waren Schwämme mit – ich glaube – Essigessenzen, die den Arzt vor Ansteckung schützen sollten. Ich sehe auch Leichenkarren und Scheiterhaufen, auf denen die Pesttoten verbrannt wurden. Als Kind habe ich mich immer gefragt, wer so verrückt gewesen ist, diese Arbeit zu übernehmen und die Toten aus ihren Häusern und auf die Karren zu verfrachten? Das kam doch einem Todesurteil gleich. Wie dem auch sei, von einem Buch mit diesem Titel erwarte ich vor allem eins. Dass es sich – auf welche Art auch immer – mit dem Sterben und dem Tod auseinandersetzt.
Dieses Zitat ist dem Buch vorangestellt. Was ist daraus abzuleiten? Zum einen wird hier bereits ein zentrales Motiv des Buches angeschnitten, ein Motiv, das "Die Pest" mit "Robinson Crusoe" gemeinsam haben mag: Gefangenschaft und Isolation. Man wird später darauf sicherlich zu sprechen kommen. Zum anderen wird hier – ganz ohne Zweifel – der Gleichnischarakter des Buches hervorgehoben. Was immer in diesem Buch geschildert wird, repräsentiert etwas ganz anderes. Es geht hier nicht bloß um eine kleine Hafenstadt an der algerischen Küste, die von einer heimtückischen Seuche heimgesucht wird. "Wie irgend etwas, was wirklich existiert, durch etwas, was nicht existiert." Das heißt: es gab keinen Ausbruch der Pest in Oran, wie er in diesem Buch geschildert wird. Das ist nichts als die Erfindung des Dichters, die aber ein anderes, ein reales Ereignis darstellen und reflektieren soll. Durch den zeitlichen Kontext des Werkes ist nicht schwer zu erraten, um welche historischen Ereignisse es sich dabei handelt. Der erste Satz spricht Bände:
Nun gut. Es braucht nicht viel, um darauf zu kommen: Im zweiten Quartal des Jahres 1940 besetzen deutsche Truppen eine großen Teil Frankreichs und Paris. Im Osten das nationalsozialistische Deutschland, im Südosten der faschistische Helfershelfer, Italien, im Westen das Spanien Francos', und im Norden und Süden das Meer. Frankreich ist bis 1944, bis zur Landung der Alliierten in der Normandie, von seinen Verbündeten abgeschnitten, besetzt, gespalten und isoliert. Das ist das Szenario, das als Ausgang für "Die Pest" gedient haben mag. Aber man sollte nicht den Fehler machen, das Werk auf diese seine historischen Wurzeln zu reduzieren (Pest = Nationalsozialismus) und damit den größeren Bedeutungszusammenhang des Gleichnisses und die Allgemeingültigkeit für vergleichbare Situationen der Gefangenschaft und der Herrschaft der Willkür zu verleugnen.
Merkwürdiger Satz. Es klingt für mich, als sollte hier – durch die Blume – noch einmal der Gleichnischarakter des Werkes betont werden. Ja, die berichteten Ereignisse fallen aus dem Rahmen des Gewöhnlichen, stellen ein singuläres Geschehen dar, und ja, sie gehören nicht dort hin, nicht nach Oran, sondern referieren auf einen größeren historischen Kontext, der in Wahrheit noch schrecklicher ist als die Seuche, die ihn versinnbildlichen soll. Und darin mag man schließlich auch den ersten und vielleicht entscheidenden Nachteil des Gleichnisses entdecken: denn in Wirklichkeit war es eben keine Epidemie, keine Katastrophe, deren Ursache die Natur selbst ist, die Abermillionen Menschen das Leben gekostet hat. Sondern es waren Menschen, die mit Vorsatz und planvoll handelten. So mag das Gleichnis das ganze Ausmaß der Geschehnisse verkleinern, während es – und das ist wiederum sein Vorzug – die Auswirkungen der Ereignisse auf das alltäglichen Leben, die einzelnen Menschen und ihre Beziehungen untereinander vergrößert und näher ausleuchtet.
So far.
Quellenverzeichnis
Ich zitiere, je nach dem welche Stelle mir persönlich besser gefällt, aus den zwei mir vorliegenden Ausgaben:
(1) Albert Camus: Die Pest. Aus dem Französischen von Guido G. Meister. Bald Salzig und Boppard am Rhein: Karl Rauch Verlag 1949
(2) Albert Camus: Die Pest. Deutsch von Uli Aumüller. 71. Auflage, Februar 2004. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1998
Mein Lesetagebuch
Wie bereits angekündigt, werde ich zu diesem Roman also ein Lesetagebuch führen. Hier aber schon mal der Hinweis – ich habe das Buch bereits gelesen. Das heißt, es ist nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich, dass ich an bestimmten Stellen vorgreifen werde, an Hypothesen mangelt es mir nicht. Wer also "Die Pest" unvoreingenommen lesen möchte, dem sei davon abzuraten, meine die Lektüre begleitenden Aufzeichnungen mitzuverfolgen, ehe er das Buch selbst beendet hat.
1. Etwas, was wirklich existiert
Ohne weitere Unschweife, beginne ich mit dem Titel des Buches: Die Pest. Was fällt mir spontan dazu ein? Wäre es der Titel eines Films, so würde ich wohl einen reißerischen Historienfilm dahinter vermuten oder etwas in Richtung "Der Name der Rose". Die Amerikaner und überhaupt die Angelsachsen neigen ja dazu das Mittelalter zu verklären und zu verkitschen, habe ich den Eindruck. Aber ich verstehe natürlich auch die Faszination, die dieses dunkle Kapitel der europäische Geschichte auf die Gegenwart ausübt. Aber ich komme von Thema ab: also, denke ich an die Pest, so denke ich als erstes ans Mittelalter. Ich sehe enge und schmutzige Städte vor mir, die zwar dem Menschen, die darin lebten, einen gewissen Schutz bieten sollten, aber dennoch jederzeit verheerenden Katastrophen wie dem Feuer oder einer Seuche ausgesetzt waren. Keine Kanalisation, schlechte Hygiene, Mensch und Tier leben auf engstem Raum, Aberglaube. Die Krankheitsüberträger der Pest sind und waren wohl primär Ratten und Flöhe, was die Menschen jener Epoche nicht wussten. So wurde die Seuche nicht selten unliebsamen Minderheiten in die Schuhe gesteckt, z.B. den Juden oder den Muselmännern. Aber zumindest letztere hatten von Hygiene und Medizin zu dieser Zeit mehr Ahnung als alle europäischen Quacksalber zusammen. Nun, wenn man den Namen "Pest" hört, dann assoziiert man auch unweigerlich damit den Tod – den Tod vieler Menschen. Der schwarze Tod wurde die Pest genannt. (Aber warum "schwarzer" Tod?) Fieber. Pestbeulen. Ich habe das gespenstische Bild von Ärzten mit Schnäbelmasken vor mir. In diesen Schnäbeln waren Schwämme mit – ich glaube – Essigessenzen, die den Arzt vor Ansteckung schützen sollten. Ich sehe auch Leichenkarren und Scheiterhaufen, auf denen die Pesttoten verbrannt wurden. Als Kind habe ich mich immer gefragt, wer so verrückt gewesen ist, diese Arbeit zu übernehmen und die Toten aus ihren Häusern und auf die Karren zu verfrachten? Das kam doch einem Todesurteil gleich. Wie dem auch sei, von einem Buch mit diesem Titel erwarte ich vor allem eins. Dass es sich – auf welche Art auch immer – mit dem Sterben und dem Tod auseinandersetzt.
Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas, was wirklich existiert, durch etwas, was nicht existiert.
Daniel Defoe (2, S.5)
Dieses Zitat ist dem Buch vorangestellt. Was ist daraus abzuleiten? Zum einen wird hier bereits ein zentrales Motiv des Buches angeschnitten, ein Motiv, das "Die Pest" mit "Robinson Crusoe" gemeinsam haben mag: Gefangenschaft und Isolation. Man wird später darauf sicherlich zu sprechen kommen. Zum anderen wird hier – ganz ohne Zweifel – der Gleichnischarakter des Buches hervorgehoben. Was immer in diesem Buch geschildert wird, repräsentiert etwas ganz anderes. Es geht hier nicht bloß um eine kleine Hafenstadt an der algerischen Küste, die von einer heimtückischen Seuche heimgesucht wird. "Wie irgend etwas, was wirklich existiert, durch etwas, was nicht existiert." Das heißt: es gab keinen Ausbruch der Pest in Oran, wie er in diesem Buch geschildert wird. Das ist nichts als die Erfindung des Dichters, die aber ein anderes, ein reales Ereignis darstellen und reflektieren soll. Durch den zeitlichen Kontext des Werkes ist nicht schwer zu erraten, um welche historischen Ereignisse es sich dabei handelt. Der erste Satz spricht Bände:
Die seltsamen Ereignisse, die Gegenstand dieser Chronik sind, haben sich 194’ in Oran zugetragen. (2, S.7)
Nun gut. Es braucht nicht viel, um darauf zu kommen: Im zweiten Quartal des Jahres 1940 besetzen deutsche Truppen eine großen Teil Frankreichs und Paris. Im Osten das nationalsozialistische Deutschland, im Südosten der faschistische Helfershelfer, Italien, im Westen das Spanien Francos', und im Norden und Süden das Meer. Frankreich ist bis 1944, bis zur Landung der Alliierten in der Normandie, von seinen Verbündeten abgeschnitten, besetzt, gespalten und isoliert. Das ist das Szenario, das als Ausgang für "Die Pest" gedient haben mag. Aber man sollte nicht den Fehler machen, das Werk auf diese seine historischen Wurzeln zu reduzieren (Pest = Nationalsozialismus) und damit den größeren Bedeutungszusammenhang des Gleichnisses und die Allgemeingültigkeit für vergleichbare Situationen der Gefangenschaft und der Herrschaft der Willkür zu verleugnen.
Nach allgemeiner Ansicht paßten sie nicht dort hin, da sie etwas aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fielen. (2, S.7)
Merkwürdiger Satz. Es klingt für mich, als sollte hier – durch die Blume – noch einmal der Gleichnischarakter des Werkes betont werden. Ja, die berichteten Ereignisse fallen aus dem Rahmen des Gewöhnlichen, stellen ein singuläres Geschehen dar, und ja, sie gehören nicht dort hin, nicht nach Oran, sondern referieren auf einen größeren historischen Kontext, der in Wahrheit noch schrecklicher ist als die Seuche, die ihn versinnbildlichen soll. Und darin mag man schließlich auch den ersten und vielleicht entscheidenden Nachteil des Gleichnisses entdecken: denn in Wirklichkeit war es eben keine Epidemie, keine Katastrophe, deren Ursache die Natur selbst ist, die Abermillionen Menschen das Leben gekostet hat. Sondern es waren Menschen, die mit Vorsatz und planvoll handelten. So mag das Gleichnis das ganze Ausmaß der Geschehnisse verkleinern, während es – und das ist wiederum sein Vorzug – die Auswirkungen der Ereignisse auf das alltäglichen Leben, die einzelnen Menschen und ihre Beziehungen untereinander vergrößert und näher ausleuchtet.
So far.
Quellenverzeichnis
Ich zitiere, je nach dem welche Stelle mir persönlich besser gefällt, aus den zwei mir vorliegenden Ausgaben:
(1) Albert Camus: Die Pest. Aus dem Französischen von Guido G. Meister. Bald Salzig und Boppard am Rhein: Karl Rauch Verlag 1949
(2) Albert Camus: Die Pest. Deutsch von Uli Aumüller. 71. Auflage, Februar 2004. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1998